20 Jahre Illegalisierung
Vor zwanzig Jahren erfand der spanische Staat eine neue Waffe gegen die baskische Unabhängigkeits-Bewegung: mit dem Parteien-Gesetz und dem Totschlags-Argument “Alles ist ETA“ wurde versucht, die Infrastruktur der baskischen Linken zu zerschlagen, Parteien, Verbände, Vereine, Lokale. Was sich im Umfeld der Bewegung befand, wurde für illegal erklärt (mit Ausnahme der Gewerkschaft LAB). Von einem Tag auf den anderen stand die Unabhängigkeits-Bewegung auf der Straße. Ein Rückblick 20 Jahre danach.
Das sogenannte “Parteien-Gesetz“ von 2002 war einzig und allein auf die politischen Strukturen der baskischen Linken zugeschnitten, sollte ihre institutionelle und parlamentarische Präsenz eliminieren und ihre ökonomische Basis zerstören. Mit der irrsinnigen und unhaltbaren Behauptung “Alles ist ETA“ sollte die Bewegung erwürgt werden.
Ziviler Ausnahmezustand
In diesem Sommer jährt sich die Verabschiedung des Parteien-Gesetzes durch das spanische Parlament zum zwanzigsten Mal. Neben der Repression durch die spanischen Polizei-Einheiten wurde mit diesem Gesetz eine neue juristische Front eröffnet. Die abertzale (nationalistische) Linke sollte verboten und so aus allen denkbaren Institutionen und Parlamenten ausgeschlossen werden. Das Gesetz sollte auch dazu dienen, den politischen Willen der baskischen Gesellschaft zu manipulieren, wenn nicht ganz zu unterdrücken. (1)
Trotz der Tatsache, dass sich die baskische Linke jahrelang nur noch auf der Straße versammeln konnte, trotz dem Umstand, dass nicht nur Parteien und zivile Organisationen verboten wurden, sondern auch jegliche andere Form von Aktivität wie Demonstrationen, wurde das Ziel des Gesetzes nicht erreicht. Die Neuregelung setzte praktisch Grundrechte außer Kraft: für einen relevanten Bereich der baskischen Gesellschaft wurde das Recht auf freie Meinungs-Äußerung eliminiert; auch das Wahlrecht wurde de facto aufgehoben, weil sich 20 bis 30 Prozent der baskischen Bevölkerung ihrer Wahlalternative beraubt sahen (in manchen Orten bis zu 90%). Doch waren die verbotenen Ideen auch mit dieser repressiven Maßnahme nicht tot zu kriegen.
Das Parteien-Gesetz
September 2002. Nur noch wenige Monate bis in Navarra wieder einmal die Wahlurnen geöffnet werden für Kommunal-, Regional- und Parlamentswahlen in Iruñea (Pamplona). Wie immer weckt der Wahlgang in vielerlei Hinsicht großes Interesse. Nicht geklärt ist jedoch die Frage, ob alle politischen Optionen legal teilnehmen und ihre Wahllisten präsentieren können. Aus heutiger Sicht mag das für Baskinnen aus der jüngeren Generation und für ausländische Beobachterinnen überraschend sein. Nicht ganz so groß war die Überraschung im Baskenland selbst, denn solcherart Spielzüge von Seiten des immer zu Repression aufgelegten spanischen Staates war man durchaus gewohnt. (1)
Das diesen Artikel einleitende Foto zeigt eine Szene der Demonstration vom 14. September 2002, die von der baskischen Ertzaintza-Polizei brutal angegriffen wurde, dabei wurde sogar eine Art von Wasserwerfer gegen die Menge eingesetzt, was für hiesige Verhältnisse eher unüblich ist.
Vor zwanzig Jahren beschloss der spanische Staat, die politische und parlamentarische Vertretung der nationalistischen Linken zu verbieten. Dabei zogen Exekutive, Legislative und Judikative an einem Strang. Eröffnet wurde damit eine Periode von einem ganzen Jahrzehnt, in dem die Institutionen den politischen Willen der Zivilgesellschaft nicht mehr realistisch repräsentierten, weil circa ein Viertel keine Wahlalternative hatte. Dies führte zu einem zutiefst anti-demokratischen Szenario und zu enormen sozialen Spannungen.
