25 Jahre Baskische Linke
In nur knapp 25 Jahren hat die baskische Unabhängigkeits-Linke eine bemerkenswerte Entwicklung vollbracht. Im Jahr 2002 wurde sie für illegal erklärt, es folgten viele Jahre Gefängnis für die Funktionsträger aus dem Partei-Vorstand. Nach Jahren des Wiederaufbaus wurde die Wahl zum staatlichen Parlament zu einem vorläufigen Höhepunkt: Die Koalition EH Bildu fuhr mit 335.170 Stimmen ein Rekordergebnis ein. Bezahlt wurde dieser Erfolg unter anderem mit einer tiefgehenden Spaltung in der Bewegung.
Euskal Herria Bildu (Euskal Herria Zusammenbringen) ist die neue politische Marke der baskischen Unabhängigkeits-Bewegung. Nach Erfolgen bei verschiedenen baskischen Regional- und Kommunal-Wahlen wurden ausgerechnet die spanischen Parlamentswahlen zum größten Erfolg der Koalition.
Noch vor acht Jahren saß der derzeitige General-Koordinator von EH Bildu, Arnaldo Otegi, noch im Gefängnis. Nach einem politischen Prozess, der später vom Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte für nichtig erklärt wurde. Ihm und fünf anderen war vorgeworfen worden, die illegalisierte Partei Batasuna neu aufbauen zu wollen und mit ETA zu verhandeln. Nach den Parlaments-Wahlen vom 23. Juli 2023 wurde nach Auszählung der Stimmen aus dem Ausland bestätigt, dass die Koalition EH Bildu mit 335.170 Stimmen den Rekord an Stimmen für die Unabhängigkeits-Befürworter gebrochen hat. (1)
Wahlerfolge
Für die Unabhängigkeits-Linke ein beachtlicher Erfolg, der gleichzeitig einen Rückblick nahelegt. Denn stark 20 Jahre zuvor war die Vorgänger-Partei Batasuna (bask: Einheit) an ihrem Tiefpunkt angelangt. Mit dem Totschlags-Argument “Alles ist ETA“ war die Partei mit verschiedenen Neben-Organisationen für illegal erklärt worden. Die Parteilokale wurden geschlossen, die Konten gesperrt, das Vermögen beschlagnahmt. Nach und nach wurden die Verantwortlichen aus dem 32-köpfigen Vorstand eingesperrt und später zu Haftstrafen verurteilt. Die spanische Rechte, allen voran der Polit-Richter Garzon, triumphierte und ging davon aus, dass sie der baskischen Linken den Todesstoß versetzt hatte. Doch nichts entsprach weniger der Realität.
Die linke Unabhängigkeits-Bewegung hatte zwar zehn Jahre lang keine institutionelle Vertretung mehr, doch das tat der Mobilisierungsfähigkeit auf der Straße keinen Abbruch. Auch nicht Dutzende oder Hunderte von verbotenen Demonstrationen. Denn wenn die eine verboten wurde, wurde die nächste ausgerufen, wenn nötig an anderem Ort und anderem Slogan. Die Bewegung war nicht totzukriegen. Nach jeder Verhaftung fanden sich neue Sprecherinnen oder Sprecher, die in den Medien Rede und Antwort standen.
So muss bei der Analyse des Wahlergebnisses von EH Bildu am 23. Juli von Euskal Herria Bildu berücksichtigt werden, dass ein nicht geringer Teil der präsentierten Kandidatinnen und Kandidaten der linken Koalition vor Jahren noch für illegal erklärt war und sich nicht zu Wahlen aufstellen lassen konnte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, dass dann von der spanischen Justiz die gesamte Wahlliste in den Papierkorb geworfen würde.
Analysen
Seither sind die Medien voll von Analysen über die Gründe für den nicht erwarteten Wahlerfolg von EH Bildu. Soziolog*innen und Politik-Wissenschaftler*innen äußern sich über die Fähigkeit dieser politischen Kraft, "die Realität zu verstehen", "sich an die neuen Generationen anzupassen", "sich auf ihre soziale Seite zu konzentrieren" und "die in den Institutionen geleistete Arbeit optimal zu nutzen". (1)
Aber nur wenige dieser Expert*innen erinnern sich daran, dass EH Bildu vor einem knappen Dutzend Jahren nur deshalb entstehen konnte, weil verschiedene politische Akteure wagemutig auf das Projekt gesetzt hatten. Nicht ohne Risiko, denn das Damoklesschwert der Illegalisierung drohte weiterhin, bis in den ersten Stunden der Kampagne für die Kommunal- und Regionalwahlen 2011 bekannt gegeben wurde, dass das Verfassungsgericht die Teilnahme der neuen Koalition an den Wahlen erlauben würde. Eine Geschichte, die in Europa höchstwahrscheinlich einmalig ist.
