BL1

Strategisch gespalten

Jahrzehntelang prägte der militärische Konflikt zwischen ETA und dem spanischen Staat den Kampf der der baskischen Linken (abertzale Linke) für ein unabhängiges und sozialistisches Baskenland. Eine Veränderung ihrer politischen Strategie bedeutete vor etwas mehr als zehn Jahren die Abkehr vom bewaffneten Kampf, die schließlich 2018 zur endgültigen Auflösung von ETA führte. Auf diese Weise veränderte sich auch die politische Landkarte im Baskenland. Neue Organisationen betraten die politische Bühne.

Warum es die baskische Linke in ihrer alten Version nicht mehr gibt. Welche Strategien die verschiedenen Strömungen in der abertzalen Linken verfolgen. Und wieso man im Baskenland von keinem Friedensprozess sprechen kann. Eine Bestandsaufnahme. (Publikation der ungekürzten Fassung eines Junge-Welt-Artikels von August 2020).

Mehrere Verhandlungs- und Friedensinitiativen in den Jahren 1989, 1998/99 und 2006/2007 scheiterten immer wieder sowohl an der starren Haltung des spanischen Staates als auch an den “Hardlinern“ bei ETA. Ab 1997 verschärfte der Staat seine Repression unter der Ägide des international bekannten Untersuchungsrichters Baltasar Garzón nochmals um ein Vielfaches. Unter der Doktrin “Alles ist ETA“ wurden Zug um Zug fast alle Organisationen der baskischen Linken verboten, ihre Aktivist*innen für ihr politisches Engagement eingesperrt und ihre Infrastruktur weitgehend zerschlagen. An eine (institutionelle) politische Partizipation war nicht zu denken. In den 2000er Jahren befand sich die baskische Gesellschaft daher in einem permanenten Ausnahmezustand. (*)

In dieser Situation wurde von einem engen Kreis an Personen um den ehemaligen Sprecher der Partei BATASUNA, Arnaldo Otegi, eine neue einseitige Strategie zur Lösung des Konflikts im Baskenland entwickelt. Diese sah einerseits die Beendigung des bewaffneten Kampfes durch ETA und deren Auflösung vor. Andererseits sollte die Fortsetzung des politischen Kampfes von nun an innerhalb legalistischer und gewaltfreier Rahmenbedingungen stattfinden. Diese wurden als Notwendigkeit betrachtet, um überhaupt wieder politisch handlungsfähig zu werden. Zunächst wurde diese Strategie innerhalb der politischen Basis, in den Strukturen von ETA und im Kollektiv der baskisch-politischen Gefangenen, EPPK, diskutiert und anschließend mit großer Mehrheit beschlossen (1).

BL2Hinein in die Institutionen!

Am 09.Februar 2012 betrat mit SORTU (2) ein neuer politischer Akteur die Bühne, der die Nachfolge der verbotenen Partei BATASUNA antreten sollte (3) (4). Mit der sozialdemokratischen Eusko Alkartasuna sowie der Vereinigte-Linke-Abspaltung Alternatiba bildete Sortu die Parteienkoalition EUSKAL HERRIA BILDU (EH Bildu – Baskenland sammeln), die mit der Zeit zunehmend als eigenständige Partei auftreten sollte. Später kam Aralar dazu, eine Abspaltung von Batasuna aus dem Jahr 2001.

SORTUs Parteiziel ist nach ihrem Programm “ein Bruch mit dem kapitalistischen und patriachalen System, sowie der Aufbau einer völlig anderen, auf partizipativer Demokratie beruhenden Gesellschaft“. Auf der Grundlage von ideologischer Konfrontation, institutioneller Vertretung und gewerkschaftlicher Mobilisierung will SORTU neue Mehrheiten für Selbstbestimmung und eine andere Gesellschaftsform erreichen (5). Nach Aussagen von Arnaldo Otegi komme der abertzalen Linken die Aufgabe der Bildung eines “historischen Blocks“ zu, an deren Spitze sie zur Realisierung eines fortschrittlichen Gesellschafts-Projekts stehen müsse.

