Auf Harrisburg folgt Navarra
Vor 41 Jahren, am 3. Juni 1979, wurde die Öko-Aktivistin Gladys del Estal bei einem Anti-Atomkraft-Aktionstag in Navarra von einem Guardia-Civil-Polizisten aus nächster Nähe erschossen. Ein Gericht in Pamplona verhängte gegen den Polizisten eine Haftstrafe von 18 Monaten, die er jedoch nie antrat. Kurze Zeit danach wurde der Täter mit einem Verdienstkreuz ausgezeichnet. Gladys del Estal wurde zu einem Symbol für die Umweltbewegung – ihr Tod zu einem weiteren Beispiel für die Straflosigkeit der Polizei.
Bei einer friedlichen Anti-AKW-Protestaktion in Navarra wurde die Ökologie-Aktivistin Gladys del Estal von einem Polizisten erschossen. Die aus Venezuela stammende Frau wurde zu einem Symbol der in jener Zeit entstehenden baskischen Ökologie-Bewegung.
Vorgeschichte
28. März 1979, vier Uhr morgens auf Three Mile Island, einer Insel im Susquehanna River in der Nähe von Harrisburg, Pennsylvania, im Nordosten der Vereinigten Staaten. Ein Versagen im Sekundärkreislauf des Kernkraftwerks verursacht einen “ernsten Unfall“ der Kategorie 5 auf der Internationalen Nuklear-Unfall-Skala (INES), die AKW-Unfälle in sieben Kategorien einteilt. Nur der “größte anzunehmende Unfall“ (GAU) von Tschernobyl am 26. April 1986 wurde von Experten bislang in die höchste Kategorie (“katastrophaler Unfall“) eingestuft. Die partielle Kernschmelze, die sich im TMI-2-Reaktor der Anlage von Harrisburg vollzog, hatte in 6.000 km Entfernung einen indirekten Einfluss auf das dortige Geschehen und auf das tödliche Schicksal der 23-jährigen Umweltaktivistin Gladys del Estal. Sie wurde am 3. Juni desselben Jahres in Tutera (spanisch: Tudela, im Südosten Navarras) während des internationalen Aktionstages gegen Kernenergie von dem Guardia-Civil-Polizisten José Martínez Salas aus nächster Nähe erschossen.
Der Unfall von Harrisburg war eine der wesentlichen Ursachen für die Aktivierung der Anti-Atomkraft-Bewegung in Europa. Im spanischen Staat hatte sie sich bereits seit Jahren als Speerspitze der Umweltschutz-Bewegung entwickelt, in Opposition zum Energieplan von 1975, der den Bau von 25 Atomkraftwerken vorsah. Vier dieser AKWs sollten im Baskenland gebaut werden: Lemoiz und Ispaster in Bizkaia, Deba in Gipuzkoa und Tutera in Navarra. “Es wurde vereinbart, dezentrale Demonstrationen in ganz Europa durchzuführen“, erinnert sich der Öko-Aktivist Sabino Ormazabal. (1)
In Tutera war es nicht allein der Anti-Atomkraft-Protest, der von den baskischen Anti-Atomkraft-Komitees und der Versammlung zur Verteidigung der Umwelt im Süden Navarras (ADMAR) organisiert wurde. Der Mobilisierung schlossen sich auch Gruppen an, die gegen den seit 1951 in der Nähe gelegenen Militärschießplatz kämpfen. “An jenem Sonntag war zum Protest aufgerufen worden und mehrere tausend Atomkraft-Gegner versammelten sich an dem Ort, an dem das Kraftwerk gebaut werden sollte“, erklärt Ormazabal, der sich genau an den Wortlaut des Plakats erinnert: "Zentral nuklearrik ez / Fuera yankis de las Bardenas" (AKW nein / Yankees raus aus den Bardenas). (2) Das im Süden Navarras liegende Gebiet, Erribera genannt, stand an der Spitze der ökologischen Bewegung, an diesem Tag fuhren Reisebusse aus dem ganzen Baskenland in die Hauptstadt Tutera. Einer dieser Busse war von Gladys del Estal organisiert worden.