Bekanntlich ist die Stunde des Erfolgs nicht der beste Moment, über den Preis des Erreichten zu philosophieren. Denn ohne dunkle Flecken war das rote Abendkleid zur Feier nicht. Von linker Seite hatte es Aufrufe zur Nichtwahl gegeben, eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Aktivist*innen brauchte solche Aufrufe gar nicht erst, um den Wahlgang Stimmabgabe für EH Bildu zu verweigern. Denn mit der strategischen Richtungsänderung, die das Ende der Illegalisierung ebenso eingeleitet hatte wie das Ende von ETA, war ein Schritt in die Realpolitik verbunden, den eine lange Reihe von abertzalen Anhänger*innen nicht mitgemacht hatte (“abertzal“ ist Baskisch und bedeutet “patriotisch“, es ist der Eigenbegriff für die emanzipative baskische Linke, in Abgrenzung zum üblicherweise rechtslastigen Begriff “nationalistisch“). Es entstanden sogenannte “Dissidenten-Gruppen“, später wurde mit Gazte Kontseilu Sozialista (GKS) eine neue Jugendorganisation gegründet (bask: Sozialistischer Jugend-Rat). Sie alle kritisierten den neuen Kurs der alten Garde.
Illegalisiert, nicht verschwunden
Mit einem auf Batasuna zugeschnittenen “Parteien-Gesetz“ wurde die Partei der baskischen Linken im August 2002 zunächst ausgesetzt und dann von spanischen Gerichten direkt illegalisiert. Dutzende ihrer Führungsleute wurden inhaftiert, die Sitze wurden geschlossen, die Konten beschlagnahmt, um die Organisation wirtschaftlich bewegungsunfähig zu machen.
In der Folgezeit wurden zudem alle Gruppen und Initiativen verfolgt und verboten, die im Verdacht standen, das politische Projekt der abertzalen Linken in irgendeiner Form weiterzuführen. Verschiedene neue Wahl-Plattformen wurden daran gehindert, sich zu den Wahlen zu präsentieren. Es reichte ein simpler Polizeibericht, in dem festgestellt wurde, dass ein Mitglied einer Kandidaten-Liste an einer Demonstration zur Verteidigung der Rechte von Gefangenen teilgenommen hatte, selbst wenn diese legal angemeldet war, um die gesamte Kandidatur für ungültig und illegal zu erklären.
Die Folge war, dass zwischen 15 und 25% der Wahlbevölkerung ihrer politischen Option beraubt wurde und sich nur noch zwischen Nichtwählen und Ungültig entscheiden konnte. In Orten, in denen die baskische Linke üblicherweise die einzige politische Option war, kam es zu surrealistischen Konstellationen, wie zum Beispiel im gipuzkoanischen Lizarra, wo die postfranquistische PP mit vier Wahl-Stimmen die Bürgermeisterin stellen konnte und vier Jahre lang gegen das Volk regierte.
Auf diese Weise wurde gleichzeitig etwa 40.000 baskischen Bürgerinnen und Bürgern das passive Wahlrecht entzogen, nach spanischer Rechtsprechung wurden ihnen kollektiv das Recht entzogen, sich zur Wahl zu stellen, der Begriff “kontaminierte Personen“ machte jahrelang die Runde. Diese Tatsache ist von besonderer Bedeutung, um die Anstrengungen zu verstehen, die EH Bildu unternehmen musste, um die Kandidaturen für die Wahlen von 2011 aufzustellen, ohne “kontaminierte“ Personen.
Trotz alledem
Trotz dieser Verfolgung und Bestrafung verschwand die abertzale Linke nie von der politischen Landkarte. In Europa existieren sicher wenige politische Bewegungen oder Parteien, die ein Jahrzehnt der Repression und der Inhaftierung ihrer Führungsriege überlebt hätten. Doch selbst in dieser Situation hielten die ehemaligen Führungs-Persönlichkeiten der verbotenen Partei Batasuna den Dialog mit der PSOE-Regierung von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero weiterhin aufrecht und beschlossen gleichzeitig (im kleinen Kreis) einen Strategiewechsel, der den bewaffneten Aktivitäten der bewaffneten Organisation ETA endgültig ein Ende setzen sollte. Gleichzeitig wurden in der Illegalität die Beziehungen zu anderen politischen Sektoren verstärkt.
