Solidarität am Grenzübergang Irun
Im baskischen Irun (Gipuzkoa) gibt es jeden Tag neue Gesichter – und jeden Tag fehlen andere. Die Flüchtlinge kommen desorientiert an, aber die meisten von ihnen haben ein Ziel vor Augen: den französischen Staat. Viele haben dort Verwandte, andere wollen noch weiter nach Norden. Der erste Schritt ist der über die Grenze. Die Flüchtlinge sind teilweise schon Jahre unterwegs und wollen gegen alle Widerstände auch die letzte Etappe erfolgreich hinter sich bringen. Unterstützt von baskischen Freiwilligen.
Afrikanische Flüchtlinge versuchen über das Baskenland nach Frankreich oder weiter in den europäischen Norden zu kommen. Von den Behörden werden sie ignoriert, aber Nachbarschaftsgruppen sind aktiv, um für das Nötigste zu sorgen: Essen und ein Dach über dem Kopf. Dritter Baskultur-Beitrag zum aktuellen Thema Flüchtlinge im Baskenland.
Im ersten Beitrag wurde die Situation von ankommenden Flüchtlingen in Bilbao beschrieben (1). Im zweiten ging es um Willkommensgesten gegenüber Tourist*innen, die für Flüchtlinge in keinster Weise gelten (2). Im dritten geht es nun um die Situation an der Grenze zwischen dem südbaskischen Gipuzkoa und dem französischen Staat, in den viele gerne weiterreisen wollen.
Am 10. August, einem Freitag, schliefen etwa 30 Migranten auf dem Parkplatz des Bahnhofs von Irun an der Grenze von Gipuzkoa. Bis auf drei waren alle Neuankömmlinge. Der Strom von Flüchtlingen aus Afrika ist kontinuierlich in der Grenzstadt Irun. Um die minimale Grundversorgung kümmern sich das Rote Kreuz, vor allem aber viele solidarische Einwohner*innen der Stadt. Denn das Angebot von öffentlicher Seite reicht bei Weitem nicht aus, um alle zu versorgen. Es ist vielmehr peinlich und ignorant, wie die Behörden zurseite schauen angesichts der ankommenden Flüchtlinge. Nur die wenigsten finden Unterschlupf beim Roten Kreuz, das für drei Tage Unterschlupf anbietet: Schlafplatz, Dusche, Mittag- und Abendessen. Danach geht es auf die Straße.
Weil also längst nicht für alle Platz ist, stellt die solidarische Unterstützung der Nachbar*innen rund um das ehemalige besetzte Zentrum Lakaxita das wichtigste Element zur Versorgung der etwa dreißig Personen dar. Offiziell, sagen die Freiwilligen, hatte das Rathaus Sandwiches für diejenigen versprochen, die keinen der 28 Plätze beim Roten Kreuz ergattern konnten. Aber tatsächlich waren die Helfer*innen auf sich allein gestellt. Auch am Folgetag sahen sich die Freiwilligen zur Improvisation gezwungen. Sie stellten klar, dass kein Vertreter der Stadtverwaltung vorstellig geworden war, „obwohl der Bürgermeister versichert hatte, Irun sei eine solidarische Stadt und würde Flüchtlinge aufnehmen, als das Schiff Aquarius zwei Wochen zuvor in Valencia anlegte".
Die Freiwilligen stellen fest, dass der Mangel an Koordination trotz eines wöchentlichen Koordinationstreffens in Gipuzkoa völlig offensichtlich ist. Angesichts der Situation sei die Hilflosigkeit der Behörden sogar nachvollziehbar, „aber sie sollen nichts versprechen, was sie später nicht halten", beklagen sie.
Die Aktivist*innen kommen in das alte Krankenhaus auf dem Urdanibia-Platz mit Taschen voller Kleidung und vor allem mit Schuhen, damit die Flüchtlinge ihre Reise fortsetzen können. Denn die meisten von ihnen kommen mit einfachen Latschen an. Von den Migranten werden die Helfer*innen als „Mama Africa" oder „Papa Africa" bezeichnet. Das Rote Kreuz bietet hygienische Versorgung und das Büro der antirassistischen initiative SOS-Rassismus von Bidasoa wurde in ein Klamottenlager verwandelt. Dort treffen sich die Freiwilligen jeden Morgen, nachdem sie festgestellt haben, wie viele Menschen Kleidung brauchen. „Wenn wir eine zweite Runde machen müssen, dann tun wir es eben", sagt einer, der sich als "Freiwilliger aus der Zivilgesellschaft" bezeichnet.
