Proteste gegen lebenslange Haft
Etwa 1.700 Menschen haben sich am vergangenen Samstag (23.07.2022) an einem Dutzend strategischer Punkte in Iparralde (französisches Baskenland) versammelt, um in Form von "zivilem Ungehorsam" gegen die Politik des französischen Staates gegenüber den dort einsitzenden ETA-Gefangenen zu protestieren. Insbesondere gegenüber den Gefangenen Jakes Esnal und Ion Kepa Parot, die seit 32 Jahren inhaftiert und inzwischen im fortgeschrittenen Alter sind. Die Polizei nahm 26 Protestierende vorläufig fest.
Eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung fordert die Freilassung zweier Langzeit-Gefangenen. Dafür kam es im französischen Baskenland zu zahlreichen Blockaden und zivilem Ungehorsam.
Die Aktionen waren schon länger angekündigt, die Aufrufe stammen von den Gruppen Bake Bidea und Artesanos de la Paz (Weg zum Frieden / Friedens-Handwerker). Zu den Aktionen zivilen Ungehorsams gehörten unter anderem die Blockade der Autobahn A63. Auch der Flughafen von Biarritz musste kurzfristig seinen Betrieb einstellen, nachdem Aktivist*innen die Zäune überklettert und auf die Startbahn gelaufen waren. Landwirte blockierten mit Schleppern und Anhängern viele Landstraßen, jüngere Leute zementierten sich die Arme in Ölfässern und sperrten weitere Verbindungswege.
Antwort auf Justiz-Blockade
Nach Angaben der Organisator*innen waren mindestens vier TGV-Schnell-Züge betroffen sowie viele wichtige Verkehrs-Knotenpunkte in dreizehn Ortschaften. Sie hatten die Bevölkerung im Vorfeld aufgerufen, auf unnötige Verkehrsbewegungen zu verzichten, um nicht auf den Straßen hängen zu bleiben. Der General-Koordinator von EH Bildu, Arnaldo Otegi, unterstützte die Aktionen und sprach seinen Wunsch aus, dass Esnal und Parot bald "nach Hause" zurückkehren. Auch Sortu, die wichtigste Partei der Bildu-Koalition, hat die Blockade-Aktivitäten den ganzen Tag über ausdrücklich unterstützt.
Die beiden aufrufenden Organisatoren versicherten, dass sie auf die "juristische und politische Blockade des Friedensprozesses mit einer geografischen Blockade" antworten, um anzuprangern, dass die französische Staatsanwaltschaft sich der vorläufigen Freilassung der beiden "kranken" Gefangenen widersetzt. Jakes Esnal und Ion Kepa Parot wurden in Frankreich, wo sie bereits 32 Jahre verbüßt haben, wegen ihrer (angeblichen) Beteiligung an mehreren ETA-Anschlägen zu lebenslanger Haft verurteilt. Dazu gehört der Angriff auf die Kaserne in Saragossa, bei dem 11 Armee-Angehörige (darunter mehrere Kinder) getötet und mehr als 80 verletzt wurden. Die Angehörigen-Organisation Etxerat (bask: Nach Hause) dehnt die Freilassungs-Kampagne auch auf Ion Kepas jüngeren Bruder Henri Unai Parot aus (64 Jahre alt), der ebenfalls seit 1990 inhaftiert ist.
Ultrarechte Antwort
Die ultrarechte Vereinigung der Terrorismusopfer, Covite, forderte vor der Aktion die Behörden auf, "die Blockade" zu verhindern, da dieser Aufruf bedeute, dass "das öffentliche Leben durch Gewalt und Einschüchterung nach den Interessen von zwei pro-terroristischen Organisationen geprägt" werde. “Friedens-Handwerker“ und “Weg zum Frieden“ wurden als “allmächtige, totalitäre und gewalttätige“ Gruppen bezeichnet – nichts ist weiter von der Realität entfernt. Vielmehr trübt nackter politischer Hass den nüchternen Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse. Ginge es nach Covite, wäre bereits gestern die Todesstrafe wieder eingeführt worden.
Die aufrufenden Organisationen haben seit ihrer Gründung keinen Zweifel an ihrer gewaltfreien Haltung gelassen. Selbst unverdächtige Politiker wie der christdemokratische Bürgermeister von Baiona (frz: Bayonne), Jean René Echegaray machen sich die Forderung zu eigen, dass zehn Jahre nach dem Ende des bewaffneten Kampfes von ETA die Situation der Gefangenen und in den Gefängnissen einer Änderung bedarf.
