Vom “wir können“ zum “wir konnten nicht“
Zehn Jahre nach der Rebellion der “Empörten“ in Madrid und Barcelona ist die Bewegung an einen Punkt der Ernüchterung angelangt. Den Erfolgen auf der Straße waren Erfolge bei Wahlen gefolgt. Doch in den Parlamenten ließen sich diese Erfolge leider nicht fortsetzen. Fast überall, wo die neugeründete Podemos-Partei in eine Regierungs-Verantwortung kam, scheiterte sie an der institutionellen Zähigkeit, an fehlender Kontinuität oder am exzessiven Protagonismus ihrer Anführer*innen wie Pablo Iglesias.
Vor zehn Jahren, am 15. Mai 2011, artikulierte sich die Empörten-Bewegung in Spanien erstmals unübersehbar, als zahllose "Indignados" in mehr als 50 Städten gemeinsam auf die Straße gingen. Tausende Empörte waren einem Aufruf gefolgt, um angesichts einer "Zweiparteien-Diktatur" eine "wahre Demokratie jetzt" zu fordern. Dieses Projekt neigt sich immer mehr seinem Ende zu.
Zum vorliegenden Text: In einem ausführlichen Artikel mit dem Titel “Was bleibt von der großen Empörung?“ analysiert der im Baskenland lebende deutsche Journalist Ralf Streck ausführlich den Aufstieg und Niedergang der Indignados-Empörten-Bewegung, sowie ihre Defizite und Fehler. Die Redaktion Baskultur.info hat diese zum Verständnis der Politik im spanischen Staat äußerst hilfreiche Arbeit zur Grundlage genommen und die spanische Geschichte der Podemos-Bewegung mit spezifisch baskischen Betrachtungen ergänzt, um das Bild abzurunden: von der Platzbesetzung der Bewegung bis zu parlamentarischen Machenschaften der sich spaltenden Partei. (Zur einfacheren Unterscheidung wurden die Redaktions-Ergänzungen mit Farbe unterlegt).
"Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine", wurde 2011 skandiert. "Sie repräsentieren uns nicht", wurde an jenem 15-M Sonntag kurz vor den Parlamentswahlen auf vielen Straßen in Spanien gerufen und gefordert: "Wählt sie nicht." Zehn Jahre nach Beginn der Bewegung "Empört euch" ist die Jugend weiterhin "ohne Job, Wohnung oder Pension". Wie kann es vorwärtsgehen in einem Land, das den Rückwärtsgang eingelegt hat? Große Demonstrationen waren damals in der Finanzkrise angesichts der Einschnitte ins Sozialsystem und dem Abbau von sozialen Rechten keine Seltenheit. Es kam im Jahr zuvor sogar zum Generalstreik gegen eine Arbeitsmarktreform der Sozialdemokraten (PSOE), mit der der Kündigungs-Schutz massiv beschnitten wurde. (1)
Unterschiede
Der wesentliche Unterschied zu den vorangegangenen großen Protesten: Die Aktivisten waren nicht dazu bereit, nach dem Protest einfach wieder nach Hause zu gehen, um sich brav vor den Fernseher zu setzen. Spontan besetzten sie den zentralen Platz in der Hauptstadt Madrid und begannen damit, ein Protestcamp auf dem "Puerta del Sol" zu errichten. Das war die Initialzündung für Besetzungen im ganzen Land.
Doch wie so häufig war die Entwicklung im Baskenland von Beginn an etwas anders. In der Region Euskadi gab es die vielbeschimpfte Kaste nicht in der spanischen Form einer korrupten Monarchie, eines Zweiparteien-Systems und eines nicht aufgearbeiteten Franquismus. Der baskischen Linken kann viel vorgeworfen werden, aber nicht korrupt zu sein. Sie war illegalisiert und nicht in Institutionen vertreten, was bedeutet, dass zwischen 20 und 25% der Wahlbevölkerung seine Stimm-Alternative verlor. Zum Zeitpunkt des Aufkommens der Empörten befand sich die Linke gerade auf dem Rückweg in die Legalität und versuchte sich mit neuen Koalitionen von den Altlasten um ETA zu befreien. Die nächsten Jahre sollten zeigen, dass die Empörten und nach ihnen die unterschiedlichen Podemos-Ableger in Euskadi und Navarra politisch nicht so notwendig waren wie in spanischen Gefilden, weil hier starke kritische Klassen-Gewerkschaften existieren und eine reife politische Bewegung, die wie nirgendwo sonst im Staat zu Mobilisierung fähig ist.
Empört euch!