Seit ihrer Gründung sind sowohl die Partei SORTU als auch die Wahlkoalition EH BILDU in nahezu alle Institutionen in Hegoalde (6) (dem spanischen Teil des Baskenlands) zurückgekehrt. In der Provinz Gipuzkoa sowie in der Autonomen Gemeinschaft Navarra war sie in unterschiedlichen Mitte-Links-Koalitionen an der Regierung beteiligt. In Donostia-San Sebastian und Iruñea-Pamplona stellte sie für jeweils eine Legislaturperiode den Bürgermeister. Aus den Wahlen zur Comunidad Autonoma Vasco(Region Autonome Baskische Gemeinschaft) im Juli 2020 ging das Wahlbündnis EH BILDU als zweitstärkste Kraft (27,87%) mit deutlichen Stimmenzuwächsen (6,77%) hervor. Für diesen Zuwachs scheinen unterschiedliche Faktoren eine Rolle zu spielen. Ihren Kurswechsel scheint ein großer Teil der abertzalen Linken mitzutragen. Darüberhinaus scheint sie mit der Abkehr von der politischen Gewalt weitere Personenkreise über die eigene Bewegung hinaus anzusprechen.

Dazu tragen sicher auch Veränderungen im Charakter der Partei bei. Im Vergleich zu ihrer Vorgänger-Organisation Batasuna und in Folge des Strategiewechsels hat sie ihre Sprache verändert. Statt von Unabhängigkeit sprechen ihre Protagonisten heute von „demokratischer Selbstbestimmung“ oder “Souveränität“. Der Begriff “Sozialismus“ scheint aus dem Vokabular (weitgehend) gestrichen worden zu sein. Auch das äußere Erscheinungsbild wurde von jedweder traditionellen sozialistischen Symbolik bereinigt.

Bei BATASUNA traf die Basis Entscheidungen bezüglich des politischen Prozesses und wählte Delegierte zur “mesa nacional“ (Anm: nationaler Tisch, eine Art kollektiver Parteivorstand), weshalb die Partei wesentlich transparenter erschien. Im Vergleich dazu ist SORTU heute eine Partei mit Mitgliedern, Parteibüros und Angestellten, bei der politische Entscheidungen in den jeweiligen Gremien getroffen werden.

BL3Welche ihrer programmatischen Ziele konnte sie bisher in konkrete Projekte umsetzen?

Aufgrund ihrer starken lokalen Verankerung in den ländlichen Gemeinden und Kleinstädten in den Provinzen Gipuzkoa und Navarra – keine andere Partei im Baskenland stellt mehr Gemeinderäte – versucht sie, vor Ort ihre Vorstellung von einer anderen Gesellschaft umzusetzen. In der gipuzkoanischen Kleinstadt Orrereta-Renteria zum Beispiel regiert EH BILDU seit einigen Jahren gemeinsam mit Unidos Podemos. Gemeinsam unter Einbeziehung der Bevölkerung wurden in der ehemaligen Industriestadt mehrere munizipalistische Projekte initiiert. In der Einrichtung “Haus der Frauen“ finden Bildungs- und Beratungsangebote von und für Frauen statt. Verwaltet wird das Projekt in einem Zusammenspiel zwischen der Stadtverwaltung und der lokalen feministischen Bewegung. Auf dem Sektor der lokalen Wirtschaftsförderung unterstützt die Kommune junge Unternehmer*innen bei der regionalen und nachhaltigen Verankerung ihrer Produkte mit der Bereitstellung von Infrastruktur, der Vernetzung mit anderen Akteuren und der Existenzgründung unter genossenschaftlichen Rahmenbedingungen.

In Irunea-Pamplona konnte die von den Abertzalen geführte Stadtregierung (Anm: EH BILDU, PNV, Podemos, Vereinigte Linke) die Räumung des Mausoleums für die franquistischen Generäle Mola und Sanjurjo als einen großen Erfolg verbuchen (7). Dies geschah nicht mit viel medialem Getöse, wie der Räumung des Mausoleums von Franco durch die spanische Regierung (Anm: PSOE, Pedro Sanchez) in Madrid, sondern durch bedachte Verhandlungen mit der Kirche, den Familien und anderen Beteiligten. Allerdings musste EH Bildu auch einige Rückschläge hinnehmen. Die von ihr geführte Provinzregierung in Gipuzkoa wollte ein Recycling-Konzept nach bundesdeutschem Vorbild einführen, scheiterte aber bei ihrem Vorgehen sowohl an ihren politischen Gegnern als auch an der gesellschaftlich dominierenden Wegwerf-Kultur.