Ausdrücklich gegen die baskische Linke
Das Manöver wurde mit dem “Gesetz 6/2002 über politische Parteien“ durchgeführt, das am 27. Juni desselben Jahres in Kraft trat und eindeutig darauf abzielte, die nationalistische Linke zu verdrängen. Jesús Cardenal, der damalige Generalstaatsanwalt, machte es unmissverständlich klar, als er sagte: "wir sind angetreten, um einen Teil Spaniens von der Belagerung durch eine Partei namens Batasuna zu befreien".
Der Plan war nicht neu. Die Verhaftung des Vorstands (mesa nacional) von Herri Batasuna im Jahr 1997 wegen der Veröffentlichung des Konflikt-Lösungs-Vorschlags “Demokratische Alternative“ war noch nicht lange her. Und in Madrid lag den Herrschenden immer noch das gescheiterte baskische Lizarra-Garazi-Abkommen von 1998-1999 im Magen, mit einem unbefristeten Waffenstillstand von ETA als Meilenstein. (2) In diesem Kontext kam es zu dem Versuch, jene Bewegung zu liquidieren, die das 78er-Regime (3) und seine Konsequenzen für Euskal Herria am wirksamsten und eindringlichsten herausgefordert hatte.
Dauerbeschuss
Auf der Grundlage des Ende 2000 von PP und PSOE unterzeichneten "Abkommens für die Freiheiten und gegen den Terrorismus" und nach dem Scheitern des Versuchs, 2001 mit dem ultrarechten PP-Kandidaten Jaime Mayor Oreja die baskische Regierung im Ajuria-Enea-Palast zu übernehmen, wurde mit dem Parteien-Gesetz weiter an der Repressions-Schraube gedreht, um endlich das “domuit vascones“ (die Basken behrrschen) singen zu können. (4)
Das vom Ministerrat von Ministerpräsident José María Aznar am 19. April vorgelegte Gesetz wurde im Kongress mit der Unterstützung von PP, PSOE, CiU (Katalonien), Coalición Canaria und Partido Andalucista verabschiedet. Izquierda Unida, PNV (Euskadi), BNG (Galicien), ERC (Kat), ICV, EA (Euskadi) und CHA (Aragon) stimmten dagegen. Organisationen wie Amnesty International und der UN-Sonder-Berichterstatter für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten äußerten ihre Besorgnis und den Verdacht, dass das Ziel dieses Gesetzes nicht darin besteht, "das Funktionieren des demokratischen Systems zu gewährleisten". Doch die Maschinerie war in Bewegung.
Anlass oder Vorwand
Am 6. August, zwei Tage nach einem ETA-Anschlag in Santa Pola mit zwei Todesopfern, schickte die Exekutive der General-Staatsanwaltschaft ein Dokument mit Argumenten für ein Verbot von Batasuna, und Cardenal machte sich an die Arbeit. Am 19. August reichte die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Verbot von Batasuna ein, der Kongress lieferte am 26. August die politische Deckung und leitete damit einen Prozess ein, der am 17. März 2003 seinen Höhepunkt erreichte, als der Oberste Gerichtshof einstimmig beschloss, die abertzale baskische Organisation Batasuna zu verbieten.
Gleichzeitig verfügte ein alter Baskenland-Hasser und Veteran der Repression gegen die Unabhängigkeits-Bewegung, Richter Baltasar Garzón, die Aussetzung der Aktivitäten der Partei Batasuna und ordnete "die notwendigen Maßnahmen" an, um "die Abhaltung von Demonstrationen zu verhindern, die sich auf Herri Batasuna (Volkseinheit) und Euskal Herritarrok (Baskische Bürgerinnen) – beide ebenfalls illegalisiert – und Batasuna beziehen". Von Garzón stammt der absurde und unbeweisbare Satz “Alles ist ETA“.