Die Indignados (Empörten) bezogen sich auf das Büchlein des ehemaligen französischen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel, das damals ein Bestseller war: "Indignez vous!" (Empört euch!). Man wollte das "Regime von 1978" beseitigen, das nach dem Tod des Diktators alles "gut festgezurrt" hatte. Unter anderem hatte Franco mit König Juan Carlos seinen Nachfolger als Staats- und Militärchef bestimmt. Etliche seiner Minister warfen sich das demokratische Mäntelchen über und gründeten die Vorgängerin der Volkspartei (PP), die sich bis heute nicht vom Putsch gegen die Republik und der Diktatur distanziert hat.
Die "Bewegung 15-M" – Jugend ohne Angst
Die "Bewegung 15-M" war eine große Aufwallung dagegen. Es war eine pazifistische, republikanische Rebellion - vor allem der Jugend -, die von der schweren Wirtschaftskrise als Folge der Finanzkrise ab 2008 getrieben wurde. Die war in Spanien besonders heftig, da eine sich lang abzeichnende Immobilienblase krachend geplatzt war - und enorme Verwerfungen zeitigte. Die Jugend "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension" verlor schließlich auch die Angst. Angesichts einer Arbeitslosigkeit von jungen Menschen unter 25, die 2011 fast 50 % erreichte, begannen sich viele zu organisieren. Auch gegen dieses Phänomen versuchte die Exekutive, wie in Spanien nicht unüblich, mit Gewalt vorzugehen. Der Versuch, mit einer brutalen Räumung des Sol die Lage schnell wieder unter Kontrolle zu bringen, scheiterte aber an einer wachsenden Empörung. Tausende Menschen besetzen den Platz erneut und sie setzten die Freilassung der Gefangenen durch.
Das Beispiel Sol hatte ohnehin längst Schule gemacht und die "Bewegung 15-M2“ hatte sich im ganzen Land ausgebreitet. Massive Repression, wie etwa brutale Räumungen, erreichten auch danach wie in Barcelona ihr Ziel nicht: Nach der Räumung wurde der Plaça de Catalunya einfach wieder eingenommen. Diese Protestform stieß aber von Anfang an ihre Grenzen. Nach Barcelona wurde am 12. Juni auch der Sol in Madrid und andere Plätze im Land freiwillig geräumt. Im Telepolis-Gespräch erklärten Aktivisten damals, das Protestcamp sei nur "ein Werkzeug, aber kein Selbstzweck" gewesen. Jetzt gehe es darum, sich verstärkt dort betätigen, wo die Probleme offener als in der Innenstadt zu Tage treten: in den Stadtteilen.
Besetzung am Theaterplatz
In der Bizkaia-Hauptstadt Bilbo war es der zentrale Theaterplatz, der zum Schauplatz der Indignados wurde. Ein bunter Haufen, der Diskussionen ohne Ende führte, oft ohne Ergebnis. Weil es sich in der politischen Landschaft um eine völlige Neuheit handelte, waren die öffentlichen Abend-Versammlungen immer bestens besucht, viele wollten sich ein eigenes Bild machen von dem, was in den Medien in unterschiedlichen Farben dargestellt wurde. Abgesehen von der politischen Vielfalt bei den Asamblea-Diskussionen war der harte Kern eher dogmatisch und sektiererisch. Die “Ökos“ eröffneten einen Gemüsegarten, mit der Zeit entstand ein kleines Zeltdorf, zu dem sich auch Obdachlose und Migranten ohne Papiere gesellten, der Info-Stand blieb meist eher verwaist.
Internationalistische Inhalte waren nicht gefragt, mehrfach wurde versucht, Demo-Rückkehrer*innen mit internationalen Flaggen vom Platz zu scheuchen. Die Macher*innen waren für Neugierige unzugänglich. Der unrühmliche Negativpunkt ereignete sich, als eine Gewerkschaft am selben Platz eine offiziell angemeldete Kundgebung abhielt, dabei ging es um einen langwierigen Streik im Pflegegewerbe. Aufgrund der räumlichen Nähe und der kämpferischen Gewerkschafts-Frauen wäre es naheliegend gewesen, Brücken zu schlagen zu diesem Arbeitskampf. Dies geschah nicht, vielmehr das Gegenteil. Während der Kundgebung wurde nicht einmal die Megafon-Kommunikation der Besetzer*innen eingestellt, sodass sich beide Aktionen akustisch störten. Offenbar wurde die Streikgeschichte von den Indignados als Teil der verachtenswerten “Kasten-Politik“ der etablierten politischen Organisationen angesehen und entsprechend mit Ignoranz bedacht. Ein Beispiel für politische Unreife und völlige Unfähigkeit, in der baskischen politischen Landschaft zu differenzieren, und Empathie und Solidarität mit Ausgebeuteten zu zeigen. Nicht wenige nahmen die Ignoranz zur Kenntnis.
