nafo01Von PSOE-Regierung anerkannt

Die Regionalregierung der baskischen Region Nafarroa (Navarra) steht kurz davor, anzuerkennen, dass hier über Jahrzehnte hinweg systematische und massive Folter praktiziert wurde. Das Baskische Institut für Kriminologie (IVAC) hat im Auftrag der Regierung 1.068 Fälle überprüft und Folter dokumentiert. Die offizielle Anerkennung von Folter in der Region markiert einen neuen Meilenstein in der Geschichte der Aufarbeitung des spanisch-baskischen Konflikts. Navarra folgt der Autonomen Gemeinschaft Baskenland.

Die Regierung der Autonomen Region Navarra hat das Baskische Kriminologie-Institut (IVAC) beauftragt, die mögliche Folterpraxis in der Region zu untersuchen. Im Bericht wird auch die Folterpraxis beschrieben. Ähnliche Initiativen aus dem spanischen Staat lassen auf sich warten.

Der Bericht des Baskischen Instituts für Kriminologie der Universität des Baskenlandes an die Regierung von Navarra, in dem 1.068 Fälle aus den letzten Jahrzehnten dokumentiert und anerkannt werden, enthält auch Beschreibungen, wie die Misshandlungen praktiziert wurden. Der Bericht vervollständigt das Bild, das mit einem ähnlichen Bericht in der Autonomen Baskischen Gemeinschaft (Euskadi) 2017 begonnen wurde. Der an die Senatorin für Bürger-Angelegenheiten, Ana Ollo (Geroa Bai), übergebene Bericht für die Regierung von María Chivite (PSOE) dokumentiert die Folter- und Misshandlungs-Praxis in Navarra von 1979 bis heute. Das IVAC-Team unter der Leitung des Forensikers Paco Etxeberria stellt fest, dass im Zeitraum von 1960 bis 2015 systematische gefoltert wurde, benannt wird auch, welche Polizeikräfte die Misshandlungen praktiziert haben. (1)

Bei der Übergabe anwesend waren auch der Generaldirektor für Frieden, Koexistenz und Menschenrechte, Martín Zabalza, und der Direktor des Dienstes für Koexistenz und Menschenrechte, Txema González. Im Namen der IVAC-Kommission stellten Laura Pego, Paco Etxeberria und Jeannette Ruiz Goikoetxea den Bericht vor. Dem zufolge wurden zwischen 1979 und 2015 in Nafarroa 676 Personen identifiziert, die gefoltert oder anderweitig misshandelt wurden. Es wird geschätzt, dass die Zahl der tatsächlichen Fälle 825 (676 plus 22%) betragen wird, eine Zahl, die sich aus den derzeit analysierten und in die Datenbank eingegebenen Akten ergibt. In 532 registrierten Fällen wurden 434 Personen misshandelt, einige davon also mehrfach. Die Summe der Daten aus der vorangegangenen Untersuchung (1960 bis 1978) und der aktuellen Untersuchung (1979 bis 2015) ergibt hochgerechnet eine endgültige Zahl von über 1.068 Fällen bei 891 Betroffenen für den Zeitraum 1960 bis 2015.

1980er, 1990er Jahre und nach 2000

nafo02Aus der Zusammenfassung des Berichts, der an die Presse ging, geht hervor, dass in den Jahren unmittelbar nach Francos Tod am intensivsten gefoltert wurde. 46 Fälle im Jahr 1980 und 44 im Jahr 1984. Dies deckt sich im Wesentlichen mit dem, was bereits in Araba, Bizkaia und Gipuzkoa (Euskadi) beobachtet wurde.

Mitte der 1990er Jahre kam es dann zu einer deutlichen Ausbreitung der Folterpraxis, mit fast 30 Fällen pro Jahr in den Jahren 1994, 1996 und 1997. In dieser Zeit kam es in Navarra zu Wellen von Massen-Verhaftungen, die von der Polizei mit der "kale borroka" (bask: Straßen-Kampf) gerechtfertigt wurden, den Sabotageaktionen von linken Jugendlichen, die der baskischen Linken und ETA zugerechnet wurden. Eine weitere auffällige Häufung wurde für das Jahr 2008 festgestellt, als 17 Fälle verzeichnet wurden.

