sinnfein1Historischer Sieg von Sinn Fein

Zum ersten Mal in der Geschichte Nordirlands wird eine pro-irische, anti-unionistische und links-sozial-demokratische Partei stärkste Kraft im Parlament in Stormont-Belfast: Sinn Fein, die ehemals als politischer Arm der bewaffnet kämpfenden Irish Republican Army (IRA) geltende Partei legte bei den Wahlen 2022 kräftig zu und kam auf ca. 29% der Stimmen. Die rechte, pro-unionistische DUP hingegen verlor deutlich. Damit könnte Michelle O`Neill zur Ministerpräsidentin werden.

Die Parlamentswahlen in Nordirland waren stark vom Brexit und sozialen Themen geprägt. Die unionistische Rechte verteidigte den EU-Austritt, die republikanisch-katholische Sinn Fein setzt auf Integration, bearbeitet soziale Fragen und die Wiedervereinigung mit dem in der EU verbleibenden Irland.

In vergangenen Zeiten galt die nordirische Partei Sinn Fein als politischer Arm der Irish Republican Army, IRA. Die vergleichbare Konstellation im Baskenland stellten Herri Batasuna als Partei und ETA als bewaffnete Organisation dar. Im Gegensatz zu Herri Batasuna wurde Sinn Fein jedoch niemals illegalisiert. Im Gegenteil, im Jahr 1998 war sie der zentrale Verhandlungspartner der britischen Regierung unter Tony Blair, um das sogenannte Karfreitags-Abkommen (1) zustande zu bringen, welches das Ende der militärischen Auseinandersetzungen in Nordirland bedeutete.

sinnfein2Sinn Fein und Herri Batasuna (bzw. die Nachfolge-Organisation Batasuna) wurden zu strategischen Partnerinnen mit vielerlei Verbindungen auf unterschiedlicher Ebene. Eine Reise nach Belfast ist für viele baskische Linke bis heute ein Muss in der politischen Sozialisation. Im Vergleich zu Nordirland musste im Baskenland ein gescheiterter Verhandlungs-Prozess (2007) überwunden und weitere 13 Jahre Geduld aufgebracht werden, bis die bewaffnete Auseinandersetzung zur Vergangenheit deklariert werden konnte. Im nordirischen Fall war es ein bilateraler Prozess, als Ergebnis der Verhandlungen zwischen der britischen und der irischen Regierung sowie den republikanischen Kräften in Belfast. Was das Baskenland betrifft: hier verweigerte die spanische Seite jegliche Zusammenarbeit, einziger Ausweg war ein unilateraler Schritt der baskischen Linken und von ETA, die bewaffnete Organisation erklärte nacheinander ihren Gewaltverzicht, übergab die Waffen und gab ihre Auflösung bekannt.

Beide Seiten – Sinn Fein wie die baskische Linke – verzeichneten nach dem Ende der bewaffneten Aktionen Erfolge bei Parlamentswahlen. Im Baskenland liegt die linke Koalition Euskal Herria Bildu (mit der Batasuna-Nachfolge-Partei Sortu als stärkster Kraft) bei 30% Stimmenanteil – eine Ziffer, die Sinn Fein bei den eben durchgeführten Wahlen ebenfalls erreicht hat. EHB ist mit diesem Anteil zweitstärkste Kraft im Parlament, Sinn Fein hat Platz eins erklommen und kann auf das Amt der Ministerpräsidentin spekulieren. Beide politischen Kräfte haben ihren Diskurs seit den erfolgreichen “Normalisierungs-Prozessen“ deutlich gemäßigt und bemühen sich um eine Positionierung in der linken Mitte. EHB setzt auf Selbstbestimmung und eine Sammlung von Kräften für eine staatliche Unabhängigkeit, Sinn Fein will Nordirland wieder mit der Republik Irland vereinigt sehen.