Die erste Niederlage
Die erste klare Niederlage war der Wahlausgang (der spanischen Parlamentswahlen im November 2011, bei dem die Sozialdemokraten um Zapatero einbrachen und die Rechte große Erfolge feiern konnte). Die Niederlage musste eingesteckt und verarbeitet werden. Statt der geforderten Wahlenthaltung zu folgen, gingen mehr Wähler an die Urnen: Die Beteiligung stieg an. Eine eigene politische Formation, die den geballten Unmut auf den Straßen ins Parlament hätte tragen können, gab es aber nicht. So wurde der PSOE zwar für ihre erratische Krisenpolitik in der Finanzkrise die rote Karte gezeigt, da sie vor allem Banken statt Menschen gerettet hatte, aber das Land kam vom Regen in die Traufe.
Die PSOE stürzte von fast 40 Prozent auf 28 Prozent ab, womit die Volkspartei (PP) erneut an die Macht kam. Eine kommunistisch dominierte zerstrittene "Vereinte Linke" (IU) konnte vom Unmut kaum profitieren, aber ihr Abstieg wurde aufgehalten. Beim neoliberalen Kurs, zu dem sich die PSOE-Regierung unter Zapatero auch aus Berlin und Brüssel hatte treiben lassen, trat als Wahlsieger der ultrakonservative Mariano Rajoy für seine PP erst so richtig aufs Gaspedal. Die Korruption, die bisher in PP-Hochburgen wie Valencia Urstände gefeiert hatte, konnte nun fast auf den gesamten spanischen Staat ausgeweitet werden. Ausgebaut wurde ein "effizientes System institutioneller Korruption", wurde zwischenzeitlich schon gerichtlich festgestellt.
Vereinigung der Hypotheken-Geschädigten (PAH)
Immer mehr Banken wurden gerettet, die ihre Sparer zum Teil über illegale Machenschaften die Ersparnisse geraubt hatten. Hunderttausende Familien wurden aber oft auch von Banken aus ihren Wohnungen geworfen, die mit vielen Milliarden aus Steuermitteln gerettet worden waren. Allein 2010 wurden fast 250.000 Zwangsvollstreckungs-Verfahren eingeleitet. Das waren vier Mal so viele wie 2007 vor der Krise, um von Räumungen wegen nicht gezahlter Mieten gar nicht zu sprechen. Die von der schweren Krise gebeutelten Familien konnten wegen Arbeitslosigkeit ihre Hypotheken oft nicht mehr bedienen – die kurzfristig variablen Zinsen, mit denen die Banken die Risiken fast vollständig auf die Verbraucher abgewälzt hatten, waren explodiert.
Im Jahr 2009 war in Barcelona als Reaktion darauf die Vereinigung der Hypotheken-Geschädigten (PAH) gegründet worden. Sie schaffte es ab 2010, schon bevor die Empörten-Bewegung offiziell entstanden war, erste Zwangsräumungen zu verhindern. Als sich die Aktivisten und Aktivistinnen schließlich in die Stadtteile zurückzogen, wurden Basisstrukturen wie die der PAH gestärkt, sie konnten sich in ganz Spanien entwickeln. Auf nationaler und internationaler Ebene konnte die PAH große Erfolge erringen. "Es reicht", erklärte zum Beispiel der Europäische Gerichtshof (EuGH) dazu, dass Verbraucherrechte in Spanien mit Füßen getreten wurden, was zu zahllosen illegalen Zwangsräumungen geführt hatte.
In einem Staat, der zwar in der Verfassung in Artikel 47 allen eine "würdige Wohnung" garantiert, aber trotz allem Familien ohne Ersatz einfach auf die Straße setzt, gelang es der PAH auch, über Besetzungen von leerstehenden Wohnblocks zum Teil deren Obdachlosigkeit zu verhindern. Durch den massiven Druck der Straße gelang es schließlich nicht nur, dass Räumungen verhindert wurden. Wie im Fall von Matías González konnte oft auch durchgesetzt werden, dass Menschen wie er von der Restschuld befreit wurden. Auch das ist eine Besonderheit in Spanien, dass die Familien mit der Übergabe der Wohnungen an die Bank oft auf massiven Schulden sitzen bleiben. Die Bank übernimmt die Wohnung nur zu 50 Prozent der Summe, zu der sie einst auf Veranlassung der Bank geschätzt wurde.