Einige helfen beim Sortieren und Vergeben von Kleidung, andere kochen. Wieder andere sind gekommen, weil sie Französisch sprechen. Alle sind bereit, da zu helfen, wo es notwendig ist. Auch Geldüberweisungen müssen verwaltet werden. Ohne Papiere können die Migranten kein Geld empfangen oder senden – auch in diesem heiklen Bereich decken die Freiwilligen eines der Grundbedürfnisse ab. Einige kennen die Runde zwischen Bahnhof, Lakaxita und Moskauer Platz in Irun bereits – trotzdem kommen die Freiwilligen immer um 9 Uhr, falls jemand eine Wegbeschreibung braucht.
Im Zentrum der Sozialen Dienste hält sich die Mehrheit auf. Es ist zum Treffpunkt geworden, obwohl manche lieber alleine ihre eigenen Wege gehen. Zwei Brüder, die am Vortag ankamen, waren überrascht, in Irun andere zu treffen, mit denen sie sich während ihres Aufenthalts in Marokko angefreundet hatten. Und Silvia – eine der Freiwilligen – erklärt, dass es sie sehr bewegt habe, dieses „unverhoffte" Treffen mitzuerleben.
Jede Geschichte ist eine Welt für sich, jede Reise ein Drama. Viele von ihnen haben ihre Heimat vor drei Jahren verlassen. Eine Reise durch Afrika braucht viel Zeit. Wohin sie auch kommen, sie müssen sich dort mit den Mafiabanden auseinandersetzen. Auch die Überquerung der Meerenge von Gibraltar ist nicht einfach. In Andalusien angekommen werden ihnen Busse nach Norden angeboten. So kommen die meisten von ihnen nach Irun (oder Bilbao) und befinden sich hier erneut vor einer Grenze.
Romeo, plötzlicher Gastgeber
„Sie haben mich in Algeciras registriert und brachten mich mit dem Bus nach Malaga. Dort ließen sie uns am Bahnhof zurück, ohne Hilfe. Einige Tage später bot uns das Rote Kreuz eine Busfahrt nach Barcelona an. Nachdem wir dort einen Tag lang versorgt wurden, schickten sie uns mit 80 Euro auf die Straße. Ich fuhr nach Bilbo, schlief ein paar Nächte am Busbahnhof und nahm den Bus nach Irun.“ Hier ist Romeo jetzt, und pilgert rund um das alte Krankenhaus, Handy und Kopfhörer immer zur Hand.
Dieser junge Mann von der Elfenbeinküste ist ein Sonderfall, weil er sich entschieden hat, die Grenze nicht zu überschreiten. Er stand kurz vor dem Ende seines Aufenthalts in der Herberge. Maximal erlaubt sind fünf Übernachtungen. Aufgrund einer Reihe von Umständen – die Ankunft eines kranken Kollegen – überließ er jedoch vorzeitig seinen Platz. Er ist zu einer Art Gastgeber geworden und sagt, es gehe ihm gut, auch wenn er nach Ablauf der Tage in der Herberge wieder auf die Straße muss. Er ist Fußballspieler, und einige der Freiwilligen bekräftigen, durchaus ernsthaft, bereits Gespräche mit dem lokalen Zweitligaclub Real Union aufgenommen zu haben.
Er ist aus religiösen Gründen geflohen. Rocío, Rechtsanwältin und Mitglied der Hilfsinitiative Adiskidetuak, hat ihm Rechtsberatung angeboten, um zu prüfen, ob er eine Chance auf Asyl hat. Im Alter von 23 Jahren hat er sein Land und seine Familie hinter sich gelassen. Er musste alle Beziehungen abbrechen, weil er katholisch ist und seine Familie muslimisch. Elfenbeinküste, Mali, Algerien und Marokko waren seine Stationen – die härtesten Momente erlebte er in Algerien, in der Wüste. „Von Marokko aus versuchte ich zwanzig Mal nach Spanien zu gelangen. Beim 21. Versuch klappte es, wir mieteten gemeinsam ein Boot und ruderten 12 Stunden lang nach Algeciras".
Optimismus und Beharrlichkeit
Ismael aus Guinea-Conakry berichtet, dass er ebenfalls 14 Stunden rudern musste, um die Küste von Barbate zu erreichen. Wie Romeo verließ auch er 2015 seine Heimat und durchquerte Senegal, Mauretanien und Marokko. Er versichert, nur ein einziges Mal in Kontakt mit der Mafia getreten zu sein und zwar um die Meerenge von Gibraltar zu überqueren. Dafür bezahlte er 150 Euro. Während der gesamten dreijährigen Reise habe er auf der Straße geschlafen, sagt er.
"Meine ganze Familie ist in Paris", erzählt er weitr und zeigt, dass sein Handy wegen eines Ladefehlers außer Betrieb ist, also kann er keine Verbindung aufnehmen. Und was noch schlimmer ist, er kann kein Geld bekommen. Am Vortag versuchte er, die Grenze zu überqueren, wurde aber von der Polizei sofort festgehalten und nach Irun hinter die Grenze zurückgebracht. „Heute werde ich es wieder versuchen", sagt der mutige junge Mann, der eine Ausbildung als Lokführer hat.