Bedeutung des Wahlerfolgs

Was steckt hinter Sinn Fein und welche Bedeutung kann das Ergebnis haben – fragt sich ein Beitrag der Deutschen Welle im historischen Moment des Wahlerfolgs der katholisch-republikanischen Kräfte, die in den Medien unsinnigerweise gerne als “nationalistisch“ bezeichnet werden. (2)

Die Partei Sinn Fein, die Nordirland mit Irland vereinigen will, hat die Nase nach der ersten Zählrunde deutlich vorn. Nach Angaben der BBC liegt die Partei mit 29 Prozent der Stimmen weit vor der zweitstärksten Partei, der protestantisch-unionistischen DUP, auf die 21,3 Prozent entfielen. Die Alliance Party, die für keines der beiden dominierenden Lager steht, sondern die Grabenkämpfe hinter sich lassen will, vereinte nach der ersten Auszählungsrunde 13,5 Prozent der Stimmen hinter sich. Sollten die ersten Auszählungen bestätigt werden, wäre das für den Landesteil (Nordirland) des Vereinigten Königreichs ein historisches Ergebnis. Wir werfen einen Blick auf die wichtigsten Hintergründe.

Wofür steht Sinn Fein?

Die Partei der überwiegend katholischen Nationalissinnfein3ten (politisch gesehen republikanisch, sozialdemokratisch orientiert) strebt eine Herauslösung Nordirlands aus dem Vereinigten Königreich Großbritannien mit England, Schottland und Wales sowie eine Vereinigung der bislang britischen Provinz mit dem EU-Staat Irland an. Ihre schärfsten politischen Konkurrenten, die protestantischen Unionisten, stehen dem kategorisch entgegen. Jahrzehntelang war das Land durch die sogenannten "Troubles" geprägt. Die Kämpfe der Unionisten und der Nationalisten kosteten rund 3.500 Menschen das Leben. Erst mit dem Karfreitag-Abkommen von 1998 wurde Frieden geschlossen und der mehr als drei Jahrzehnte dauernde Bürgerkrieg beendet. Die Sinn Fein galt lange als politischer Arm der IRA. Jahrzehntelang war die IRA eine treibende Kraft im Land. Die IRA wurde in Großbritannien als Terror-Organisation eingestuft und erklärte erst im Sommer 2005, sieben Jahre nach dem Karfreitags-Abkommen, das Ende des bewaffneten Kampfes.

Charismatische Spitzenkandidatin

Einen großen Anteil am Wahlerfolg der Sinn Fein hat die charismatische Spitzenkandidatin der Partei, Michelle O'Neill. Anstelle der belasteten Vergangenheit des Landes rückte die 45-jährige Politikerin alltägliche Sorgen der Menschen in den Vordergrund. O'Neill gab sich bodenständig und versprach, die drängenden Probleme im Gesundheitswesen zu beheben, Menschen zu helfen, die von steigenden Preisen betroffen sind, sie präsentierte sich als Kandidatin, die Interessen aller Nordirinnen und Nordiren im Blick habe. Allerdings lassen sich auch in ihrem engen familiären Umfeld die dunklen Schatten der Vergangenheit nicht ausblenden. Zwei ihrer Cousins gehörten der IRA an. Einer wurde erschossen, der andere durch Schüsse verwundet und zu einer Haftstrafe verurteilt. Auch ihr Vater saß wegen Verbindungen zu der IRA im Gefängnis.

Brexit schwächt die Konkurrenz

Das starke Abschneiden Sinn Feins lag auch an der Schwäche der (ultrarechten unionistischen) DUP, der Democratic Unionist Party (deren militaristisch-terroristische Vergangenheit weit weniger bekannt ist als die der IRA, dank einer entsprechenden Berichterstattung in den bürgerlichen Medien). Seit Anfang des neuen Jahrtausends war die pro-britische Partei aus jeder Parlamentswahl als stärkste Kraft hervorgegangen. In ihren besten Momenten kam sie auf Werte um die 30 Prozent.