Druck von der Straße – "Unidas Podemos"
Ein Teil der Aktivisten zog aus den Wahlergebnissen 2011 das Resümee, dass eine Parteigründung und der Marsch durch die Institutionen nötig sei. Es wurden diverse Parteien gegründet, doch Podemos (Wir können es) setzte sich durch und schloss sich schließlich mit der IU zu "Unidas Podemos" (Gemeinsam können wir es) zu einer Linkskoalition zusammen. Dazu kamen lokale Bürgerkandidaturen wie "Más Madrid" (Mehr Madrid) oder En Comú Podem (Gemeinsam können wir es) wie in Barcelona mit der ehemaligen PAH-Sprecherin Ada Colau, mit denen kooperiert wurde. Zum Teil erreichten sie gute Ergebnisse, Podemos schloss bei den Parlamentswahlen 2016 mit gut 21 Prozent sogar zur PSOE auf. In Madrid wurde Más Madrid stärkste Kraft und Manuela Carmena Bürgermeisterin, wie Colau in Barcelona.
Baskische Verhältnisse
So schnell die Parteien gegründet waren, so schnell spalteten sie sich wieder. Weniger aus inhaltlichen Gründen, sondern weil sich an ihre Spitze häufig irgendwelche Kampfhähne gesetzt hatten, die zwar organisatorisches Talent hatten, aber keine Vorstellung von innerparteilicher Demokratie. Leute wie Pablo Iglesias, Juan Carlos Monedero, Iñigo Errejon oder der Baske Roberto Uriarte erhielten schnell negative Berühmtheit, mit freundlicher Unterstützung der staatstragenden bürgerlichen Medien, versteht sich. Bei den Kommunalwahlen in Euskadi ergab sich die Situation, dass auf regionaler Ebene keine einheitliche Podemos-Formation auftrat. In Bilbao spaltete man sich kurz vor der Wahl, sodass zwei Gruppierungen aufliefen und potenzielle Wähler*innen völlig orientierungslos in den Wahllokalen umherirrten und nicht wussten, was sie wählen sollten. Solcherart Spaltungs-Chaos war an der Tagesordnung, es kam zu Rücktritten, Partei-Ausschlüssen, Spaltungen und Neugründungen.
Ernüchterung – der linke Spaltpilz
Doch schon vier Jahre später fiel die Bilanz ernüchternd aus. Madrid fiel vor zwei Jahren (2019) wieder an die rechte PP zurück, der linke Spaltpilz wucherte. Podemos war zur Kampfkandidatur gegen die einstigen Verbündeten angetreten und kam nicht in den Stadtrat. Más Madrid wurde zwar erneut stärkste Kraft, aber die Stimmen und die Sitze, die wegen dem Podemos-Fehler fehlten, kosteten Bürgermeisterin Carmena das Amt. Sie hatte solide regiert und ohne Einschnitte die Schulden der Hauptstadt halbiert. Nur Valencia und Cádiz konnten noch gehalten werden, in beiden Fällen aber von Kandidaten, die längst auf Distanz gegangen sind zu Podemos, die zur Pablo Iglesias-Partei mutiert war.
Zwar konnte sich auch Colau in Barcelona halten, doch sie kann fast als Totalausfall bezeichnet werden. Auch sie hatte massiv Stimmen verloren und wurde von der Republikanischen Linken (ERC) als stärkste Kraft verdrängt. Sie konnte nur weiter im Amt bleiben, weil sie plötzlich gegen alle Versprechen sogar rechts-neoliberale Stimmen annahm. Versprochen hatte sie, nicht einmal Stimmen der Sozialdemokraten zu akzeptieren. Die spanische Rechte wählte sie, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine Partei der Unabhängigkeits-Bewegung die katalanische Metropole regiert.
Nafarroa und Euskadi
Zum weiteren Negativ-Beispiel wurde die baskische Region Navarra. Dort ergab sich bei den Kommunal- und Regionalwahlen eine sozialliberale Mehrheit. Die bestand aus der rechtsliberalen Koalition Geroa Bai (mit der PNV als Akteurin), aus Podemos, der Vereinigten Linken und EH Bildu (mit der baskischen Linken, Sortu). Kaum war die schwierige Vierer-Koalition geschmiedet, die das Ende von 20 Jahren korrupten Rechts-Regierungen bedeutete, wollte Podemos die eigene Parlaments-Präsidentin aussortieren, was durch die übrigen Koalitionspartner verhindert wurde. In Iruñea gab es mit Unterstützung derselben Koalition sogar einen Bürgermeister von Sortu, fast unvorstellbar im reaktionären Navarra. In beiden Verwaltungen wurde zwar keine linke, aber eine vernünftig-liberale Politik praktiziert. Nur die Quälereien bei Podemos nahmen kein Ende. Die Quittung kam bei den nächsten Wahlen: Geroa Bai und EH Bildu verbesserten ihre Ergebnisse, Podemos sackte ab, beide Regierungen gingen verloren.