Tochter von Kriegsflüchtlingen
Gladys wurde 1956 in der venezolanischen Hauptstadt Caracas geboren, zwanzig Jahre nachdem ihre Eltern nach dem Sieg der Franquisten im Krieg von 1936 ins Exil gehen mussten. Ihr Vater, Enrique del Estal, hatte sich zur Verteidigung der Republik freiwillig der in aller Eile zusammengestellten baskischen Armee Euzko Gudarostea angeschlossen und trat später auf eigene Initiative dem sozialistischen Bataillon Meabe bei. Nachdem er den Schrecken der franquistischen Konzentrationslager erlebt hatte, beschloss er, nach Caracas zu gehen. Dort traf er Eugenia Ferreño, die ihre Heimat verlassen hatte, weil sie verfolgt worden war. Sie stand auf der Liste der Geldgeber für die Unterstützung der kommunistischen Zeitung “Euzkadi Roja“ (rotes Baskenland). Beide beschlossen 1960, nach Donostia-San Sebastian zurückzukehren. Sie ließen sich im Stadtteil Egia nieder, wo Tochter Gladys del Estal voll und ganz in die Öko- und Nachbarschafts-Bewegung eingebunden war.
“Was auch immer sie tat, sie tat es mit großem Engagement, und mit einer gewissen Neigung zum Sarkasmus, der ernsthafte Menschen auszeichnet“, erinnert sich Rafa Aldai. Er hatte Gladys an einer Schule für Erwachsene kennengelernt, einer sozialen Initiative, an der beide Mathematik unterrichteten. Er studierte Physik und sie Chemie; er war Mitglied der Bewegung der Kriegsdienst-Verweigerer aus Gewissensgründen (MOC), und sie war Mitglied des Umwelt-Kollektivs von Egia. “Der Kampf gegen Atomkraft und die gewaltlose Aktion waren in beiden Gruppen präsent“, sagt er.
Dieser verfluchte Tag
Der einzige Standort, an den tatsächlich schon seit Jahren gebaut wurde, war Lemoiz in Bizkaia (span: Lemoniz). Dort war es bereits zu Massen-Demonstrationen mit mehr als 100.000 Menschen gekommen, Aktivisten führten laufend Sabotage-Aktionen durch. Dazu hatte sich ETA in den Kampf gegen das AKW eingeschaltet, was in der sich formierenden Anti-AKW-Bewegung zum Teil auf Ablehnung stieß.
Die Veranstaltung in Tutera war Teil eines internationalen Anti-Atomkraft-Protests, der als Antwort auf den Unfall in Harrisburg am 3. Juni 1979 weltweit organisiert wurde. Nach dem Kalkül der Organisationsgruppe wurden in Tutera etwa 6.000 Personen erwartet. Die Aktivitäten, die um 11 Uhr morgens beginnen sollten, begannen mit mehr als zwei Stunden Verspätung. Obwohl für alle geplanten Aktivitäten Genehmigungen vorlagen, hatten Mitglieder der Guardia Civil an den Zufahrtsstraßen Kontrollen eingerichtet. “Anstatt die Busse in den Ort fahren zu lassen, mussten wir wenden und auf die andere Seite des Ebro-Flusses fahren, 50 Kilometer Umweg“, erklärt Ormazabal.
Die ersten Kommunalwahlen nach Francos Tod waren in Navarra am 3. April abgehalten worden, und mehrere Gemeinderäte der Region hatten die Auflösung des Militär-Schießplatzes und den Stopp der Atomkraftwerks-Projekte gefordert. Zu gleicher Zeit arbeitete eine Gruppe baskischer Politiker an einem Bericht über den Unfall von Harrisburg, der Abgeordnete von Euzkadiko Ezkerra, Javier Olaverri Zazpe (3), sollte um vier Uhr nachmittags einen Vortrag halten. Gegen viertel nach vier, erinnert sich Ormazabal, erschienen ein Bus und drei Geländewagen der Polizei auf dem Festgelände. Den Chroniken zufolge kamen der stellvertretende Bürgermeister Antonio Bueno, der Präsident von ADMAR, Facundo Salcedo (4) und andere Personen zu einem Gespräch mit dem Leutnant, der für das Polizei-Kontingent zuständig war. Der Kommandant befahl, auf die Protestierenden einzuprügeln. “Es war unmöglich, sich zu verstecken, das Gelände war offen und es gab auch Familien mit Kindern“, beschreibt Ormazabal.