Doch mit der Entscheidung zum Brexit geriet in Nordirland vieles ins Wanken: Besonders umstritten ist das sogenannte Nordirland-Protokoll, das die Handelsströme zwischen Großbritannien und der irischen Insel regelt. Um eine harte Grenze innerhalb Irlands zu vermeiden, wurde beschlossen, eine Seegrenze einzuziehen. Dadurch bleibt der Warenverkehr zwischen Irland und Nordirland weitgehend frei. Gleichzeitig muss sich Nordirland aber weiter an viele EU-Bestimmungen halten, selbst wenn Waren aus Großbritannien in das Land importiert werden. (Das Wahlergebnis zeigt, dass ein Teil der Wählerinnenschaft aufgehört hat, nach den alten Kriterien das eine oder andere Lager zu wählen, denn soziale Fragen haben wenig mit katholisch oder protestantisch zu tun.)

Vereinigung mit Irland auf längere Zeit nicht zu erwarten

Dass der Wahlsieg der Sinn Fein zu einem schnellen Zusammenschluss mit der Republik Irland führen wird, ist unwahrscheinlich. Zwar wird sich die Partei (im Zeitraum von fünf Jahren) für die Festlegung eines Referendums einsetzen. Darin sollen Bürgerinnen und Bürger entscheiden, ob sich Nordirland mit der Republik im Süden vereinigen soll. Allerdings wird dies aus mehreren Gründen länger dauern. Das Ansetzen einer Volksabstimmung obliegt laut Karfreitags-Abkommen der Regierung in London. Diese darf sich dem Ansinnen nicht verwehren, wenn es Aussicht auf Erfolg hat. Das aber lässt sich auch aus diesem Wahlergebnis nicht direkt ableiten. Eine Wiedervereinigung wird zurzeit von nicht einmal einem Drittel der nordirischen Bevölkerung gewünscht. Priorität hat das Thema sogar nur für 15%.

Hängepartie bei Regierungsbildung erwartet

Auch hinsichtlich der Regierungsbildung steht das Karfreitags-Abkommen allzu raschen Veränderungen im Wege. Zwar erhält die Sinn Fein durch den wahrscheinlichen Sieg das Recht, mit ihrer Spitzenkandidatin Michelle O'Neill die Chefin der Einheitsregierung des Landes zu stellen. Aus dem Abkommen folgt allerdings auch, dass O'Neill ein gleichberechtigter Stellvertreter oder eine Stellvertreterin aus der DUP an die Seite gestellt werden muss.

Hinzu kommt, dass ein absehbar gutes Wahlergebnis der neutralen Alliance die Regierungsbildung voraussichtlich weiter in die Länge ziehen könnte. Denn eine starke neutrale Partei ist in dem System des sogenannten "Power Sharing" laut Karfreitags-Abkommen überhaupt nicht vorgesehen. Nicht verwunderlich, dass die Alliance das gesamte Abkommen reformieren will.

Zur Not greift London ein

sinnfein4Nach dieser Wahl stehen also drei Parteien im Fokus, deren Absichten sich kaum vereinbaren lassen: Die nationalistische Sinn Fein drängt auf ein Referendum und hat kein Interesse daran, das eher spaltende Nordirland-Protokoll aufzuheben. Das genaue Gegenteil schwebt dagegen der DUP vor, während die Alliance das dualistische System, das beide Parteien begünstigt, aufbrechen will. Trotz des historischen Wahlsieges von Sinn Fein zeichnet sich in Belfast also eine längere Hängepartie ab.

Ungewöhnlich sind solche unsicheren Zustände in Nordirland nicht, schon die letzte Regierung in Belfast brach im Streit um das Nordirland-Protokoll auseinander. Für eine Lösung ist in der Verfassung schon gesorgt: Ohne handlungsfähige Regierung würden die Geschicke des Landes vorerst aus London gesteuert. Der britische Premier Boris Johnson steht an der Seite der Unionisten. (2)

Baskische Wahlanalyse

Wenn sich dieser klare Sieg bei den Stimmen auch in Sitzen niederschlägt und Sinn Fein die stärkste Kraft in der Versammlung wird, kann sie die nordirische Premierministerin wählen, was in der hundertjährigen Geschichte des Landes beispiellos wäre. Dies ist ein Meilenstein, der ausgerechnet am symbolträchtigen 5. Mai, dem 41. Todestag von Bobby Sands, erreicht wurde. Der IRA-Gefangene Sands war einer jener Hungerstreikenden im Gefängnis Long Kesh, die den Streik bis zu ihrem Tod durchhielten. (3) (4)