Eine weitere politische Bruchlandung leistete sich Podemos-Ahal Dugu im Euskadi-Parlament. Von 2015 bis 2019 hatten die rechte PNV und die Sozialdemokraten keine Mehrheit und mussten um ihre Haushalte ringen. Im letzten Jahr sprang Podemos großzügig ein, spielte die Mehrheits-Macherin bei einem durch und durch neoliberalen, antisozialen und ökologie-feindlichen Haushalt. Das Ganze fast ohne Gegenleistungen. Dieser nicht nachvollziehbare Eigentor-Schachzug war eine der häufiger werdenden Situationen, in denen sich Podemos auf Spiele mit dem Establishment einließ und über den Tisch gezogen wurde. Längst ist der Begriff “Kasten-Parteien“ aus dem podemischen Wortschatz verschwunden, weil man inzwischen selbst zum System gehört. Das Alles in der Rekordzeit von zehn Jahren.
Der Niedergang
Colau steht, wie der Ex-Podemos-Chef Iglesias, für den Niedergang und den Gesichtsverlust des institutionellen Arms der Bewegung, der die Basisdemokratie praktisch ausgeschaltet und die Basis-Strukturen auf der Straße deaktiviert hat. In Barcelona hat das angesichts einer starken Unabhängigkeits-Bewegung nur sehr begrenzt funktioniert. Viele ehemalige Kampfgefährt*innen wollen sich dort zu Colau oder Podemos nicht äußern oder bezeichnen Colau (noch) hinter vorgehaltener Hand oft als Verräterin.
Besonders enttäuscht ist man bei den Hypotheken-Geschädigten und bei den bis heute starken Initiativen gegen Zwangsräumungen, da gerade eine Colau-Regierung in Barcelona viele Familien in der Coronavirus-Pandemie nun im Regen stehen lässt. Die Sprecherin der Mietergewerkschaft in Barcelona erwartet von Leuten wie Colau oder Iglesias, der zwischenzeitlich mit Podemos sogar in die spanische Regierung vorgerückt war, praktisch nichts mehr, wie Silvia Abadía gegenüber Telepolis erklärt hatte. Die Enttäuschung sitzt tief auch bei vielen Empörten an der Basis. Zwangsräumungen wurden auch in der Pandemie nie eingestellt, obwohl die "progressive Regierung" offiziell ein Moratorium verkündet hatte. Das gilt auch in Barcelona unter der ehemaligen Aktivistin gegen Zwangsräumungen Colau. In den ersten neun Monaten der Pandemie wurden bis Ende 2020 trotz des "Moratoriums" in ganz Spanien mehr als 16.000 Familien auf die Straße gesetzt, die meist ihre Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Und dabei wird oft brutalste Gewalt gegen die eingesetzt, die sich dagegen wehren – wie hier in Barcelona gerade wieder.
Obdachlosigkeit
Die Obdachlosigkeit hat auch in Barcelona wieder massiv zugenommen. Sogar Härtefälle lässt die Colau-Regierung im Regen stehen, was deren frühere Unterstützer besonders erzürnt. Erst durch großen Druck der in Katalonien noch immer gut organisierten Aktivisten können Räumungen immer wieder verhindert werden. Bisweilen können durch Druck auch Lösungen erzwungen werden, damit die Menschen nicht auf der Straße landen, die angesichts eines löchrigen Sozialsystems durch alle Maschen fallen. Sie finden sich dann oft in Hungerschlangen wieder, weil eine Zentralregierung unter Podemos-Beteiligung in Madrid nicht einmal die Maschen deutlich verkleinert hat. Im Kampf gegen massive Mieterhöhungen, Zwangsräumungen oder gegen die Privatisierung von Wohnungen, zeigen sich Strukturen der Empörten-Bewegung noch deutlich. Das gilt ebenso für die besonders starke feministische Bewegung oder bei Rentnern, die seit fast vier Jahren unermüdlich für würdige Renten auf die Straße gehen.
Doch was für Katalonien gilt, gilt nicht für das Baskenland. Seit drei Jahren geht hier eine Rentner*innen-Bewegung jeden Montag in vielen Städten auf die Straße und mobilisiert zu großen Demonstrationen für mehr Rente und höhere Zahlungen für Frauen. Zu Beginn waren Kräfte von Podemos mit dabei, fielen der Bewegung jedoch mit einem Protestmarsch nach Madrid in den Rücken. Der Marsch wurde zum medialen Fiasko, die baskische Renten-Bewegung ging gestärkt aus dem Streit hervor und zeigt ein bewundernswertes Stehvermögen.
