Von Guinea nach Irun
Die Suche nach seinem kleinen Bruder führt Ibrahima Baldé aus seinem Heimatort in Guinea nach Irun in Gipuzkoa, an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich. Hier begegnet er dem Bertsolari-Sänger und Schriftsteller Amets Arzalluz, mit dem er Freundschaft schließt und seine Lebensgeschichte erzählt: von Ausbeutung, Gewalt und Einsamkeit. Im vergangenen Jahr wurde in baskischer Sprache ein Buch daraus, das in Buchläden und Kultur Cafés vorgestellt wurde. Nun ist eine deutsche Version erschienen.
Das im Suhrkamp-Verlag herausgegebene Buch ”Kleiner Bruder. Die Geschichte meiner Suche“ handelt von Ausbeutung, Unsicherheit, Gewalt und Einsamkeit des jungen Migranten Ibrahima Baldé aus Guinea. Das Buch-Original “Miñan” (Susa-Verlag, 2019) stammt von Amets Arzalluz, für die deutsche Übersetzung sorgte Raul Zelik.
82,4 Millionen Menschen waren Ende 2020 aufgrund politischer Konflikte, Verfolgung und Menschenrechts-Verletzungen weltweit auf der Flucht, hat das UN-Flüchtlingskommissariat kürzlich mitgeteilt. Angesichts der vielen Konflikte und Kriege weltweit ist diese Zahl jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit zu niedrig angesetzt. Neu ist, dass das Flucht- und Migrations-Phänomen sich neuerdings auch in der Literatur widerspiegelt. Mit einer zunehmenden Zahl von Flüchtenden und Migrant*innen, die in Europa anlanden, verlieren diese niemals Touristen genannten Personen langsam ihre Anonymität, persönliche Schicksale werden bekannt, Fluchtgeschichten werden häufiger erzählt. Das Buch ”Kleiner Bruder. Die Geschichte meiner Suche“ ist ein sehr persönlicher, erschütternder Bericht über das Leiden junger Afrikanerinnen und Afrikaner auf ihrem lebensgefährlichen Weg nach Europa. (1)
Das Gemeinschaftswerk von Ibrahima Baldé und Amets Arzalluz hat eine bemerkenswerte Entstehungsgeschichte. Der Protagonist Ibrahima wollte eigentlich gar nicht nach Europa flüchten, sondern begab sich auf die Suche nach seinem verschwundenen jüngeren Bruder. Die folgende Odyssee bringt ihn dennoch bis nach Irun, in die Provinz Gipuzkoa, im Norden des spanischen Staates. Dort traf der damals 24-jährige Analphabet 2018 auf den baskischen Bertsolari und Schriftsteller Amets Arzallus (2) und erzählte ihm seine Lebensgeschichte. Der dreisprachige Arzalluz, der die traditionelle baskische Bertso-Reimsängerei praktiziert, bei der vor Publikum in Euskara gereimt, gesungen und improvisiert wird, schrieb diese bewegende Geschichte für Ibrahima auf.
Früher Tod des Vaters
“Ibrahima Baldé, 1994 in Guinea geboren, einem kleinen westafrikanischen Land mit einer Analphabeten-Rate von über 50 Prozent, hat die Schule nur kurz besucht. Nach dem Tod seines Vaters musste er für den Lebensunterhalt der Familie sorgen. Im Nachbarstaat Liberia lernt er als Junge, Lastkraftwagen zu reparieren. Als die Mutter erkrankt, kehrt er in sein Heimatdorf zurück und übernimmt als ältester Sohn die Verantwortung. Besonders wichtig ist ihm, dass sein kleiner, aufgeweckter Bruder Alhassane weiterhin die Schule besuchen kann. Doch nach drei Jahren ist der Bruder plötzlich verschwunden, meldet sich schließlich aus Libyen und sagt, er wolle nach Europa.” (1)
“Ibrahima erzählt von seinem Weg auf den Spuren seines Bruders über Guinea, Mali, Algerien bis nach Libyen. Er beschreibt die lebensgefährliche Durchquerung der Wüste, berichtet von menschenverachtender Ausbeutung, von Unsicherheit, Gewalt, Einsamkeit und Verzweiflung. Aber Ibrahima trifft auch immer wieder Menschen, die ihn mit ihren geringen Möglichkeiten unterstützen und stärken.”