Gegenstimmen auf der Straße und an den Wahlurnen
Die Anordnung jenes Richters (für einige verwirrte Linke heutzutage ein Bezugspunkt) hat nicht verhindert, dass es auf den baskischen Straßen massive Reaktionen gab, auch Proteste in anderen Teilen Europas und der Welt. Es ist unmöglich, alle Demonstrationen aufzuzählen, die in jenen Monaten stattfanden, da sie in allen Größen und Farben sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene stattfanden.
Die vielleicht wichtigste, sicher aber denkwürdigste war die große Demonstration am 14. September 2002 in Bilbo, die unter dem Motto "Gora Euskal Herria!“ (Es lebe das Baskenland) stattfand und von der Regionalpolizei gewaltsam aufgelöst wurde. Neben Schlagstöcken und Pelota-Knüppeln setzte die Ertzaintza auch einen Panzerwagen mit Wasserschlauch ein. Damit wurde – im reinsten Stil der chilenischen Diktatur – eine blaue Flüssigkeit auf die in den Straßen von Bilbao versammelte Menge gespritzt. Das Bild von mehreren zehntausend Menschen, die sich auf die Straße setzen und im wahrsten Sinne des Wortes dem Regen standhielten, die in die Hände klatschten und Lieder sangen, ist zu einem Symbol dieser Zeit geworden.
Es kam auch zu Arbeitsniederlegungen, Streiks, feierlichen Erklärungen und eine Anprangerung der "politischen Apartheid", die über längere Zeit konstant blieb, insbesondere in den Gemeinden. Vor allem, weil in vielen Orten die Rathäuser von Leuten übernommen wurden, die keinerlei Unterstützung in der Bevölkerung genossen, die Stimme der Einwohner*innen wurde völlig ignoriert.
Lizartza als Symbol
Zum Paradigma dieser surrealistischen und völlig undemokratischen Situation wurde das Dorf Lizartza in Gipuzkoa, an der Grenze zu Nafarroa. Hier bekam Batasuna traditionell um die 90% der Stimmen und stellte regelmäßig die Bürgermeister*innen. Weil jedoch alle für Batasuna abgegebenen Stimmen für ungültig erklärt wurden, hatte die baskisch-nationalistische PNV mit einer Handvoll Stimmzettel die Nase vorn, der Landesfürst Joseba Egibar ließ sich wählen und war vier Jahre lang mit heftiger Kritik konfrontiert. Hatte die PNV erst gegen das Parteien-Gesetz gestimmt, zeigte sie sich nun offen opportunistisch als Nutznießerin.
Wer gedacht hatte, dass mit dieser Situation der Gipfel des schlechten Geschmacks erreicht war, wurde bei der nächsten Kommunal-Wahl eines Besseren belehrt. Die PNV hatte von so viel Gegenwind die Schnauze voll und kandidierte nicht mehr. Wieder wurden die linken Stimmen in den Papierkorb geworfen, zur Bürgermeisterin gewählt wurde eine PP-Politikerin, die mit dem Dorf rein gar nichts zu tun hatte und ganze vier Stimmen bekommen hatte – die einzigen gültigen Stimmen jenes Wahlgangs in Lizartza. Die Postfranquistin regierte vier Jahre unter Polizeischutz gegen das Dorf.
Ungültig wählen
Denn Tatsache war, dass die baskische Linke auch unter den Bedingungen von Verbot und Illegalität nie die Herausforderung scheute, ihre Sympathisant*innen an die Wahlurnen zu mobilisieren. Dies geschah mit unerwarteten Ergebnissen für diejenigen, die sich Hoffnung machten auf die Liquidierung der Linken. Zu jeder Wahl auf Kommunal-, Provinz- und Regional-Ebene wurde eine neue Wahlplattform gegründet, die dann “als Nachfolge-Organisation von Batasuna“ jeweils prompt verboten wurden. All diese Plattformen, mit denen die Linke bei den folgenden Wahlen antrat, erhielten stets mehr als 100.000 Stimmen. Dies ist erstaunlich, denn die Wähler*innen wussten ja schon im Voraus, dass ihre Stimmen für ungültig erklärt werden würden.