Im Kampf gegen Zwangsräumungen spielt Podemos nur noch eine untergeordnete Rolle. Denn neben den PAH-Gruppen, die wenig Mobilisierungsfähigkeit aufweisen, haben sich in den vergangenen Jahren Basis-Gewerkschaften entwickelt, die von Räumung betroffene Personen organisieren und großen Zulauf haben. Gruppen wie AZET in Bilbao (Alde Zaharreko Etxebizitza Taldea – Wohnungs-Gruppe Altstadt) arbeiten an der Nahtstelle zwischen Gewerkschaften und von sozialem Abstieg Betroffenen. Aufgrund ihrer Struktur, vorwiegend Lohnarbeitende zu vertreten und zu organisieren, fehlt den Gewerkschaften meist der Zugang zu diesen sozialen Kämpfen. Stattdessen finden sich Hausbesetzer*innen, Autonome, Anarchist*innen und von der Institutionalisierung der baskischen Linken Enttäuschte zusammen und organisieren Wohn- und Arbeitskämpfe von neuer Qualität. Ohne Podemos-Ahal Dugu.
Alles andere als kämpferisch
Der Blick vieler Aktivisten zurück auf die Entstehung der Bewegung 15-M fällt am 10. Jahrestag nostalgisch, trotz der harten neuen Krise aber alles andere als kämpferisch aus. Resignation und Desillusion sind deutlich zu spüren. Zeitungen, die wie Público der Bewegung nahestehen, haben Sonderausgaben produziert. Ein zentraler Text ist auch damit überschrieben, dass aus "den Niederlagen gelernt" werden müsse. In Eldiaro.es ergießt man sich weiter in Nostalgie und spricht von einem "Wendepunkt in der spanischen Politik". Bejubelt wird wenig selbstkritisch die große "Freude und Enthusiasmus".
Keine der Zeitungen berichtete über die Demonstrationen und Versammlungen der "Bewegung" zum 10. Jahrestag. Ohnehin waren nur wenige Versammlungen angesetzt und die Beteiligung hielt sich dabei in sehr engen Grenzen. In Barcelona verliefen sich trotz des guten Wetters auf der großen Plaça de Catalunya einige Dutzend Menschen. Vor 10 Jahren glich er einem Hexenkessel: Im großen Madrid versammelten sich etwa 200 meist ältere Menschen auf dem Sol. Es war ein eher trauriges Schauspiel, das zeigt, wie demobilisiert die Bewegung ist.
Dabei sind die sozialen Bedingungen insgesamt fast noch dramatischer als vor zehn Jahren. Die Jugend-Arbeitslosigkeit, durch Kurzarbeit noch stark verzerrt, ist schon wieder auf 38 % angewachsen. Befristete Beschäftigung und extrem prekäre Arbeitsbedingungen feiern gerade unter jungen Menschen Urstände. Die konnten sich angesichts niedriger Löhne aber schon vor der Krise oft nicht einmal mit einer festen Stelle eine eigene Wohnung leisten.
Das Scheitern
Die Möglichkeiten, auf die Straße zu gehen, wurden zwischenzeitlich durch scharfe Gesetze wie das Maulkorb-Gesetz genauso massiv eingeschränkt wie die Meinungsfreiheit. Eine zweite Arbeitsmarktreform der rechten PP hat den Kündigungsschutz und andere Rechte praktisch beseitigt. Sie werden nun unter einer "Linksregierung" massiv angewendet.
Beide Gesetze – Maulkorb und Arbeitsreform – sollten laut Koalitionsvertrag zwischen PSOE und Podemos zurückgenommen werden. Doch offenbar ist der Druck der Arbeitgeber-Verbände und der Polizei-Gewerkschaften auf die PSOE stark genug, dass sie die heißen Eisen (und heiligen Kühe der Rechten) nicht anfasst. Ähnliches geschieht im Baskenland, wo die PNV das Zensurgesetz seinerzeit zwar heftig kritisiert hat, heutzutage jedoch liebend gerne zur Anwendung bringt, um die inner-baskische Opposition zum Schweigen zu bringen.
Erst langsam wird einigen Aktivisten das Scheitern bewusst, das sich gerade mit dem Abgang von Pablo Iglesias in Madrid manifestiert hat. Der hatte als Podemos-Führer die Spaltungen befördert und die Partei sektiererisch tief in die Sackgasse geführt. Die Regionalwahlen in Madrid haben seinem Spuk nun ein politisches Ende beschert: Podemos hat sich dem Risiko der Regierungs-Verantwortung ausgesetzt, konnte aber von den eigenen Versprechen praktisch nichts umsetzen. Statt das Regime von 1978 zu stürzen, ist Podemos selbst zum Teil zur Kaste und zur Stütze der Herrschafts-Ordung mutiert. Protest gegen die Kaste wird nun demagogisch von Ultra-Rechten angeführt, wie die Wahlen in Madrid gezeigt haben.
Richtige Analyse und Vormarsch der Rechten
Im Dunstkreis der Bewegung gibt es nur wenige, die das Scheitern der Bewegung 15-M wirklich klar thematisieren. Der Philosoph und Schriftsteller Santiago Alba Rico benennt es in einem Beitrag jedoch klar. "Versprechen hängen in der Luft", titelt er in einem leider nur kurzen Artikel. Er analysiert die Bewegung als "anthropologische Überraschung", die Spanien vor zehn Jahren gegen die "Trägheit des übrigen Europas" positioniert habe. Er übersieht aber, dass die Empörten-Bewegung real in Portugal zwei Monate zuvor geboren worden war.