Die Tatsache, dass Sinn Féin nach Auszählung von 100% der Erstpräferenz-Stimmen ihre besten Umfragewerte verbessert hat, verschafft ihr einen Vorteil, der für das Endergebnis ausschlaggebend sein könnte. Sie wird an Stimmen und an demokratischer Legitimität gewinnen, aber vor allem wird sie einen Vorteil haben, wenn es darum geht, die Sitze zu gewinnen, die sich aus den sogenannten Resten ergeben, denjenigen, die auf der Grundlage der übrigen Präferenzen entschieden werden. Denn beim nordirischen Wahlsystem können die Wähler nicht nur ihre bevorzugte Partei und ihre bevorzugten Kandidat*innen wählen, sondern auch die nächsten Kandidaten, die sie unterstützen möchten, in ihre Präferenzliste aufnehmen. Aus der Gewichtung dieser Zweitstimmen ergeben sich weitere Parlaments-Sitze. Obschon im Vorfeld der Wahl davon ausgegangen wurde, dass Sinn Fein bei den Erststimmen gewinnen könnte, gab es Zweifel daran, ob sie in der Lage sein würde, auch bei den Präferenzen Punkte zu sammeln. Die Tatsache, dass so viele für sie als bevorzugte Partei gestimmt haben, deutet darauf hin, dass bereits eine Grenze überschritten wurde (3).

Im Baskenland werden die Entwicklungen in Nordirland mit besonderem Interesse verfolgt. EH Bildu-Chef Arnaldo Otegi ließ sich die Gelegenheit nicht entgegen, am Wahltag persönlich anwesend zu sein, nachdem sich irische und nordirische Politiker*innen mehrfach für den baskisch-spanischen “Normalisierungs-Prozess“ stark gemacht hatten. Für Bildu werden die Erfolge von Sinn Fein als Bestätigung der eigenen politischen Strategie gewertet; Bildu-kritische Beobachter*innen sehen sowohl hier wie auch dort eine Tendenz zu Sozialdemokratisierung, weg von linken Positionen.

ANMERKUNGEN:

(1) Das Karfreitags-Abkommen (englisch: Good Friday Agreement, Belfast Agreement oder Stormont Agreement) ist ein Übereinkommen zwischen der Regierung der Republik Irland, der Regierung des Vereinigten Königreichs und den Parteien in Nordirland vom 10. April 1998. Mit dem Abkommen wurde die seit den 1960ern gewaltgeladene Phase des Nordirland-Konflikts beendet und in eine politische Konsenssuche überführt. Zwar gab es nach dem Karfreitags-Abkommen noch einzelne Gewalttaten, diese hatten aber keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung. Bei getrennten Referenden in der Republik Irland sowie in Nordirland wurde das Abkommen bestätigt. (LINK)

(2)“Sinn Fein liegt bei Nordirland-Wahl deutlich vorne“, Deutsche Welle, 2022-05-06 (LINK)

(3) Bobby Sands (1954-1981) starb bei einem Hungerstreik der IRA-Gefangenen gegen die Haftbedingungen im Gefängnis Maze (auch als „Long Kesh“ bekannt), weitere neun Gefangene starben ebenfalls. Zuvor war er ins britische Parlament gewählt worden. Sands wurde zum Symbol des republikanischen Widerstands in Nordirland. (LINK)

(4) ”Sinn Féin confirma su histórica victoria con mejor resultado aún del previsto” (Sinn Fein bestätigt historischen Sieg mit besserem Ergebnis als erwartet), Tageszeitung Gara, 2022-05-06 (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Sinn Fein (elpais)

(2) Sinn Fein (deutsche welle)

(3) Sinn Fein (wikipedia)

(4) Sinn Fein (deutsche welle)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-05-08)

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