Anklage gegen Rassismus
“Als jemand erzählt, dass Alhassane im Mittelmeer ertrunken sei, verliert Ibrahima jeglichen Lebensmut. Doch er findet Freunde, die ihn ermutigen, nicht aufzugeben. So landet er schließlich über Marokko in Spanien. Auf schlichte und doch poetische Art erzählt Ibrahima Baldé in eigenen Bildern von seinem Leben, seinen Vorstellungen, seiner Glaubenswelt. Er spricht über die ihm anerzogenen Werte, von seinem unglaublichen Leidensweg und versucht zu erklären, woher er die Kraft zum Überleben geschöpft hat.” (1)
Damit wird das von Ibrahima Baldé und Amets Arzalluz geschaffene kleine Buch vom “Kleinen Bruder” zu einer “kraftvollen Anklage gegen Rassismus, Menschenverachtung und gegen den durchorganisierten und brutalen Handel mit Menschenleben. Es geht unter die Haut und rüttelt auf – und endet glücklicherweise mit Ibrahimas Überleben und einem berührenden Gedicht.”
Ibrahima Baldé
Den heute 27 Jahre alten Ibrahima hat diese Migrations-Odyssee stark geprägt. Die Suche nach seinem kleinen Bruder wurde zur Reise von Guinea nach Europa, quer durch Afrika und die Sahara. Dabei erlebte er Armut, Folter, Ausbeutung, und die ganz besondere Erfahrung der Überquerung des Mittelmeers. Harte Erfahrungen, bevor er das Baskenland erreichte. Das baskisch-sprachige Buch “Miñán” ist die Chronik seines Lebens. Des Schreibens nicht mächtig hat er es mündlich verfasst, Amets Arzallus hat die Erzählungen in eine Buchform gebracht. Ibrahimas Muttersprache ist Pular, eine Minderheitensprache im französisch-sprachigen Guinea. Nachgesagt wird Ibrahima eine besondere poetische Art des Sprechens.
Den als Bertsolari überaus bekannten Amets Arzallus lernte Ibrahima Baldé im Aufnahmezentrum für Migrantinnen in Irun kennen, wo Amets als Freiwilliger half, Französisch-Übersetzungen zu machen, weil die Mehrheit der ankommenden Flüchtlinge aus entsprechenden Ländern stammen. Ibrahima lernte schon als Junge die Tätigkeit des Automechanikers, derzeit lebt er in Madrid, wo er in einer Werkstatt eine Ausbildung absolviert.
Von Conakry, der Hauptstadt Guineas, bis nach Nzérékoré, der zweitgrößten Stadt, sind es 1.300 Kilometer. Ibrahima fuhr diese Streck drei bis vier Jahre lang in einem Lastwagen, nachdem ein Fahrer ihn als Lehrling akzeptiert hatte. Eine Woche fuhren sie von Conakry nach Nzérékoré, in der folgenden Woche zurück nach Conakry. Bis eines Tages seine Mutter anrief und sagte, dass sein kleiner Bruder verschwunden sei. Die Odyssee begann, durch die Wüste, konfrontiert mit Schmugglern, Polizisten, Entführern, mit Durst, Hunger und Schmerz.
Amets Arzallus
Der in ganz Euskal Herria bekannte und beliebte Bertsolari-Sänger Amets Arzalluz wurde 1983 in Donibane Loizune (Saint Jean de Luz) geboren, in Iparralde, dem französischen Baskenland. “Amets” bedeutet in der baskischen Sprache “Traum”. Er wuchs in Hendaye (bask: Hendaia) auf, die familiäre Tradition machte aus ihm schon in jungen Jahren einen erfolgreichen Bertsolari. Bertsolaritza (3) ist die Kunst, eine bestimmte Botschaft oder Aussage in Versen improvisiert, gereimt und mit festgelegter Metrik vorzutragen oder auszusprechen. Die Liste seiner Txapela-Meistermützen ist lang, 2013 gewann er die gesamtbaskische Txapelketa (Meisterschaft) (2).