Er analysiert richtig, dass damals das "Zweiparteiensystem mit Korruption und freiheitsfeindlichen Gesetzen in Frage gestellt wurde", da es die "demokratischen Versprechen" nach dem Ende der Diktatur nicht erfüllt hatte. Zudem habe der 15-M die "Verantwortlichen für die Krise benannt, die eine ganze Generation ohne Zukunft zurückgelassen hat." Nicht Einwanderer, Flüchtlinge oder Katalanen seien für die Misere verantwortlich gemacht worden, wie es heute in Spanien wieder häufig der Fall ist, sondern die Austeritäts-Maßnahmen, die Banken und der Neoliberalismus als Ursachen benannt.
Die Bewegung sei gleichzeitig "naiv und vernünftig" gewesen, habe als "Impfstoff gegen die wuchernde Ultra-Rechte gewirkt, die in Europa immer mehr Räume eroberte". Doch zehn Jahre danach, "im Zuge der gleichen Wirtschaftskrise, die durch eine globale Pandemie noch verschärft wurde, hat sich Spanien dem Rest Europas angeschlossen". Nun sei man weder gegen Covid noch gegen die neue Ultra-Rechte geimpft, stellt Rico richtig fest, schließlich ist Vox schon drittstärkste Kraft im Parlament. Er spricht von einem "selbstverschuldeten Scheitern" von Podemos. Gepaart mit der defensiven Radikalisierung eines bedrohten Regimes, sei man deshalb an einen Punkt angelangt, "an dem sich die alten Antworten von links und die falschen Antworten von rechts wieder aufdrängen". Die Generation 15-M, die sich gegen das Regime von 1978 erhob und es stürzen wollte, habe die eigenen Versprechen nicht halten können. Dass es Podemos trotz der schweren Krise nicht einmal gelungen ist, zum Beispiel endlich eine Sozialhilfe einzuführen, ist dramatisch. Die Menschen werden weiter gezwungen, sich auch an den miesesten Job zu klammern, um überleben zu können und nicht auf der Straße zu landen.
Das Erreichte: Wichtige Entwicklungen
Trotz allem hat die Bewegung ihre Spuren hinterlassen in einem Land, das noch immer tief in der dunklen Geschichte des Franquismus verankert ist und wieder den Rückwärtsgang eingelegt hat. Das Zweiparteiensystem wurde aufgebrochen, allerdings hat es Podemos nicht verstanden, dies in einer Regierungsbeteiligung in reale Verbesserungen für die breite Bevölkerung umzumünzen. Ein Blick nach Portugal zur Schwesterpartei hätte helfen können. Der Linksblock, den es dort allerdings vor zehn Jahren schon gab, hat ohne Eintritt in die Regierung über die Unterstützung der Sozialisten von außen für breite Schichten deutlich mehr erreicht. Das macht sich in der neuen Krise deutlich bemerkbar: Dort wurde die Basis und die Straße nicht deaktiviert, sondern als zentraler Bestandteil der Arbeit gesehen, die angesichts einer fehlenden Medienmacht besonders wichtig ist.
Ohne die Empörten-Bewegung wären die vielen Korruptionsskandale im Land kaum aufgedeckt worden. Sie hätten sicher, angesichts einer sehr politisierten Justiz, nicht dazu geführt, dass ein ehemaliger Vize-Regierungschef wie Rodrigo Rato genauso im Knast landet wie der Ehemann der Schwester des Königs. Juan Carlos musste wegen seiner Skandale abtreten, trotz allem wird die vom Diktator restaurierte Monarchie nach der Amtsübergabe an seinen Sohn weiter massiv in Frage gestellt. Es fanden sich, gestärkt durch die Bewegung, plötzlich mutige Richter und Staatsanwälte, die ermittelt haben, auch Verbrecher aus der Regierungspartei auf die Anklagebank setzten. Das sind wichtige Entwicklungen wie Rechte für Frauen, Homosexuelle … gegen die mobilisieren die rechten und ultrarechten Bewegungen, die sie wieder zurückschrauben wollen.
Die Chancen
Die Bewegung 15-M hat am 10. Jahrestag allerdings gezeigt, dass es sie eigentlich nicht mehr gibt. Nur Teile davon leben fort. Die Parteien, die aus ihr hervorgegangen sind, sollten schnell wieder die Verbindung zur Straße suchen und die Aktivisten stärken. Erfolge können nur erreicht werden, wenn auf zwei Beinen vorangeschritten wird. Auch auf institutioneller Ebene gibt noch einiges zu retten. Dafür müsste Podemos nach dem Abgang ihres Chefs aber massiv das Ruder herumreißen, zur Basisdemokratie zurückkehren, Alternativen aufzeigen und die Straße wieder aktivieren, um den Koalitionspartner in der Regierung wie in Portugal unter Druck zu setzen.