Eusko Alkartasunas riskanter Einsatz
Bis zu jener Zeit hatte die Partei Eusko Alkartasuna (Baskische Solidarität) eine beständige Koalition mit der PNV gebildet, auch mit gemeinsamen Wahllisten. Die Partei war selbst eine Abspaltung von der PNV aus den 1980er Jahren, verfolgte einen sozialdemokratischen Kurs und stand für eine baskische Unabhängigkeit. Vor verschiedenen vorausgegangenen Wahlen hatte sie jeweils damit gedroht, bei den Wahlen allein anzutreten. Aber am Ende blieb sie immer mit den Christdemokraten zusammen, was für sie nicht schlecht war, da es ihr eine institutionelle Präsenz garantierte, die deutlich über ihrer tatsächlichen sozialen und politischen Stärke lag.
Im Jahr 2009 wagte die EA schließlich den Schritt, sich von der PNV zu trennen und sank von sieben Sitzen im Regional-Parlament von Gasteiz auf nur noch einen. Anstatt jedoch in die Koalition mit der PNV zurückzukehren, ging sie auf Drängen von Parteiaktivisten wie Unai Ziarreta, Rafa Larreina, Sabin Intxaurraga und Pello Urizar den riskanteren Weg, mit der noch immer illegalen abertzalen Linken zusammen einen neuen politischen Anfang zu wagen. Am 20. Juni 2010 unterzeichneten EA und inoffizielle Vertreter der baskischen Linken im Euskalduna-Palast in Bilbao in einem feierlichen Akt ein Abkommen mit dem Titel "Lortu arte" (Bis es erreicht ist) und dem Untertitel "Grundlagen eines strategischen Abkommens zwischen den für die Unabhängigkeit eintretenden politischen Kräften".
Alternatiba und Euskal Herria Ezkerretik
Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Lortu Arte-Abkommens hatte sich die kritische Strömung der Ezker Batua Alternatiba Eraikitzen (Vereinigte Linke Aufbau der Alternative) bereits vom baskischen Ableger der spanischen Vereinigten Linken abgespalten (sie war auf dem besten Weg in die politische Bedeutungslosigkeit) und hatte sich zu einer Partei formiert. Im Januar 2011 unterzeichnete sie mit EA und der abertzalen Linken das Abkommen "Euskal Herria Ezkerretik" (Baskenland von Links).
Damit fehlte nur noch der wichtigste Baustein im Dreiergespann: die Formalisierung der abertzalen Linken. Die stand am 7. Februar 2011 im Euskalduna-Palast von Bilbao auf dem Programm. Ehemalige Batasuna-Politiker stellten bei einer Pressekonferenz die Statuten der neuen Parte vor sowie deren Name: Sortu (bask: Gründen). Zur Überraschung vieler – gerade auch innerhalb der baskischen Linken – sahen die Statute der neuen Partei die ausdrückliche Anerkennung des Parteiengesetzes vor, mit deren Hilfe Batasuna neun Jahre zuvor illegalisiert worden war – ein realpolitischer Schachzug, der von manchen als Einknicken oder Niederlage gewertet wurde. Nach einem Vabanque-Spiel vor spanischen Gerichten wurde die Partei schließlich als konform zum Parteiengesetz zugelassen.
Dies war die letzte Voraussetzung für die Gründung von EH Bildu als Koalition. Der Oberste Gerichtshof erklärte diese Kandidaturen zunächst für ungültig. Dies machte einerseits die engen rechtlichen Spielräume der sogenannten spanischen Demokratie deutlich, andererseits erschienen die Schritte von EA und Alternatiba durch die Ereignisse in neuem Licht, sie waren einen risikovollen Weg gegangen, wussten jedoch, worauf sie sich einließen. Das Verfassungsgericht hob die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (Supremo) auf, EH Bildu konnte sich zu den Wahlen präsentieren und erzielte hervorragende Ergebnisse. Unter anderem erhielt die Koalition im Provinzrat von Gipuzkoa die relative Mehrheit und konnte für vier Jahre auch das Bürgermeisteramt in Donostia übernehmen.
Erfolge mit Aralar
Schließlich schloss sich auch die abertzale Partei Aralar der Koalition an, eine Abspaltung von Batasuna aus dem Jahr 2001. Hintergrund dieser Trennung war das Thema Verhältnis zu politisch motivierter Gewalt gewesen, in dieser Frage war Aralar Batasuna um ein Jahrzehnt voraus. Aralar war während der Illegalisierung der abertzalen Linken zeitweise die einzige linke Kraft, die eindeutig auf Unabhängigkeit setzte. Sie konnte trotz der Existenz des Illegalisierungs-Vakuums nie die Wahlstimmen der abertzalen Linken anziehen, war aber dennoch im baskischen Parlament erfolgreich und stellte in einigen Orten sogar die Bürgermeister*innen. Mit dem definitiven Waffenstillstand von ETA war das trennende Hindernis der Gewaltfrage aus dem Weg geräumt.