…zurück auf die Straße!

Im Frühjahr 2016 trat mit “Amnistia Ta Askatasuna – ATA“ (Amnistiaren Aldeko eta Errepresioaren Aurkako Mugimendua“ (Bewegung für Amnestie und gegen Repression) erstmals eine Organisation in Erscheinung, die sich in Dissidenz zur neuen politischen Strategie (Anm: ... von SORTU) seit 2012 verortet (8). Die Gründung von ATA ließ nun klar die Risse deutlich werden, die sich aufgrund des Strategiewechsels in den vorhergehenden Jahren in der Bewegung gebildet hatten. Viele ihrer Aktivist*innen wollten den legalistischen Kurs, den Schwenk in die politische Mitte und die Vehemenz, mit der SORTU in die Institutionen zurückkehrte, nicht akzeptieren. Die Aufgabe der zentralen und traditionellen Forderung nach Amnestie für die politischen Gefangenen durch SORTU bestärkten schließlich den Bruch, der zur Gründung von ATA führen sollte. ATA ist in einem Netzwerk aus Einzelpersonen und lokalen Gruppen organisiert. Unterstützung erfährt sie unter anderem aus Teilen der Memoria-Bewegung, von antifaschistischen Initiativen, sowie von mehreren ML- Gruppen.

Einige ihrer Aktivist*innen sind ehemalige politische Gefangene, die vormals bei BATASUNA organisiert waren. Inhaltlich vertritt ATA mit den Forderungen für Amnestie, Sozialismus, Unabhängigkeit, Feminismus und Ökologie viele Positionen der “alten“ baskischen Linken vor dem Strategiewechsel. Die Gründung einer neuen Partei scheint bisher nicht das Ziel ihrer Akteure zu sein. Zumal sie dafür das spanische Parteiengesetz (9) akzeptieren müsste. Genau jenes Parteiengesetz, für dessen Akzeptanz sie SORTU massiv kritisiert. In ihrer politischen Praxis setzt sie auf Mobilisierungen auf der Straße und besetzt somit die politischen Räume, die durch den Weg der Fraktion um SORTU/EH BILDU in die Institutionen frei geworden waren (10). Mit ihrer Praxis der sozialen Mobilisierung auf der Straße spricht sie seit ihrer Gründung verstärkt eine jüngere Generation an Aktivist*innen an, die einer institutionellen Form von politischer Praxis kritisch oder ablehnend gegenüber steht.

In den vergangenen Jahren bestand der Schwerpunkt der politischen Arbeit von ATA in der Amnestie-Frage und der Situation der politischen Gefangen. Dass SORTU / EH BILDU diese Fragen wieder auf ihre Agenda setzen mussten, kann sicher auch als ein Verdienst ihrer Arbeit betrachtet werden. Bisher weitgehend unklar geblieben ist der von ATA propagierte Sozialismus. Um diesen Begriff mit Leben zu füllen, fehlen bisher konkrete Projekte, an denen dies sichtbar und erfahrbar wird.

BL4…die Gefangenen so weit entfernt wie eh und je

Der Strategiewechsel der letzten Jahre hat die Situation der politischen Gefangenen ebenfalls stark verändert. Wurde die spanische Justiz bis dato von der Bewegung als politische bzw. koloniale Justiz betrachtet, mit der keine Verhandlungen geführt werden, vollzog SORTU eine Abkehr von dieser Doktrin. Von nun an wurde jedem Gefangenen gestattet, nach individuellen Lösungen zur Verbesserung seiner Haftsituation zu suchen, sprich mit dem spanischen Justizapparat zu verhandeln, ohne aber mit diesem zu kollaborieren. Somit wurde die einstmals zentrale Forderung der abertzalen Linken nach Amnestie, einer Verlegung der baskischen Gefangenen ins Baskenland, sowie die Rückkehr der Exilierten aufgeweicht bzw. in Teilen aufgegeben. Sie erschien einem Teil der Bewegung als nicht realisierbar. Die Gefangenen, die diesen Weg nicht mitgehen wollten, mussten das Gefangenen-Kollektiv EPPK verlassen und werden seitdem von der Strömung um ATA unterstützt.