Die IVAC-Untersuchung hat sich mit allen genannten Fällen befasst, genauer analysiert wurden insbesondere die Fälle mit direkten Zeugenaussagen: 20 wurden in Audio dokumentiert, 121 auf Video und 133 schriftlich verfasst. Daneben existieren weitere 254 Fälle, die noch bewertet werden müssen. "Die strukturierte Analyse der Foltervorwürfe unter Anwendung des Istanbul-Protokolls (2) kommt zu dem Schluss, dass die Bewertungen insgesamt glaubwürdig sind, nachdem psychologische und medizinische Faktoren ausgewertet wurden", stellt das IVAC fest. Das Istanbul-Protokoll (kompletter Titel: Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe) ist der Standard der Vereinten Nationen für die Begutachtung von Personen, die den Vorwurf erheben, gefoltert oder misshandelt worden zu sein, für die Untersuchung von Fällen mutmaßlicher Folter und für die Meldung solcher Erkenntnisse an die Justiz und andere Ermittlungsbehörden.

Minderjährige eingeschlossen

Während der vollständige Bericht noch aussteht, fällt eine weitere aussagekräftige Tatsache auf: dass sich unter den Opfern von Isolationshaft, die in den meisten Fällen zu Folter führte, auch Minderjährige befinden. Das IVAC gibt einen Prozentsatz von 2,5% der Festgenommenen an, die unter 18 Jahre alt waren. Wendet man diese Zahl auf die insgesamt 676 Personen an, die in der Zeit nach 1979 gefoltert wurden, so ergibt sich eine Zahl von 17 minderjährigen Opfern dieser Praxis. Die Altersgruppe, in der die meisten Verhaftungen und Folterungen durchgeführt wurden, ist die der 21- bis 29-Jährigen, auf die mehr als die Hälfte der erfassten Fälle (54,4%) entfällt.

Das Team des bekannten Anthropologen und Gerichtsmediziners Paco Etxeberria fügt in seiner Zusammenfassung die Feststellung hinzu, dass “die Geißel Folter“ nicht gerichtlich bekämpft wurde. Das Team weist auch darauf hin, dass sich von den zehn europäischen Verurteilungen des spanischen Staates wegen unterlassener Ermittlungen in Sachen Folter fünf auf Fälle in Navarra mit insgesamt sechs Opfern beziehen.

Ein ganzes Bild, wenn auch unvollständig

nafo03Mit dieser Arbeit wird die offizielle Anerkennung der Folter durch die Institutionen des Baskenlandes vervollständigt, nachdem die Regierung von Euskadi bereits im Dezember 2017 einen ähnlichen Bericht (vom gleichen Team und mit der gleichen Methodik) abgesegnet hatte. In dieser ersten Fassung wurden 4.113 Fälle von Folter genannt, wobei die Zahl mit nachfolgenden Informationen gestiegen ist. Andere Organisationen, die sich mit diesem Thema befassen, wie die Stiftung Euskal Memoria, haben vor fünf Jahren sogar 5.657 Fälle überprüft und dokumentiert. Klar ist, dass viele Folterfälle, vor allem aus den 1960er oder 1970er Jahren, durch den Tod der Opfer und den Verlust von Dokumenten in Vergessenheit geraten sind. Dazu kommen Opfer, die nicht mehr über ihr Leiden sprechen wollen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

Juristische Hindernisse überwunden

Der Prozess in Navarra hat sich über mehrere Jahre hingezogen. Zunächst aufgrund der Blockade der von der UPN geführten Regierung bis 2015 und dann aufgrund von gerichtlichen Hindernissen. So hob der Oberste Gerichtshof von Nafarroa 2019 den Zuschuss in Höhe von 30.000 Euro an das IVAC für diese Studie auf, nachdem er von der Staatsanwaltschaft dazu aufgefordert worden war. Auch das Gesetz zur Anerkennung von Opfern staatlicher Gewalt wurde blockiert – beide Fragen sind inzwischen geklärt. Eine offizielle Studie steht nun also zur Verfügung, ebenso die Möglichkeit, den Opfern eine Wiedergutmachung zukommen zu lassen über die derzeit in Arbeit befindliche Verordnung, die dem Bericht folgen wird.