"Dass es in diesem Land Zehntausende von Menschen gab, die einen illegalen Stimmzettel aufbewahrt haben und zur Wahlurne gegangen sind, um ihn einzuwerfen; oder dass Tausende von Menschen die Kandidaturen mit ihrer Unterschrift unterstützt haben oder sogar bereit waren, sich in die Kandidatinnen-Listen einzutragen, auch wenn dies im politischen Alltag manchmal nicht zur Kenntnis genommen wurde; all das erfüllt uns mit Zuversicht und Zufriedenheit. Denn es spiegelt die Stärke des politischen Projekts der nationalistischen Linken wider", erklärte der starke Mann der baskischen Linken, Arnaldo Otegi, in dem 2005 veröffentlichten Buch-Interview "Mañana Euskal Herria" (auf Deutsch erschienen unter dem Titel “Lichtblicke im Baskenland“ im Papyrossa-Verlag.
Verbotene Listen
Zum Beispiel erhielt die Plattform “Autodeterminazio Bilgunea“ (AuB) bei den ersten Wahlen nach der Illegalisierung mehr als 150.000 Stimmen für die Provinzräte und das Navarra-Parlament und mehr als 160.000 Stimmen bei den Kommunalwahlen, obwohl sie vor dem Wahlgang für illegal erklärt wurde. Die Protest-Praxis war einfach: weil entsprechende Wahlzettel in den Wahllokalen fehlten, verteilte die baskische Linke vor den Wahlen ihre Zettel auf der Straße, die Leute nahmen sie mit und warfen sie in die Urnen.
Später fielen auch Herritarren Zerrenda (Bürgerinnnen-Liste), Abertzale Sozialisten Batasuna (Einheit Abertzaler Sozialistinnen), Aukera Guztiak (Alle Möglichkeiten), Demokrazia Hiru Milioi (Demokratie Drei Millionen), Askatasuna (Freiheit), EAE-ANV (historische links-nationalistische Partei, deren Aktivist*innen im Krieg von 1936 gegen den Faschismus kämpften) (5) und PCTV-EHAK (Kommunistische Partei der baskischen Territorien) dem Parteien-Gesetz zum Opfer. Die letztgenannte Partei wurde 2008 zusammen mit der ANV verboten, nachdem sie bei den Wahlen zum Parlament von Gasteiz im Jahr 2005 legal angetreten war, als Alt-Partei nicht verboten werden konnte (6) und neun Sitze errang, zwei mehr als Euskal Herritarrok im Jahr 2001.
Dieser Wahlerfolg war ein heftiger Rückschlag für die staatliche Strategie, die vier Jahre später, bei den autonomen Regionalwahlen 2009, schwerwiegende Folgen hatte. Diese Wahlen wurden zwar von der PNV gewonnen, doch fehlte durch die Illegalisierung ein Viertel der Wahlstimmen. Dadurch verschob sich der Anteils-Proporz der “legalen“ Parteien, sodass die baskischen Sozialdemokraten (PSE) mit Hilfe der Postfranquisten (PP) die PNV überflügelten. Der Sozialdemokrat Patxi López wurde als Lehendakari (Ministerpräsident) vereidigt, die PP beteiligte sich nicht an der Regierung. Dieser Stimmenschwindel ohne jegliche Legitimation störte die Protagonisten nicht, auch nicht das zweifelhafte Demokratie-Verständnis, das sie mit ihrer Praxis offenbarten.