In Urdanibia herrscht Optimismus und Solidarität. Männer grüßen sich mit einem Händeschütteln, Frauen werden auf beide Wangen geküsst, für alle gilt ein „Hallo, wie gehts?" Trotz der Härte der Situation ist das Lächeln nicht verloren gegangen. Zur Freude aller kommt ein 5-jähriger Junge an, begleitet von seinem Vater und seiner schwangeren Mutter. Für diese Familie gelten andere Regeln, sie stellen einen außergewöhnlichen Fall dar und werden in einem Hostel der Stadt untergebracht.
Allerdings haben sie nicht alles, was sie brauchen. Der Vater sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit Geld zu wechseln, während die Mutter den Freiwilligen erklärt, dass sie größere Unterwäsche braucht. Der Junge, verängstigt wegen eines Hundes, trägt einfache Badeschlappen, hat keine Unterwäsche, seine Kleider sind nass und sein Husten ist besorgniserregend. Aber ihm scheint das nichts auszumachen.
Er kennt alle Freiwilligen, auch Felix und andere Migranten, die alle das gleiche Ziel haben. Ein Ziel, an dem mindestens zwei Minderjährige angekommen sind, deren Familien in Paris leben. Für die Freiwilligen ist es eine Erleichterung zu wissen, dass sie gut angekommen sind, „weil wir in einigen Fällen zwar wissen, dass sie die Grenze überschritten haben, dann aber keine Ahnung haben, wo sie sind und wie es ihnen geht“. Das ist der Fall einer Frau und ihres Sohnes, die vor zwei Tagen in Irun ankamen und am Tag darauf beschlossen, zu gehen. Niemand kennt heute ihren Aufenthaltsort.
Dicello und Baldé aus Guinea-Conakry berichten, dass sie vor einigen Tagen in Bordeaux abgefangen wurden. Mit anderen Worten, sie haben 215 Kilometer im französischen Staat zurückgelegt und die Gendarmerie hat sie nach Irun gebracht. „Zurück zum Anfang", sagen sie unverzagt. Sie werden es solange versuchen, bis sie ihr Ziel erreichen: Paris, wo Verwandte und Bekannte auf sie warten. Sie bleiben optimistisch. Diese Rückschläge sind nur ein weiterer Stein auf ihrem Weg und Beharrlichkeit ist ihr großer Antrieb. Bleibt abzuwarten, wie in Irun mit dieser außergewöhnlichen Situation weiter umgegangen wird. Aber so wie es scheint, wird die Flamme der Solidarität in der Nachbarschaft noch lange weiterbrennen.
Bordeaux
Dicello und Baldé aus Guinea Conakry sagen, dass sie vor einigen Tagen auf dem Weg nach Paris in Bordeaux abgefangen und nach Irun zurückgebracht wurden. Sie werden weiter versuchen nach Paris zu gelangen, dort haben sie Familie und Freunde und sprechen außerdem die Landessprache.
Bahnstation
Das Rote Kreuz hat nur Kapazität für die Versorgung von 28 Personen, so dass der Parkplatz am Bahnhof zum alternativen Unterschlupf werden musste. Vergangene Woche waren es schätzungsweise 30 Personen, die dort in Decken gehüllt die Nacht verbrachten, darunter vier Frauen. Freiwillige schätzen die Zahl der afrikanischen Flüchtlinge in Irun auf 60. Das Rote Kreuz beherbergt 28, darüber hinaus wurden in den letzten Tagen etwa 30 Personen im ehemals besetzten Jugendzentrum Lakaxita mit Essen versorgt. (Baskultur.info / 2018-08-12)
ANMERKUNGEN:
(1) Artikel Baskultur.info: Flüchtlinge in Bilbao – Allein die Nachbarschaft hilft (Link)
(2) Artikel Baskultur.info: Tourismus und Flüchtlinge – Wer ist willkommen in Bilbao? (Link)
(3) Information aus dem Artikel “Impulso de solidaridad para cruzar la frontera”, Tageszeitung Gara vom 11.8.2018 (Solidarischer Impuls um die Grenze zu überqueren) (Link)
ABBILDUNGEN:
(1) Flüchtlinge Bilbao (FAT)
(2) Irun, Gipuzkoa (naiz-foku)
(3) Flüchtlinge Bilbao (FAT)
(4) Flüchtlinge Bilbao (FAT)
(5) Flüchtlinge Bilbao (FAT)
(6) Flüchtlinge Bilbao (FAT)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2018-08-12)