“Die Polizei versperrte den Zugang in die Stadt und forderte alle Anwesenden auf, zu ihren Reisebussen zu gehen. Aus Protest setzte sich eine Gruppe von Leuten auf eine Brücke, die sich zwischen dem Festplatz und den Busparkplätzen befand. Ich hörte wie sie ihre Waffen entsicherten“. Laut Aldai, der an der Sitzblockade teilnahm, waren es drei Polizisten. “Wir hatten einen Aktionsplan, aber wir sahen, dass sie in äußerst aggressiver Haltung auf uns zukamen“, führt er aus. Was danach genau passierte ist unklar. Aber Ormazabal erinnert sich, dass einer der Polizisten, Martínez Salas, auf Gladys einschlug, als sich ein Schuss löste und sie im Nacken traf“. Der Körper der jungen Frau kippte auf die Straße. “Sie ließen sie einfach tot dort liegen. Sie wurde tot ins Krankenhaus gebracht“, ergänzt Ormazabal.
Protestwelle
Eine Welle der Wut breitete sich im ganzen Baskenland aus, es kam zu zahlreichen Protesten. Gladys Tod bedeutete eine weitere Tragödie in einem Baskenland, das in den letzten Jahren einer konstanten Folge polizeilicher Gewalt-Exzesse ausgesetzt war. Der Gemeinderat von Tutera rief in einer dringenden Plenarsitzung zu zivilem Ungehorsam und zu einem zweitägigen Generalstreik auf, der in Navarra und anderen baskischen Regionen breite Unterstützung fand. “Die Wut war total, wir wollten die Situation anprangern. In Donostia besetzte die Polizei das Viertel Egia, um jeglichem Protest Einhalt zu gebieten“, erinnert sich Aldai. Nach der Beerdigung der Aktivistin kam es zu größeren Unruhen, in Iruñea-Pamplona wie in vielen anderen Orten.
Inmitten der Barrikaden, Verhaftungen, Demonstrationen und Solidaritätsaktionen, die sich in ganz Europa ausbreiteten, machte der Zivilgouverneur von Navarra, Eduardo Ameijide seine Version öffentlich: “Ein Demonstrant griff im Rücken des Polizisten nach dessen Waffe (...) in der Absicht, sie ihm wegzunehmen. Während dieses Gerangels löste sich ein Schuss und traf Gladys del Estal“.
Verurteilung und Auszeichnung
Im Dezember 1981 verurteilte ein Gericht in Iruñea (Pamplona) den Todesschützen Martínez Salas zu 18 Monaten Gefängnis. Das Urteil wurde am 15. Januar 1984 vom Obersten Gerichtshof in Madrid bestätigt. In der Urteilsbegründung wird der Polizist für ein Verbrechen “Unbewusster Fahrlässigkeit mit Todesfolge“ verantwortlich gemacht. Zum Vergleich: Ein mallorquinischer Ökoaktivist wurde in jenen Jahren zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er aus Protest gegen den Tod der jungen Frau ein Transparent aufgehängt hatte.
Martinez Salas wurde im Frühjahr 1982 mit dem Verdienstorden des Korps der Guardia Civil in der Kategorie “Kreuz mit weißem Abzeichen“ ausgezeichnet. Dies geht aus einer Resolution vom 15. Februar 1982 hervor, die am 29. März desselben Jahres im staatlichen Amtsblatt BOE (Boletín Oficial del Estado) veröffentlicht wurde. Die Resolution wurde vom Unterstaatssekretär des Innenministeriums Juan José Izarra del Corral unterzeichnet, einem Politiker mit einer langen Karriere und einer Vielzahl von Ämtern, sowohl während der Franco-Diktatur als auch in späteren Phasen der UCD (Unión de Centro Democrático, Regierungspartei von 1977-1982) und der PP (Partido Popular). Sein Name steht in Verbindung mit dem tödlichen Anschlag, der 1980 von paramilitärischen Elementen in der Gaststätte Monbar in Hendaia (frz: Hendaye) verübt wurde. (5)
Im Jahr 1992 wurde dem Mörder von Gladys Del Estal ein weiteres Kreuz verliehen - für militärische Verdienste - weshalb der damalige Innenminister José Luis Corcuera im Abgeordnetenhaus eine Erklärung abgeben musste. Er ließ verlauten, dass der Guardia Civil seine Strafe bereits verbüßt habe und “rehabilitiert“ sei. Tatsache ist, dass es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass Martinez Salas seine Strafe jemals angetreten hat.