Wie tief die Risse durch die Bewegung gehen können, zeigten auch die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Strömungen im Umgang mit dem Hungersstreik des Gefangenen Patxi Ruiz im Frühjahr dieses Jahres. Dieser trat nach mehrfachen Misshandlungen und Repressalien durch das Gefängnispersonal in den Hunger- und Durststreik (11). Aufgrund seines Sympathisierens mit ATA erhielt er nach deren Aussagen wenig Solidarität von Mitgefangenen aus dem Kollektiv. Zwischen ATA und SORTU / EH BILDU, die sich (im Juli 2020) gerade im Wahlkampf befanden, entflammte erneut ein heftiger Streit über die politischen Strategie im Umgang in der Gefangenenfrage. Derzeit sitzen noch rund 200 Gefangene ihre Haftstrafen in spanischen Knästen ab. Entlassen werden jene, die ihre Haftstrafe bis zum letzten Tag abgesessen haben. Während der Corona-Pandemie erhielten sie aufgrund des Lockdowns über einen Zeitraum von drei Monaten keinen Besuch.

Staatliche Friedens-Sabotage und minimale Zugeständnisse

Nachdem der spanische Staat in den letzten Jahrzehnten zunächst in Form von franquistischer Diktatur und im Anschluss als demokratisch getarnte Monarchie versucht hatte, die linke Unabhängigkeits-Bewegung durch massive Repression – wir sprechen hier von Maßnahmen wie Verboten, Knast, Folter und Mord – politisch und militärisch zu zerschlagen, stand er auch der neuen politischen Strategie der einseitigen Konfliktlösung ablehnend gegenüber (Anm: die Rajoy-Regierung der postfranquistischen PP).

Vielmehr bemühte sich die Rechte zunächst, diesen Prozess zu sabotieren, indem sie eine Spaltung von ETA provozieren wollte und die Initiator*innen des Gewaltverzichts um Otegi für ihre politischen Aktivitäten inhaftierte. Nachdem diese Maßnahmen keine Wirkung zeigten, die baskische Linke weiterhin ihren Kurswechsel vollzog und ETA sich in diesem Zuge auflöste (12), wurde versucht, erneut ihre Organisationen – in diesem Falle SORTU – gleich nach ihrer Gründung durch Audiencia Nacional zu verbieten (13).Was ihr aber in diesem Fall nicht gelang. Die Prozesse gegen Organisationen und Einzelpersonen der baskischen Linken wurden indes weitergeführt. Die beiden letzten Massenprozesse gegen das Netzwerk der “Herriko Tabernas“ (14) (15), ein Netzwerk von selbstverwalteten Kneipen, Bars und Restaurants, sowie gegen die Gefangenen-Organisation “Herrira“ endeten mit “geringen“ Haftstrafen für die Angeklagten. Im Gegenzug erklärten die Angeklagten, sie hätten im Auftrag von ETA gehandelt, so erhielten diese vergleichsweise niedrigen Strafen, so dass niemand in den Knast musste.

BL5Auch die Situation der Gefangenen hat sich nicht wirklich verändert. Das spanische Justizsystem praktiziert weiter die sogenannte “Dispersión“, mit der die Gefangenen teilweise in weit vom Baskenland entfernten Gefängnissen inhaftiert werden. Minimale Veränderungen hat es seit Antritt der Sanchez-Administration bei den Haftbedingungen gegeben. So wurden einige Gefangene in Haftanstalten in die Nähe des Baskenlandes verlegt und der Haftgrad von Hochsicherheitsverwahrung, die teilweise als Isolationshaft vollzogen wird, in Bedingungen mit Ausgang umgewandelt.