Raul Zelik
Der Übersetzer des Buchs von Ibrahima und Amets (*1968) ist ein deutscher Schriftsteller, Journalist, Übersetzer, Politikwissenschaftler und Dozent. Er ist ein alter Kenner des Baskenlandes, hat zeitweise hier gelebt und spricht Baskisch. Zelik arbeitet seit 1992 als freier Autor. 1997 veröffentlichte er seinen Debütroman. Ab 1999 folgten Romane und Sachbücher zu Lateinamerika. Zeliks Roman “Der bewaffnete Freund” (Blumenbar-Verlag 2007), der den baskischen Konflikt anhand einer ungleichen Freundschaft erzählt, wurde in der Neuen Zürcher Zeitung als ”wohltuendes Antidot gegen die aufgeheizten Terrorismus-Diskurse“ bezeichnet. Gemeinsam mit Petra Elser legte Zelik 2007 mit dem Roman “Der gefrorene Mann” (von Joseba Sarrionandia, Blumenbar-Verlag) eine der ersten literarischen Direkt-Übersetzungen aus dem Baskischen vor. Parallel ist Zelik als Sozialwissenschaftler tätig (Berlin, Bogotá, Kassel). Seine Übersetzungen umfassen Romane und Sachbücher. 2016 wurde er in den Parteivorstand der Partei “Die Linke” gewählt. (4)
Video, Artikel
In einem zehnminütigen Video der baskisch-sprachigen Tageszeitung BERRIA sind Ibrahima Baldé und Amets Arzalluz zu sehen und in französischer Sprache zu hören. (5) (VIDEO)
Ein weiteres Migrations-Schicksal ist bei Baskultur.info dokumentiert unter dem Titel “Mariams lange Reise – Afrika und den Atlantik überlebt” (6).
ANMERKUNGEN:
(1) Ibrahima Baldé, Amets Arzallus: ”Kleiner Bruder. Die Geschichte meiner Suche“. Originaltitel “Miñon” von Amtes Arzalluz, 2020. Aus dem Baskischen von Raul Zelik, Suhrkamp Verlag 2021, 139 Seiten, 14 Euro (LINK)
(2) Amets Arzalluz, baskischer Schriftsteller und Bertsolari (LINK)
(3) Bertsolarismo ist ein überaus populärer kultureller Ausdruck einer langen Tradition im gesamten Baskenland, älter als schriftliche Formen der baskischen Sprache, da er aus spontaner mündlicher Überlieferung entstanden ist. In Irland, Südamerika und den andalusischen Alpujarras gibt es verwandte Formen, dazu den kubanischen Repentismo. Diese Art der "dialektischen Diskussion" zwischen zwei oder mehr Bertsolaris entspricht einem Muster, das in einer Vielzahl von Kulturen zu finden ist und Teil der asiatischen Tradition, der griechischen und römischen Kultur sowie der Geschichte des muslimischen Mittelmeerraums ist.
(4) Raul Zelik, deutscher Schriftsteller und Sozialwissenschaftler, alter Freund des Baskenlandes. Er schrieb und übersetzte Romane und Sachbücher zu baskischen Themen (LINK)
(5) Gespräch zwischen Ibrahima Baldé und Amets Arzalluz: “Ahomentan: Ibrahima Baldé eta Amets Arzallus”, in französischer Sprache, 2020-09-06 (VIDEO)
(6) “Mariams lange Reise – Afrika und den Atlantik überlebt” Baskultur.info, 2021-05-05 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Collage (FAT)
(2) Ibrahima, Amets (berria)
(3) Ibrahima, Amets (berria)
(4) Ibrahima, Amets (berria)
(PUBLIKATION BASKUTUR.INFO 2021-06-28)