Breite Beteiligung
Die Proteste waren geprägt von der Beteiligung vieler älterer Aktivist*innen, Familienangehörigen, Freund*innen und jüngeren Unterstützer*innen der Gefangenen. Sie sangen Widerstandslieder und tanzten, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen: Euskal Presoak Etxera (Baskische Gefangene zurück nach Hause). Auch wenn der spanische und der französische Staat das Baskenland durch ihre Grenzen trennen, zeigten die vielfältigen Aktionen den Zusammenhalt der baskischen Bewegung über die Grenzen hinweg. Sowohl auf der Autobahn als auch im Gleisbett ketteten sich mehrere Aktivist*innen an Betonklötze und legten so von 10 bis 16 Uhr den Verkehr lahm. (2)
Veto der Staatsanwaltschaft
Ion Kepa Parot und Jakes Esnal sind beide 71 Jahre alt und gehören zu den aktuell noch etwa 150 politischen Gefangenen aus dem Baskenland (in Iparralde und Hegoalde eingesperrt). Beide haben gesundheitliche Probleme. Im Fall von Ion Kepa Parot fand am 13. Mai vor dem Strafvollstreckungs-Gericht in Paris (TAPAT) die Anhörung zu seinem sechsten Antrag auf bedingte Entlassung statt. Die Antiterror-Staatsanwaltschaft argumentierte, für die Freilassung des 71-jährigen, seit mehr als 32 Jahren inhaftiert, sei es zu früh. Nach drei anfänglichen Ablehnungen hatte das TAPAT im März 2013 zum ersten Mal zugunsten einer bedingten Freilassung von Parot entschieden, der damals 22 Jahre inhaftiert war. Das Sondergericht knüpfte die Freilassung an Bedingungen: elektronische Fußfessel, einjährige Unterbringung in der Picardie im Norden des Landes und ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot in Iparralde. Doch die Staatsanwaltschaft legte sofort Einspruch ein, nun steht eine neue Revision an.
Der Bewährungsantrag von Jakes Esnal, der im Dezember 72 Jahre alt wird und ebenfalls mehr als 32 Jahre im Gefängnis war, wurde 2018 eingereicht. Zwei Jahre später wurde sein Antrag auf Freilassung zunächst gerichtlich genehmigt, doch die Staatsanwaltschaft legte auch gegen diese Entscheidung Berufung ein. Später entschied der Kassations-Gerichtshof erneut zugunsten des Gefangenen aus Ziburu, doch trotz dieser beiden Urteile zugunsten seiner Freilassung argumentierte die Staatsanwaltschaft, dass die Stellungnahme des Nationalen Bewertungszentrums (CNE) fehle. Dies stellte sich als Verzögerungsmanöver heraus, als der Oberste Gerichtshof im März 2022 entschied, dass es nicht unbedingt erforderlich ist, dass dieses Gremium eine Entscheidung trifft. Vielmehr reiche es aus, wenn die Multidisziplinäre Kommission für Sicherheitsmaßnahmen (CPMS) dies mache. Der CPMS hatte bereits im Jahr 2020 eine Stellungnahme zugunsten der Freilassung von Esnal abgegeben, doch bei der letzten Anhörung wurde ein neuer Antrag gestellt, um die Stellungnahme der genannten Kommission einzuholen. (3)
Reaktion der Zivilgesellschaft
Angesichts dieser juristischen Blockade hatte die Volks-Bewegung der französischen Regierung vor zwei Monaten ein Ultimatum gestellt, was letztere ohne Reaktion verstreichen ließ. Deshalb kam es nun zu den beschriebenen zahlreichen Protestaktionen. Denn Esnal und Parot befinden sich weiterhin im Gefängnis. Am 22. September 2022 wird die höchste richterliche Instanz des französischen Staates über ihre Zukunft entscheiden, danach gibt es keine Möglichkeit der Revision mehr. Bis dahin hat die Bewegung weitere Aktionen angekündigt, um den Druck zu erhöhen, da die französische Regierung seit vielen Jahren eisern bleibt. Ein ehemaliger, baskischer politischer Gefangener sagte dazu: "Die Richter hätten schon mehrmals die Freiheit unter bestimmten Bedingungen gestattet, wenn die französische Staatsanwaltschaft nicht immer wieder Einspruch erheben würde, was konkret bedeutet, dass die französische Regierung diese Gefangenen im Gefängnis behalten möchte bis sie sterben."