(Anm: Die Koalitions-Regierung PSOE-PODEMOS ist seit Sommer 2020 dazu übergegangen, einzelne politische Gefangene in baskische Gefängnisse zurückzuholen: Pamplona, Araba, Basauri, Donostia. Andere werden in Gefängnisse im Norden der Halbinsel gebracht: Logroño, Soria, Saragossa, Asturien. Dies betraf zuerst Gefangene “ohne Bluttaten“, mittlerweile auch solche, die wegen Attentaten verurteilt wurden. Einzelne Gefangene wurden in den dritten Haftgrad eingestuft, sie müssen nur zum Schlafen ins Gefängnis zurück. Zum ersten Mal sind somit Gefangene auf der Straße, die nicht ihre Gesamtstrafe abgesessen haben. Ähnliche Rückführungen hat der französische Staat bereits im vergangenen Jahr 2019 veranlasst. Der Widerstand gegen solche humanistischen Maßnahmen von Seiten der ultrarechten Opferverbände lässt langsam nach. Im Gegenzug kooperiert EH BILDU im spanischen Parlament in Abstimmungen, bei denen die Minderheitsregierung Sanchez Stimmen braucht.)

An eine Rückkehr von den in den letzten Jahrzehnten ins Ausland geflohenen bzw. deportierten Exilierten scheint in dieser Situation mit wenigen Ausnahmen nicht zu denken zu sein. Ein Abzug der paramilitärischen Polizei “Guardia Civil“, wie oftmals nach dem Ende des bewaffneten Kampfes sogar von der christdemokratischen PNV (16) gefordert, hat bisher nicht stattgefunden. Vielmehr präsentiert sich der spanische Staat als Sieger über ETA und sieht für sich keine großen Veränderungen des Status Quo.

Einer Aufarbeitung der strukturellen Verwicklung von Mitgliedern der spanischen Regierung in die Aktivitäten der Todesschwadronen “GAL“ (17) (18) in den 1980er-Jahren erachtet selbst eine PSOE-PODEMOS-Regierung (19) (20) in Madrid als nicht notwendig (21). Vielmehr hat sich der Schwerpunkt ihres Repressions-Apparates in den letzten Jahren auf die katalanische Unabhängigkeits-Bewegung fokussiert. Zu welchen Gewalt- und anderen Unterdrückungs-Exzessen dieser noch immer fähig ist, haben die vergangenen Jahre gezeigt. Daher kann aufgrund der Praxis und der Haltung des spanischen Staates sicherlich von keinem Friedensprozess gesprochen werden. Aufgrund seiner zentralstaatlichen Verfassung und seines franquistischen Erbes hat dieser keinerlei Interesse an einer friedlichen Beilegung des Konflikts auf Augenhöhe.

BL6Nord-Baskenland

Etwas anders stellt sich die Situation auf der anderen Seite der Grenze dar. Im französischen Staat waren die politischen Organisationen der abertzalen Linken nie verboten. Durch eine zivilgesellschaftliche Initiative wurde im französischen Baskenland (Iparralde) die Entwaffnung von ETA organisiert. Diese als “Friedens Handwerker“ bekannte Gruppe hatte zu Beginn versucht, Waffen von ETA in Handarbeit unbrauchbar zu machen. Dies scheiterte an einem Polizeieinsatz. Im zweiten Versuch erreichte die Gruppe, dass ETA die Standorte ihrer Depots per GPS mitteilte, im Anschluss übergab sie diese dann den französischen Behörden (22). Eine Aktion, die von den französischen Behörden geduldet wurde. Im spanischen Staat wäre ein derartiges Vorgehen undenkbar gewesen wäre. Den Aktivist*innen hätten hier sicher lange Haftstrafen gedroht. Mit kleinen Schritten hat der französische Staat somit auf die veränderte politische Situation reagiert. Hinsichtlich der Situation der politischen Gefangenen wurden einige näher an Haftanstalten in der Nähe des französischen Baskenlandes gebracht.

Auf vielen Wegen vorwärts

Trotz der Abwicklung von ETA und der Neuorganisation innerhalb der Bewegung war die abertzale Linke nicht ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Das Gegenteil war der Fall. Ihre Organisationen führten eine Vielzahl von sozialen Kämpfen. Die abertzalen Gewerkschaften LAB und ELA (23), die mehr als 50% aller Betriebsräte im Baskenland stellen, organisierten eine Vielzahl von Streiks in unterschiedlichen Branchen. Diese umfassten eine Bandbreite von der Metall- und Elektroindustrie, wie beispielsweise dem VW-Werk in Irunea-Pamplona über Streiks mit prekär beschäftigten Landarbeiter*innen in Navarra bis zu illegal Beschäftigten im Haushalts-Bereich in der Provinz Bizkaia (24).