Podemos müsste sich auf die eigenen Wurzeln besinnen, als man die Sozialdemokraten als "Kaste" und damit richtigerweise als Problem analysiert hatte. Alternativen, die Hoffnung auf eine wahre Demokratie haben die Menschen mobilisiert, nicht ein Schmusekurs zum Regime von 1978. Tut das die Partei nicht, wird sie das gleiche Schicksal erleiden wie die Ciudadanos (Bürger), die als Podemos von rechts gegen Podemos in Stellung gebracht wurden, auch unter Mithilfe von Sozialdemokraten. Ciudadanos befindet sich längst in Auflösung, kam in Madrid nicht einmal mehr ins Parlament.
Eine schlechte Kopie der PP braucht es genauso wenig, wie es eine schlechte Kopie der Sozialdemokratie braucht. Die ist auf eine feindliche Übernahme von Podemos genauso aus, wie es die PP gerade mit den Ciudadanos durchzieht. Podemos erfolglos am langen Arm verhungern zu lassen, ist zentraler Bestandteil dieser Strategie.
Baskische Bilanz
Im Baskenland war und ist Podemos angesichts starker Gewerkschaften mit Klassenbewusstsein und einer ebenso starken sozialen Mobilisierungskraft überflüssig. Einziger Verdienst könnte sein, die baskische Linke daran erinnert zu haben, dass das Recht auf Selbstbestimmung nicht die einzige Frage auf einer linken Tagesordnung sein kann. Oder dass Menschen aktiviert wurden, die sich frustriert in ihre Nischen zurückgezogen hatten. In Euskadi bleibt Podemos kein einziges Thema, das nicht schon von anderen beackert wird. Und wo die institutionelle baskische Linke auf ihrem langsamen Weg in die politische Mitte versagt, haben soziale Bewegungen an der Basis schon längst die Zügel in die Hand genommen, um gesellschaftlichen Widerstand zu organisieren. Die Erfahrung mit der neugewählten Aragonès-Regierung in Katalonien (von ERC, der Schwesterpartei von EH Bildu) wird bald zeigen, ob eine links-sozialdemokratische Politik erfolgreich sein kann.
Podemos hat im Baskenland versagt, weil die Verantwortlichen nicht in der Lage waren, zu verstehen, dass Euskadi nicht Spanien ist, dass die Kasten nicht wie in Madrid funktionieren, dass die Gewerkschaften nicht wie im Staate Teil des Systems sind. Solche ungenauen Analysen rächen sich über kurz oder lang. Podemos entstand zur selben Zeit, als die alte baskische Linke sich zu neuen (weniger radikalen) Ufern aufmachte. Die politischen Positionen der beiden Tendenzen sind sich sehr ähnlich. Was Podemos den Weg ebnete, einen kleinen Spielraum einzunehmen, war eine anti-abertzale Haltung, nichts mit Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung zu tun haben zu wollen, die Ablehnung der Gewalt von ETA.
2011 war bereits absehbar, wohin die Züge fahren. Für Podemos wäre es billig und einfach gewesen, sich zumindest die Frage des Selbstbestimmungs-Rechts mit auf die Fahnen zu schreiben, ohne deshalb zu Protagonisten für die Unabhängigkeit zu werden. Denn Selbstbestimmung ist ein urdemokratisches Prinzip, das auch die nicht nationalistische CNT respektiert und das von autoritär-nationalistischen Systemen (wie Frankreich oder Spanien) in Frage gestellt wird, obwohl diese sich absurderweise “demokratisch“ nennen. Mit einer Unzahl von ungeübten Spontan-Politiker*innen, erlesenen VIP-Kandidatinnen und Profil-Machos hat sich Podemos von Beginn an das eigene Grab geschaufelt. Dass Pablo Iglesias einst vehement in die Menge rief, er sei stolz ein Spanier zu sein, wurde im Baskenland sehr genau zur Kenntnis genommen und nicht vergessen.
Fotoserie
Die Fotos entstammen einer Arbeit des Foto-Archiv-Txeng aus Bilbao, und wurden aufgenommen bei einer Demonstration der 15-M-Bewegung im Oktober 2011. (LINK)
ANMERKUNGEN:
(1) “Was bleibt von der großen Empörung?“ Heise.de, 16. Mai 2021, Ralf Streck (LINK)
ABBILDUNGEN:
(*) Bewegung 15-M (FAT)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-05-28)