40.000 "Kontaminierte"
Eine weitere Liste, die dem gerichtlichen Zensursieb entging, war die Iniciativa Internacionalista (Internationalistische Initiative), eine von dem bekannten Dramaturgen und Schriftsteller Alfonso Sastre (7) angeführte Kandidatur für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2009. Sie wurde vom spanischen Verfassungsgericht gedeckt, das in einem Urteil feststellte, dass die These von der so genannten “Kontamination verfassungsrechtlich nicht zulässig ist". Das Gericht ließ verlauten, dass jene Personen, die selbst kein Grund für die Illegalisierung einer Kandidatur sind, nicht als Kandidaten ausgeschlossen werden können, nur weil sie als Kandidaten auf einer illegalisierten Liste auftraten.
Das war eine zynische Aussage, denn in allen vorherigen Fällen, war genau das Gegenteil praktiziert worden: Wenn auch nur eine Kandidatin einer neuen Plattform jemals auf einer abertzalen Liste kandidiert hatte, reichte das aus, um die ganze Plattform als “kontaminiert“ abzustempeln, sie als Nachfolge-Liste von Batasuna zu illegalisieren und Tausende und Abertausende von Personen das Recht auf Teilnahme an den Wahlen zu nehmen. Insgesamt wurden etwa 40.000 Personen aus diesem oder anderen Gründen (zum Beispiel Besuche bei politischen Gefangenen, Tätigkeit als Batasuna Wahlbeobachter) als "kontaminiert" eingestuft, ihre bloße Anwesenheit konnte eine Kandidatur zunichtemachen. Die spanische Version von Demokratie-Verständnis.
Politisches Betätigungsverbot
Daneben wurde in all den Jahren der Illegalisierung eine ganze Reihe von Personen wegen ihrer Verbindungen zu den verbotenen Organisationen verhaftet und inhaftiert. Die im Oktober 2007 im gipuzkoanischen Segura durchgeführte Operation, bei der etwa zwanzig Personen vom ehemaligen Batasuna-Vorstand verhaftet wurden, wurde zu einem richtungsweisenden Beispiel für die Verfolgung von Unabhängigkeits-Befürworter*innen. Vorgeworfen wurde ihnen der Versuch, die illegalisierte Organisation wieder aufbauen zu wollen. Wie in jeder Diktatur hatten diese Personen praktisch ein Betätigungsverbot.
Dennoch war der Angriff des Staates nicht in der Lage, die politische Aktivität der abertzalen Linken zu neutralisieren. Im Gegenteil, mitten in diesem schwierigen Kontext war sie in der Lage, in den Jahren 2005-2006 einen Dialogprozess der baskisch-spanischen Konfliktparteien voranzutreiben und zu lenken. An den Verhandlungstischen saßen ETA, die spanische Regierung, die baskischen Parteien und Persönlichkeiten der illegalisierten Batasuna-Partei als offizielle Vertreter. Der Dialog scheiterte zwar, wurde aber später zur Basis für den strategischen Wandel bei ETA, der zum Ende des bewaffneten Kampfes und der Auflösung von ETA führte.
Frühling 2011
Auch wenn die aktuellen Führungskräfte in der mittlerweile als “offizielle baskische Linke“ bezeichneten Hauptströmung von einem erfolgreichen Überwinden der Illegalisierung sprechen, so war die fast totale Abwesenheit in Institutionen und Parlamenten dennoch ein schwerer Schlag für die Unabhängigkeits-Linke. Alles musste darangesetzt werden, um diese Situation zu revidieren. Dies geschah auf verschiedenen Ebenen. Einerseits machte die illegalisierte Führung der Unabhängigkeits-Linken Druck auf ETA, dem bewaffneten Kampf zu entsagen. Der Linken gelang es, nicht nur weiter Widerstand zu leisten, sondern gleichzeitig Allianzen für die Zukunft zu schmieden.