Bake Bidea wertet aus
Anaiz Funosas, Sprecherin von Bake Bidea: "Wenn der Gerichtshof Parot und Esnal nicht freilässt, werden wir mit größerer Intensität reagieren", in einem Radiointerview hob sie das Engagement der Bürger*innen bei den Blockaden hervor. "Wir haben Aufschwung. Wenn der Weckruf aus dem Baskenland am 22. September nicht gehört wird, werden wir stärker und intensiver reagieren", sagte Anaiz Funosas. An diesem Tag wird das Pariser Gericht seine Entscheidung über die bedingte Freilassung der baskischen Gefangenen Ion Kepa Parot und Jakes Esnal bekannt geben. "Wenn die Genehmigung nicht erteilt wird, werden wir weitermachen", betonte der Sprecher von Bake Bidea.
Bisher hat die französische Regierung nicht auf die Aktion des zivilen Ungehorsams reagiert. "Die einzige Antwort war die Nachricht des Präfekten, dass es keine Blockade gegeben habe", so Funosas. Am späten Samstag traf eine Delegation von Abgeordneten, darunter der Präsident des Baskischen Gemeinde-Verbands (und Baiona-Bürgermeister), Jean-René Etchegaray, Senator Frederic Espagnac und die Abgeordnete der Region Neu-Aquitaine, Emilie Dutoyam, mit dem Präfekten der atlantischen Pyrenäen, Eric Spitz, zusammen, um über die "Empörung" angesichts Situation der baskischen Gefangenen zu berichten.
Am Vorabend der Blockade hatte die Präfektur ein Verbot jeglicher Aktionen angekündigt, die die Kommunikationswege von Ipar Euskal Herria unterbrechen könnten. Laut Funosas wurde die Behörde jedoch von der hohen Beteiligung überrascht: " Auf einen solchen Tag waren sie nicht vorbereitet. Als sie merkten, was in diesen Wochen von Menschen aus verschiedenen Gebieten geleistet wurde, was all diese Bündnisse bedeuteten, schlugen sie hart zu, so dass wir die Dinge nicht ganz so machen konnten, wie wir wollten". Sie versicherte: "Wir waren nicht da, um die Leute zu ärgern, sondern um eine klare Botschaft zu senden: In Ipar Euskal Herria werden wir nicht zulassen, dass die Zukunft auf Rache aufgebaut wird". (4)
ANMERKUNGEN:
(1) “26 arrestados en las protestas contra la política de Francia hacia los presos de ETA” (26 Verhaftungen bei Protesten gegen Frankreichs Politik gegenüber ETA-Gefangenen), El Diario, 2022-07-23 (LINK)
(2) “Tausende Aktivist*innen legen das nördliche Baskenland lahm“, Indymedia, 24.07.2022, Medienkollektiv Bostok. Die Information, dass es bei den Aktionen um drei Gefangene ging, ist nicht richtig. Über andere Mobilisierungen (z.B. Juni 20022) dehnt die Angehörigen-Organisation Etxerat (bask: Nach Hause) die Freilassungs-Kampagne auch auf Ion Kepas jüngeren Bruder Henri Unai Parot aus (64 Jahre alt), der ebenfalls seit 1990 inhaftiert ist. Bei den jetzigen Aktionen ging es ausschließlich um Jakes Esnal und Ion Kepa Parot. (LINK)
(3) “Todas a Baiona por la libertad de Ion, Jakes y Unai” (Alle nach Bayonne für die Freiheit von Ion, Jakes und Unia), Angehörigen-Organisation Etxerat, 2022-06-06 (LINK)
(4) "Funosas Si el Tribunal no libera a Parot y Esnal, responderemos con más intensidad" (Funosas Wenn der Gerichtshof Parot und Esnal nicht freilässt, werden wir mit größerer Intensität reagieren), Naiz, 2022-07-25, (LINK)
ABBILDUNGEN:
(*) Iparralde (eldiario.es)
PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-07-26)