Gladys in Erinnerung
Gladys del Estal wurde nie als Opfer staatlicher Gewalt anerkannt. Die baskische Gesellschaft hat sie jedoch nie vergessen. Während der vergangenen vierzig Jahre wurde von Umwelt- und antimilitaristischen Gruppen alljährlich an Gladys del Estal erinnert, sowohl in Navarra als auch im Park von Egia, der im Volksmund Gladys-Enea genannt wird. Zum vierzigsten Jahrestag wurde eine Vielzahl von Aktivitäten vorbereitet. “Wir nutzen den Anlass, um uns an das Geschehene zu erinnern. Andererseits wollen wir deutlich machen, dass die Forderungen, die damals gestellt wurden, nach wie vor gültig sind“, betont Aldai. Mehr als 500 Personen nahmen an der von der Umwelt- und Anti-Atomkraft-Gruppe Eguzki und der Plattform “Gladys Gogoan“ organisierten Ehrung in Egia zum Gedenken an die junge Aktivistin teil. Zuvor war ein Fahrradkorso durch die Straßen von Donostia gezogen, um die nach wie vor bestehenden Forderungen der Umweltbewegung auf die Straße zu getragen.
Zudem wurde unter der Regie von Bertha Gaztelumendi ein Dokumentarfilm gedreht, der am 12. Dezember 2019 im Teatro Principal in Donostia-San Sebastian erstmals vorgestellt wurde. Der Film tragt den Titel “Ez, eskerrik asko! Gladysen leihoa“ (Nein danke! Gladys‘ Fenster).
ANMERKUNGEN:
(1) Alle Zitate stammen aus dem Artikel “40 años de aquella lucha por la vida que acabó en muerte” (40 Jahre nach jenem Kampf für das Leben, der mit dem Tod endete), Autor Ibai Azparren, Tageszeitung Gara vom 3. Juni 2019. Der Artikel wurde ergänzt durch Informationen bezüglich der Auszeichnungen des Todesschützen aus einem Artikel von Urko Apaolaza, erschienen in baskischer Sprache in der Zeitschrift Argia am 31.03.2019.
(2) Bardenas ist eine 42 Hektar umfassende wüstenartige Gegend im Südosten Navarras, die in einem Verbund von 22 Gemeinden verwaltet wird. Im Zentrum dieses Naturparks befindet sich ein von der Luftwaffe genutztes, abgeschottetes Militärgelände von 2.244 Hektar. Darin werden nach Angaben des Luftwaffen-Kommandos Schießübungen und Abwürfe mit Übungsbomben durchgeführt, die keinen Sprengstoff enthalten. Dagegen erklärt der Sprecher des Plenums “Anti-Militärgelände“, Milagros Rubio, dass mindestens einmal im Jahr Übungen mit geladenen Bomben stattfinden. Dieses Gelände wurde 1951 mit der Unterzeichnung eines Pachtvertrags über 25 Jahre zwischen dem franquistischen spanischen Staat und dem Bardenas-Verbund in Betrieb genommen. Die erste Verlängerung umfasste die Jahre 1976 bis 2001, die wiederum bis 2008 verlängert wurde und seitdem immer um weitere zehn Jahre verlängert werden kann.
(3) Euskadiko Ezkerra (EE, Baskisch: Baskische Linke) war eine Partei links-nationalistischer Ausrichtung, die 1977 als Wahlplattform gegründet und im selben Jahr zu den ersten allgemeinen Wahlen nach Franco in den baskischen Provinzen Alava, Gipuzkoa, Bizkaia und Navarra antrat. Nach internen Richtungs-Diskussionen und Abspaltungen vereinigte sie sich im Jahr 1993 mit der baskischen Variante der Sozialistischen Partei Spaniens PSOE unter dem Namen “Partido Socialista de Euskadi-Euskadiko Ezkerra“ (PSE-EE).
(4) ADMAR: “Asamblea para la Defensa del Medio Ambiente de la Ribera” (ADMAR)– Versammlung zur Verteidigung der Umwel in La Ribera (LINK)
(5) Artikel “Das Monbar-Attentat 1985 – Todesschwadrone in Iparralde aktiv” (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Gladys del Estal
(2) Tutera – Tudela (wiki)
(3) Gladys (gerinda.bai)
(4) Gladys (eguzkia)
(5) Bardenas (sendaviva)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-04-23)