Am 30. Januar 2020 führten die beiden abertzalen Gewerkschaften gemeinsam mit der anarchosyndikalistischen CNT einen eintägigen Generalstreik beiderseits der Grenzen durch (25) (26). An ihrer Mobilisierung nahmen hunderttausende Menschen teil. Das öffentliche Leben wurden in vielen Regionen lahmgelegt. Zentrale Forderungen des Generalstreiks waren die Rücknahme von sozialen Verschärfungen, wie der neoliberalen Arbeitsmarkt-Reform der Rajoy-Administration, die zu einer weiteren Erosion von Arbeitnehmer*innen-Rechten und einer Zunahme von prekären Arbeits-Verhältnissen geführt hatten. Desweiteren bezog der Generalstreik inhaltlich den Kampf der Bewegung der Rentner*innen nach einer würdigen Rente ein, der im Baskenland begann und sich schließlich auf ganz Spanien ausbreitete.

BL7Neue Themen, neue Mobilisierungen

In den größeren Städten erhielt der Kampf um bezahlbaren Wohnraum und lebenswerte Städte immer mehr Gewicht. Aufgrund von Gentrifizierung und den Folgen des Massentourismus (27) (28) werden auch im Baskenland immer mehr Menschen durch steigende Mieten aus ihren Wohnungen und Stadtvierteln vertrieben. Dagegen mobilisieren vor allem Basisbewegungen (29). In Vitoria-Gasteiz besetzten Aktivist*innen vor sechs Jahren das komplett vom Abriss bedrohte Stadtviertel “Errekaleor“. Im Laufe der Zeit wurden dessen Gebäude wieder in Stand gesetzt, Felder zur Selbstversorgung angelegt und mit internationaler Unterstützung eine Solaranlage zur autarken Versorgung des Barrios mit Strom errichtet (30).

Am “Internationalen Tag der arbeitenden Frau“, wie der “Internationale Frauentag“ im Baskenland genannt wird, mobilisierten feministische Gruppen und tausende Menschen, um für die Rechte und Selbstorganisation von Frauen, sowie gegen das patriarchale Gesellschaftsmodell und die Auswirkungen des kapitalistischen Systems zu demonstrieren. Internationalistische Initiativen leisten noch immer einen großen Beitrag zur Unterstützung und Vernetzung von bzw. mit anderen sozialistischen und indigenen Bewegungen in Lateinamerika, Palästina oder der Westsahara. Sie lassen internationale Solidarität Praxis werden, in dem sie beispielsweise seit Jahren Kindern und Jugendlichen aus saharauischen Flüchtlingslagern einen Sommer bei Gastfamilien im Baskenland ermöglicht.

Die abertzale Linke hat in den letzten Jahren mit viel Mut und Risiko einen radikalen Strategiewechsel vollzogen. Dazu gehörte die Abkehr vom bewaffneten Kampf. Dass keinerlei Abspaltung von ETA dieses Konzept weiterführte, wie beispielsweise in der republikanischen Bewegung Nordirlands, kann als ihr Verdienst bezeichnet werden. An der Frage, auf welchen Wegen sie nun voran schreiten will, haben sich die Vorstellungen in unterschiedlichen Strömungen auseinanderentwickelt.

Offene Fragen

Wird die Strömung um SORTU/EH BILDU mit ihrem Weg, politische Veränderungen zum Aufbau eines alternativen Gesellschafts-Modells durch die Arbeit in den Institutionen erfolgreich sein? Welche Mehrheiten wird sie in Zeiten eines globalen politischen Rechtsrucks in Zukunft für ihre Projekte organisieren können? Wie sehr wird sie sich in und von den Institutionen abschleifen lassen? Oder wird sie gar einen Marsch durch sie hindurch antreten? Wird die Gesamtbewegung weiterhin ihre hohe Mobilisierungs-Fähigkeit erhalten können? Die jährlichen Demonstrationen für die politischen Gefangenen im Januar mit Teilnehmer*innen-Zahlen von über 100.000, sowie die Zahlen vom Generalstreik im Januar dieses Jahres deuten darauf hin.