Im Februar 2011 wurde bei einer Pressenkonferenz von historischen Führern der baskischen Linken überraschend ein neues Partei-Projekt vorgestellt. Mit Sortu (Entstehen, Schaffen) sollte eine neue Epoche beginnen. Mehrfach betont wurde, dass die Statuten der neuen Partei alle Anforderungen des Parteien-Gesetzes respektieren und sich zu eigen machen. Das entsprach einer klaren politischen Niederlage. Denn bei den Dialog-Verhandlungen von 2006 war die Abschaffung des Parteien-Gesetzes noch eine zentrale Forderung gewesen. Nun zeigte es sich, dass dies politisch nicht durchsetzbar war, auch nicht mit der sozialdemokratischen Regierung Zapatero, die in den letzten Zügen lag und im November 2011 abgewählt wurde.
Joker EH Bildu
Gleichzeitig gelang es dem Kreis um die Sortu-Gründer*innen, eine neue Wahl-Koalition zu bilden. Partner waren die sozialdemokratisch-nationalistische Eusko Alkartasuna, EA (Baskische Solidarität), eine vormalige Abspaltung von der PNV, die mit derselben längere Zeit Regierungs-Koalitionen gebildet hatte; mit Alternatiba, einer Abspaltung der ehemaligen Vereinigten Linken (PCE); und mit Aralar, die sich 2001 wegen der Gewaltfrage von Batasuna abgespalten hatte. Versteht sich von selbst, dass die spanische Justiz sowohl Sortu wie auch EH Bildu erneut ins Visier nahm und Verbotsanträge stellte. Doch hatten die baskischen Juristen gute Arbeit geleistet und die Projekte “wasserdicht“ und unangreifbar gestaltet. Beide Anträge scheiterten, der neue baskische Frühling konnte beginnen. Zur ersten Feuerprobe wurden die baskischen Regionalwahlen vom Oktober 2012, bei denen Bildu mit 25% der Stimmen hinter der PNV (34%) zur zweitstärksten Kraft wurde.
Zwanzig Jahre später (2002-2022) ist das Parteien-Gesetz noch immer in Kraft, genauso bedrohlich, aber mit “abgeschliffenen Zähnen“. Nur in einem Fall kam es seither zur Anwendung, gegen eine kleine kommunistische Organisation. Der Blick der justiziellen Verbieter richtet sich in der Aktualität mehr Richtung Katalonien als auf das Baskenland. Was mit der dortigen Unabhängigkeits-Bewegung zu tun hat, die der baskischen im vergangenen Jahrzehnt den Rang abgelaufen hat, was den Wunsch nach Eigenständigkeit anbelangt.
So absurd es klingt, selbst die christdemokratische PNV soll verboten werden, wenn es nach den neuen Faschisten im Staat geht, die derzeit kräftig im Aufwind sind. Vox würde gerne aufräumen mit den “Sezessionisten“ am Golf von Bizkaia und der Costa Brava: Sortu, CUP, PNV und ERC – da könnte ein Parteien-Gesetz ein wirksames Instrument sein. Das wissen auch die Kräfte von EH Bildu, diese Bedrohung bringt sie dazu, neoliberale Haushalte der aktuellen sozial-liberalen Regierung zu befürworten, mit Militärausgaben und allem. Um eine PP-Vox-Koalition zu verhindern. Die leidige Geschichte des kleineren Übels.
ANMERKUNGEN:
(1) “Una ley que pretendió alterar la voluntad política de un pueblo” (Ein Gesetz, das darauf abzielte, den politischen Willen des Volkes zu ändern) Tageszeitung Gara, 2022-08-22 (LINK)
(2) Das Lizarra-Garazi-Vereinbarung (oder: Pacto de Lizarra) war ein politisches Abkommen, das am 12. September 1998 in der navarrischen Stadt Estella (Lizarra auf Baskisch) unterzeichnet wurde. Dieser Pakt wurde von allen baskischen nationalistischen Parteien sowie von Ezker Batua (Vereinigte Linke), Zutik, Batzarre, EKA und verschiedenen Gewerkschaften und Verbänden unterzeichnet, um einen "Dialog- und Verhandlungsprozess" anzustreben, der zur Beendigung des ETA-Spanien-Konflikts führen sollte. (LINK)
(3) “Regimen de 78“, oder “Regime von 78“ ist ein neuer soziologisch-politischer Begriff, der sich auf die spanische Transition bezieht, das heißt, den sogenannten “demokratischen Übergang von der Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie“. Eine Reihe politischer Kräfte (Linke, baskische und katalanische Politiker*innen, links wie rechts) bezeichnen diese Transition mittlerweile als “nicht gelungen“ oder “zum falschen Abschluss gebracht“, weil die de-facto-Mächte aus der Diktatur nie entmachtet wurden und mit der Amnestie von 1977 alle Verbrechen der Diktatur straflos geblieben sind. Vor diesem Hintergrund hat eine Aufarbeitung des franquistischen Regimes zwar in Katalonien und in Euskadi stattgefunden, nicht aber im spanischen Staat.