In dieser letzten Phase hat sich die Forderung nach offizieller Anerkennung durch die Arbeit des “Netzwerks der Gefolterten in Navarra“ vervielfacht. Dieses Netzwerk führte einen direkten Dialog mit der Regierung und dem Parlament Navarras, sowie verschiedenen sozialen Akteuren, um das Bewusstsein für dieses seit vielen Jahren anhängige Thema zu schärfen. Das Netzwerk den Bericht mittlerweile öffentlich bewertet.

Die offizielle Anerkennung von Folter durch staatliche Beamte beinhaltet ein weiteres Novum, da sie von einer von der sozialdemokratisch geführten Regierung übernommen wurde (die PSN mit María Chivite an der Spitze ist der regionale Ableger der in Madrid regierenden PSOE von Pedro Sanchez). Es soll daran erinnert werden, dass die PSE-Führung (Euskadi-Ableger der PSOE) 2017 sehr zurückhaltend reagierte, als der Folter-Bericht im Parlament vorgelegt wurde, erst im Laufe der Jahre änderte sie ihre Haltung.

Verletzung der Menschenrechte sichtbar gemacht

Die Senatorin Ana Ollo (Geroa Bai) betonte "den Wert eines Berichts, der von einem hochqualifizierten Forschungsteam erstellt wurde und der eine massive Verletzung der Menschenrechte sichtbar macht, die in den letzten Jahrzehnten in Navarra stattgefunden hat". Sie sprach von einem "notwendigen Bericht, der als Instrument zur Unterstützung der Anerkennung von Opfern rechtsextremer Gruppen oder Amtsträger dienen soll, der noch offen ist und der innerhalb der Kommission für Anerkennung und Wiedergutmachung (Gesetz 16/2019) über die Anerkennung und Wiedergutmachung von Opfern politisch motivierter und rechtsextremer Gewalt durchgeführt wird".

Ana Ollo erinnerte daran, dass "internationale Organisationen in ihren Berichten seit Jahren ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht haben, dass Folter mehr als nur eine sporadische und gelegentliche Praxis war". Der nun vorgelegte Bericht "bestätigt, worauf diese Organisationen nachdrücklich hingewiesen haben". In diesem Zusammenhang wies sie auf die verschiedenen "verurteilenden Urteile des Obersten Gerichtshofs und die gegenteiligen Entscheidungen des Ausschusses der Vereinten Nationen gegen Folter" für Fälle von Folter in Spanien hin. Für Ana Ollo ist das Dokument "ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Aufklärung von Menschenrechts-Verletzungen in Navarra. Es ist wichtig, die Vergangenheit kritisch zu betrachten, ohne zu vergessen, ohne zu verdrängen. Denn wenn wir von Menschenrechten sprechen, müssen wir die Rechte aller berücksichtigen".

Strategiewechsel

Die Anerkennung von staatlich praktizierter Folter in einem von einer spanischen Partei regierten Region stellt tatsächlich einen Paradigmenwechsel dar. Denn bisher hatten sich die PSOE (und ihre Regional-Abteilungen) ebenfalls an die Devise von der von ETA angestifteten Folter-Lüge gehalten. Nach dem Präzedenzfall Nafarroa bleiben nur noch die Postfranquisten der PP und die Neofranquisten von Vox bei der Negationshaltung. Doch auch bei den Sozialdemokraten bleiben Reste der gezielten Falsch-Interpretation. Der augenblickliche Innenminister Grande Marlaska (soeben wegen Dutzenden von toten Migranten in Melilla in Frage gestellt) ignorierte in seiner Funktion als Untersuchungsrichter an der Audiencia Nacional jahrelang Folteranzeigen, die teilweise später zu EU-Verurteilungen führten.