BL8Werden Gruppen und Organisationen aus dem radikaleren Teil der Bewegung wie ATA eigene neue Projekte in Theorie und Praxis entwickeln können? Werden sie SORTU / EH BILDU durch Mobilsierungen auf der Straße politisch unter Druck setzen können? Wie wird die Bewegung einmal ihre eigene Geschichte erzählen und bewerten? Wird sie sich trotz des Eingeständnisses der Verursachung von Leid auf der politischen Gegenseite weiterhin an die Herkunft ETAs aus dem antifranquistischen Widerstand sowie an die aufständische Geschichte vieler anderer ihrer Organisationen erinnern?

Die weiterhin gängige Praxis der “Ongi Etorris“, der Willkommens-Veranstaltungen für entlassene Gefangene in ihren Heimatorten, sowie Erinnerungs-Veranstaltungen für gefallene ETA-Leute im öffentlichen Raum, an denen Aktivist*innen aus allen politischen Lagern beteiligt sind, sowie Publikationen in den abertzalen Medien deuten bisher darauf hin. Völlig unklar sind hingegen bisher die Perspektiven für die nach der Auflösung noch in der Illegalität verbliebenen ETA-Militanten. Im medialen Diskurs spielt diese Frage aktuell keine Rolle. Unter den derzeitigen Bedingungen scheint eine Rückkehr in die Legalität derzeit als völlig unrealistisch. Seit der Festnahme des ehemals zum ETA-Führungskreis gehörenden Josu “Ternera“ Urrutikoetxea im letzen Jahr in den französischen Alpen und dessen vorläufiger Freilassung unter Auflagen gab es keine weiteren Inhaftierungen mehr (31).

Publikation in der Tageszeitung Junge Welt

Eine gekürzte Fassung des an dieser Stelle publizierten Artikels wurde am 17. August dieses Jahres in der Tageszeitung Junge Welt veröffentlicht, unter dem Titel: "Baskische Linke, auf vielen Wegen vorwärts". Verfasst wurde der Artikel von dem Baskenland-Kenner und langjährigen Besucher Jan Tillmanns. (LINK)

ANMERKUNGEN:

(*) Der hier dokumentierte Artikel erschien im Sommer 2020 in gekürzter Form in der Tageszeitung Junge Welt, Baskultur.info dokumentiert ihn in Absprache mit dem Autoren Jan Tillmanns vollständig. Redaktionelle Anmerkungen sind gekennzeichnet.

(1) EPPK (Euskal Preso Politikoen Kolektiboak)-Kollektiv der baskischen politischen Gefangenen

(2) SORTU (Aufbauen), Nachfolgepartei der illegalisierten BATSUNA (Einheit)

(3) BATASUNA (Einheit) ehemalige Partei der abertzalen Linken, Gründung 2001 als Nachfolge von Herri Batasuna, Verbot 2003 in Spanien, Selbstauflösung in Frankreich 2013.

(4) “Baskische Linke gründet Partei - Inhaftierter Arnaldo Otegi zum Generalsekretär von Sortu gewählt“, Junge Welt, 2013-02-25 (LINK)

(5) Vgl. Arnaldo Otegi in: “Lichtblicke im Baskenland“, von Fermin Munarriz.

(6) Hegoalde (baskisch: südliche Seite): südlicher Teil des Baskenlandes (zum spanischen Staat gehörend). Unterteilt in die Autonomen Gemeinschaften Nafarroa-Navarra und Baskenland mit den Provinzen Gipuzkoa, Bizkaia, Araba.

(7) “Faschisten-Monument soll verschwinden“, Baskinfo 2016-09-21 (LINK)

(8) “Linke Spaltung im Baskenland“, Baskinfo, 2016-06-21 (LINK)

(9) Das Parteiengesetz wurde auf Betreiben des Richters Garzon von der Rajoy-Regierung beschlossen, um die baskische Linke in die Illegalität zu zwingen. In der Folge wurden fast alle abertzalen Organisationen verboten, zwischen 20 und 30% der baskischen Bevölkerung verloren ihre Wahloption.