(4) Domuit Vascones ist ein lateinischer Ausdruck, der mit "die Basken beherrschen" übersetzt wird. Einige Historiker behaupten, dieser Ausdruck sei in Chroniken auf alle gotischen Könige angewandt worden (ohne zu spezifizieren, auf welche). Was den Schluss zulässt, dass es ihnen in Wirklichkeit nicht gelungen ist, die Vasconen zu beherrschen. Mehrere Historiker haben jedoch darauf hingewiesen, dass dieser Ausdruck in keiner Chronik auftaucht, was ihn zu einem unwissenschaftlichen Mythos machen würde. (LINK)
(5) Die Partei EAE-ANV (Acción Nacionalista Vasca) stammt aus den 1930er Jahren, als Abspaltung von der PNV stellte sie die erste linke Partei der Unabhängigkeits-Bewegung dar. Bevor sie bei Wahlen Erfolge erzielen konnte, kam es nach dem Militärputsch von Juli 1936 zum Spanienkrieg, bei dem die ANV verschiedene Bataillone stellte. Mit Herri Batasuna hatte die ANV ideologische Differenzen und beteiligte sich nicht an Wahlen. Insofern konnte sie bei ihrer ersten Teilnahme an den Kommunalwahlen 2007 von den staatlichen Zensoren nicht sofort in den Illegalisierung-Topf geworfen werden. Entsprechende Versuche blieben auf halbem Weg stecken. Was zu der surrealistischen Situation führte, dass jede lokale Wahlliste einzeln auf “kontaminierte Kandidatinnen“ geprüft wurde: die Hälfte wurde für illegal erklärt, die andere Hälfte konnte an den Wahlen teilnehmen.
(6) Das Auftreten der Partei EHAK-PCTV (Kommunistische Partei Baskischer Territorien) war überraschend und verwirrte die spanischen Repressoren enorm. Sie war 2002 gegründet worden, als das Parteien-Gesetz bereits auf den Weg gebracht, aber noch nicht verabschiedet war. Bis 2005 verzeichnete EHAK keinerlei Aktivitäten und entging den staatlichen Häschern. Erst als klar war, dass die baskische Linke auch bei den Regionalwahlen 2005 ohne Option bleiben würde, meldete sich EHAK zu Wort und ging ins Rennen. Als Altpartei mit Personen ohne politische Vorgeschichte konnte sie nicht illegalisiert werden. Die Justiz brauchte vier Jahre, um sich auf das “U-Boot“ der Linken einzuschießen, das zumindest für weitere vier Jahre eine Präsenz im baskischen Parlament sicherte.
(7) Alfonso Sastre Salvador (* 20. Februar 1926 in Madrid; † 17. September 2021 in Hondarribia) war ein spanischer Dramenautor, Regisseur, Schauspieler, Übersetzer, Hörspiel- und Drehbuchautor (und Sympathisant der baskischen Linken). (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Demo 2002 Bilbo (naiz)
(2) Alternativ-Kandidatur (publico)
(3) Illegalisierung (wikipedia)
(4) Alles ist ETA (vientosur
(5) Alfonso Sastre (elpais)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-08-24)