Istanbul Protokoll

nafo04Folter, wenn sie nicht direkte körperliche Spuren hinterlässt, ist schwer nachweisbar oder beweisbar. Vor allem, wenn sie nicht umgehend angezeigt werden kann, was im spanischen Staat durch eine mehrtägige und verlängerbare Kontaktsperre verhindert wird. Auf dieser Basis bezeichnete die spanische Justiz die vielfachen Foltervorwürfe von aus politischen Gründen Verhafteten immer als Lüge. ETA selbst habe die Parole ausgegeben, falsche anzeigen zu machen, ob dem Image der spanischen Justiz zu schaden. Entsprechende Anzeigen wurden direkt abgewiesen, nie gab es Untersuchungen. Nach Klagen von Folter-Betroffenen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde die spanische Justiz mehrfach verurteilt.

Was bleibt ist die schwierige Beweislage für Foltervorwürfe. Doch einen Foltervorwurf zu erheben ist nicht gleichzusetzen mit einem Vorwurf der Sachbeschädigung. Erlittene Folter hinterlässt, wenn schon keine physischen, dann doch psychologische Spuren. Darauf baut das Istanbul Protokoll. Entwickelt wurde ein psychologisches Untersuchungs-Konzept, das die Psycho-Folgen aufspürt und falsche Beschuldigungen ausschließt.

Das Istanbul-Protokoll zeigt die aktuellen Möglichkeiten zum Nachweis von Folterspuren auf und unterscheidet dabei zwischen der Diagnostik körperlicher Symptome an Haut, Gesicht, Zähnen, Brust, Bauch, Muskulatur, Skelettsystem, Urogenitaltrakt und Nervensystem infolge unterschiedlicher Formen von Misshandlung und dem Nachweis ihrer seelischen Folgen. Geschichte: Die zu den Mitglieds-Organisationen des International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT) zählende Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TIHV) ergriff im März 1996 die Initiative zu einer einheitlichen Richtlinie nach einem internationalen Symposium “Medizin und Menschenrechte“, das die türkische Ärztekammer in Adana veranstaltet hatte. (2)

An dem Protokoll arbeiteten 75 Ärzte, Psychotherapeuten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler, die zusammen vierzig Organisationen aus fünfzehn verschiedenen Ländern repräsentierten. Im August 1999 übergaben sie der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, das fertig ausgearbeitete Istanbul-Protokoll. Zu den zahlreichen Autoren zählen u. a. Amnesty International, Human Rights Watch, das Internationale Rote Kreuz, Physicians for Human Rights, das Lawyers Committee for Human Rights, das Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin sowie weitere Therapiezentren in Südafrika, Chile und den USA, verschiedene universitäre Institute, die türkische, dänische, britische, indische und deutsche Ärztekammer sowie der Weltärztebund, und nicht zuletzt das IRCT.

Mitte 2004 wurde das Istanbul-Protokoll im Rahmen der “UN’s Professional Training Series“ (UN-Seminare zu beruflicher Bildung) im Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte als Handbuch zur effektiven Untersuchung veröffentlicht und ist mittlerweile in mehreren Sprachen verfügbar. Das Handbuch richtet sich vor allem an Anwälte und Mediziner, die auf der juristischen und der medizinischen Ebene den Nachweis von Folter führen wollen. Zusätzlich stellt das Handbuch eine Reihe von Standards zur Untersuchung von Folterfällen auf, so zum Beispiel mit Bezug auf die Gesprächsführung mit Überlebenden und Zeugen, die medizinische Berufsethik, die Auswahl von Untersuchern, zum Zeugenschutz, zum Umgang mit Täteraussagen und zur Einsetzung von Untersuchungskommissionen. (2)

ANMERKUNGEN:

(1) Information aus: “La práctica masiva de la tortura, reconocida oficialmente en Nafarroa: 1.068 casos” (Die massive Folter-Praxis, offiziell anerkannt in Nafarroa: 1.068 Fälle), Tageszeitung Gara, 2023-01-09 (LINK)

(2) Istanbul-Protokoll, Wikipedia (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Folter-Kommission (naiz)

(*) Internet

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-01-11)

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