(10) “Bewegung für Amnestie“ Baskinfo, 2017-06-29 (LINK)

(11) Hunger- und Durststreik des Gefangenen Patxi Ruiz, Argia-Zeitschrift, 2020-05-11 (LINK)

(12) “ETA macht Schluss“, Junge Welt, 2018-05-05 (LINK)

(13) Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof): spanisches Sondergericht, zuständig für Terrordelikte und organisierte Kriminalität, gleichzeitig Ausdruck der politisierten spanischen Justiz.

(14) “Razzia gegen Herrira“ Info-Baskenland, 2013-09-30 (LINK)

(15) “Hartes Urteil gegen Sortu“, Baskinfo, 2014-08-03 (LINK)

(16) PNV, Partido Nacionalista Vasco (Baskisch Nationalistische Partei), baskische Christdemokraten, die auf Autonomie setzen, nicht auf Unabhängigkeit

(17) GAL - Grupos Antiterroristas de Liberacion (Antiterroristische Befreiungsgruppen) waren paramilitärische Gruppen, die in der Zeit von 1983 bis 1987 als Todesschwadronen in Spanien und Frankreich aktiv waren. Sie waren für die Morde an 28 mutmaßlichen Mitgliedern von ETA und der Unabhängigkeits-Bewegung verantwortlich Die GAL-Gruppen wurden illegal von der spanischen Regierung während der Amtszeit des sozialistischen Ministerpräsidenten Felipe González ins Leben aufgebaut. Sie wurden vom Innenministerium (Ministerio del Interior de España) für den Kampf gegen die baskische Unabhängigkeitsbewegung geführt und finanziert.

(18) “Neue Krise für die spanische Regierung - Ex-PSOE-Premier soll in Achtzigern laut CIA Todesschwadronen gegen Oppositionelle aufgestellt haben“, Junge Welt, 2020-06-17 (LINK)

(19) PSOE, Partido Socialista Obrero Espanol, Spanische Sozialistische Arbeiter-Partei Gründung, mit sozialdemokratischem Kurs, 1879 gegründet

(20) Podemos (Wir können): Spanische Links- oder Protest-Partei, die 2014 gegründet wurde, nach der großen Protestbewegung in verschiedenen spanischen Städten.

(21) “Es fehlt der politische Wille, die Morde aufzuklären, Telepolis, 2020-06-24 (LINK)

(22) “Depots geöffnet und geleert - Die ETA ist nach über 50 Jahren eine Organisation ohne Waffen“, Junge Welt, 2017-04-12 (LINK)

(23) LAB, Langile Abertzaleen Batzordeak, Kommisionen der Abertzalen Arbeiter*innen: linkssozialistische, der Partei SORTU nahestehende Gewerkschaft / ELA, Eusko Langileen Alkartasuna: Baskische Arbeitersolidarität. Kapitalismus-kritische Gewerkschaft mit Ursprung im baskischen Katholizismus

(24) “Wir streiken“, Baskultur.info, 2020 (LINK)

(25) “Der verschwiegene gefährliche Generalstreik“ Telepolis,2020-01-31 (LINK)

(26) “Der Generalstreik im Baskenland: Ein Signal für die Gewerkschafts-Bewegung – nicht nur in Spanien“, 2020-02-03 (LINK)

(27) “Gentrifizierung per AIRBNB“, Baskultur.info, 2018-11-16 (LINK)

(28) “Totaler Tourismus“ Baskinfo, 2017-08-09 (LINK)

(29) “Demo gegen Touristifizierung“, Baskinfo (2018-02-01) (LINK)

(30) “Hausbesetzung in Gasteiz“, Baskultur.info, 2017-06-12 (LINK)

(31) “Ehemaliger ETA-Anführer nach Jahren auf der Flucht gefasst“, Die Zeit, 2019-05-16 (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Basken (txalaparta)

(2) Herri Batasuna (elpais)

(3) Ternera, Otegi (elmundo)

(4) ETA-Erklärung (youtube)

(5) Amnestie-Bewegung

(6) Tourismus-Protest (naiz)

(7) Errekaleor (udalbiltza)

(8) Etxerat (getty)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-11-09)

 

Für den Betrieb unserer Webseite benutzen wir Cookies. Wenn Sie unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, akzeptieren Sie unseren Einsatz von Cookies. Mehr Information