Mit Aralar zusammen bildete EH Bildu (ausschließlich für die spanischen Parlamentswahlen im November 2011) die Koalition Amaiur und erzielte einen ersten Stimmen-Rekord. Diese Kandidatur erhielt 334.498 Stimmen und immerhin 7 Abgeordnete. So viele Stimmen hatten die Unabhängigkeits-Befürworter bei Wahlen zum spanischen Parlament nie zuvor erhalten – bis zum 23. Juli 2023, als EH Bildu die Unterstützung von 335.170 Wählerinnen und Wählern erhielt. Aralar sah im Dezember 2017 die Notwendigkeit ihrer Existenz als beendet an und löste sich zu Gunsten von EH Bildu auf.
Bemerkenswert ist ein erheblicher qualitativer Unterschied zwischen den Wahlen von 2011 und jenen von 2023. Denn vor 12 Jahren war die Bewegung Podemos als Partei (heute Sumar) noch nicht auf der politischen Bildfläche erschienen, in den Jahren 2015 und 2016 hingegen war sie bei den Wahlen in der Region Baskenland überaus erfolgreich und erhielt eine Menge Stimmen, auch aus dem Spektrum der abertzalen Linken.
Die jüngere Vergangenheit
Bei der Analyse der Tatsache, dass EH Bildu bei den Wahlen im Juli 2023 zur führenden Kraft des gesamten Süd-Baskenlandes geworden ist, müssen die verschiedenen Ereignisse der vergangenen 20 Jahre selbstverständlich berücksichtigt werden: Illegalisierung, Strategiewechsel, Ende von ETA, Neuformierung, Sammlung von Kräften, Wahlerfolge. Aber auch die Tatsache, dass sich verschiedene politische Strömungen der neuen Strategie verweigert haben und seither eigene Wege gehen, vor allem die baskische Jugend und das nicht ohne Zulauf.
Ein wichtiger Rückschluss aus den Ereignissen und Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre wiederholt sich in der Geschichte des Baskenlandes, vor allem aber in der Geschichte der Unabhängigkeits-Linken: das Wiederaufstehen nach vermeintlich schweren Niederlagen. In Euskal Herria existiert eine aktive politische, soziale und kulturelle Basis, die in der Lage ist, Repression und Rückschläge hinzunehmen und den Versuchen zu widerstehen, dass die Bewegung zerschlagen wird. Diese politische Stärke wurde nicht allein während und nach der Illegalisierung unter Beweis gestellt. Auch vorher, als 1998 das Presseorgan der abertzalen Linken, die Tageszeitung EGIN, von der spanischen Justiz geschlossen wurde und nur einen Tag später eine neue Interims-Zeitung erschien, die wenig später durch ein ganz neues Zeitungsprojekt (GARA) ersetzt wurde. Hintergrund der Zwangsschließung: der Vorwurf, mit ETA zusammenzuarbeiten, eine Anklage, die nie konkretisiert oder gar bewiesen werden konnte.
Ähnliches geschah fünf Jahre später, als eine weitere Zeitung geschlossen wurde, in diesem Fall die Tageszeitung Euskaldunon Egunkaria (bask: Tageszeitung der Baskisch-Sprachigen), die einen eher unabhängigen Kurs verfolgt hatte und die dennoch als ETA-gesteuert denunziert wurde. Auch sie fand mit BERRIA schnell eine Nachfolge, gestützt auf tausendfache finanzielle Unterstützung aus der linken abertzalen Bewegung. Nach 2002 zeigte dieselbe Bewegung ihre Fähigkeit, sich selbst ohne legale und öffentliche Führung am Leben zu erhalten, ohne formale Organisation, ohne Büros und finanzielle Mittel. Resultat war ein neues erfolgreiches politisches Projekt, das künftig auf Parlamentarismus und institutionelle Arbeit setzt.
ANMERKUNGEN:
(1) Zitate aus: ”De la ilegalidad y la cárcel al récord de 335.170 votos en unas generales” (Von der Illegalität, dem gefängnis zum Rekord von 335.170 Wahlstimmen bei Parlamentswahlen), Tageszeitung GARA, 2023-08-06 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Parteiverbot (naiz)
(2) Batasuna (elmundo)
(3) Arnaldo Otegi (ultimahora)
(4) EH Bildu 2023 (ser)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-08-08)