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Ion Arretxe, Mikel Zabalza

"Er starb, wie ich hätte sterben können" – Diese Aussage stammt von Ion Arretxe, der 1985 zusammen mit dem Busfahrer Mikel Zabalza und zwei weiteren Personen verhaftet wurde. Dieser beeindruckende und fatale Satz prägt den Dokumentar-Film "Non dago Mikel?“ (Wo ist Mikel?), der kürzlich vorgestellt wurde. Arretxe und Zabalza wurden fälschlicherweise für ETA-Mitglieder gehalten, beide wurden schwer gefoltert. Mikel Zabalza starb an den Misshandlungen, Ion Arretxe überlebte. Der Fall blieb ungestraft.

Der Dokumentar-Film “Non Dago Mikel? (Wo ist Mikel?) beschreibt Verhaftung, Folter und Tod des aus Navarra stammenden Busfahrers Mikel Zabalza. Er zeigt auch die Jahrzehnte andauernde Repressions- und Folter-Praxis der Guardia Civil am Beispiel der Kaserne in Donostia-Intxaurrondo.

Mikel Zabalza Garate (1952-1985) war ein baskischer Busfahrer, der in Donostia, San Sebastián, arbeitete. Durch die Umstände seines Todes wurde er weit über die Grenzen des Baskenlandes hinaus bekannt. Am 26. November 1985 wurde Zabalza, der keine Verbindungen zu ETA-Strukturen hatte, im Rahmen einer Anti-Terror-Operation gegen die Untergrund-Organisation von der Guardia Civil verhaftet und in die Intxaurrondo-Kaserne gebracht, wo er nach journalistischen Untersuchungen und späteren Aussagen an den Folgen der Folter starb, der er während der brutalen Verhöre ausgesetzt war. Drei Wochen später, am 15. Dezember 1985, wurde seine Leiche in den Gewässern des Flusses Bidasoa gefunden. Nach Polizeiversion war er bei einem Fluchtversuch ins Wasser gestürzt.

Der mit Mikel Zabalza verhaftete Ion Arretxe (die beiden kannten sich nicht) überlebte die Folter. Er war in der Lage, die Geschichte zu erzählen, obwohl er drei Jahrzehnte brauchte, um die schreckliche Erfahrung der Misshandlungen zu überwinden und sie zu Papier zu bringen. Die Schilderung dessen, was Arretxe in jenen Tagen ertrug, ist der Spiegel des Todes des jungen Mikel Zabalza aus Orbaizeta.

arretxe2Die Razzia

"Morgens um 3.30 Uhr haben sie mich aus dem Bett geholt. Ich schlief und sie haben mich aus dem Bett geholt. Schreie kamen aus dem Wohnzimmer auf der anderen Seite des Flurs.

“Nehmen Sie mich mit!“ ... schrie mein Vater: "Nehmt mich mit!“ - “Hörst du? Dein Alter schreit wie ein Schwein", sagte der dunkelhaarige Mann mit dem Schnauzbart, der einzige in Zivil. “Schaut nicht aus dem Fenster, verdammt noch mal! Meine Männer haben Befehl zu schießen!"

Am Fluss

"Ich spürte das Klappern des Geländewagens. Wir hatten die Straßenoberfläche verlassen und fuhren einen Waldweg hinauf.“ – “Wo bringen Sie mich hin?", begann ich voller Angst zu schreien. “Was ist los? Tagsüber ein Hahn und nachts eine Henne? Ihr seid wohl nur genug Mut, uns von hinten anzugreifen, oder?“

Ich weiß nicht, noch werde ich jemals wissen, wohin sie mich gebracht haben. Wir stiegen aus dem Auto aus. Dort wartete eine Gruppe von Leuten im Wald. Die Straße versank im Schlamm. Die Schatten lachten und kündigten die bevorstehenden Horror an.

Der Leidensweg, dieser Berg ohne Namen. Sie umwickelten mich mit Klebeband, ratsch, ratsch, mit einem Klebegerät in der Hand, ratsch, ratsch, rundherum, ratsch, ratsch, wie eine Mumie. Das Band quietschte bei jeder Drehung, ratsch, ratsch, mit einem Sägegeräusch. Und ich habe geschrien wie ein Schwein. “Lasst mich hier nicht sterben!“ Alles war erfüllt von dem süßlichen Geruch des Flusswassers.

“Du weißt, was das ist, nicht wahr? Nun, wenn du reden willst, streck Kopf raus.“ Das Wasser des Flusses, das mir bis dahin angenehm und wohltuend erschienen war, verriet mich nun. Mehrere von ihnen hielten mich fest, warfen sich auf mich, mit ihren Knien, mit ihren Armen, mit dem ganzen Körper, während ein anderer meinen Kopf unter Wasser drückte.

Ich versuchte, meinen Kopf zu heben, aber es war unmöglich. Ich nahm einen Atemzug, so viel Luft wie ich konnte. Ich rief: “Ich bin nicht von ETA, ich bin nicht von ETA“. Dann wurde ich wieder unter Wasser gedrückt.

arretxe3Die ersten paar Male hatte ich die Kraft und den Impuls zu schreien. Dann wollte ich nur noch kotzen (ich habe alles ausgekotzt). Und am Ende habe ich mich im Inneren leer gefühlt. Sie haben mich vor dem Tod gerettet, wenn sie Lust dazu hatten.

Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat. 1.000 Jahre? 2.000?

Das eiskalte Wasser drückte auf meine Schläfen und sickerte durch alle meine Öffnungen. Ich spürte, wie mir das Leben entglitt, wie ich mich mit Wasser füllte. Sie zogen mich wieder raus, damit einer von ihnen meine Fingernägel ansehen konnte, die außerhalb der Plastiktüten geblieben waren. Ich habe das geschluckte Wasserwieder ausgekotzt. Wie ich später erfuhr, zeigten die Blutergüsse an den Fingern den Grad der Erstickung an, und ob sie mich weiter foltern konnten."

Todesgefühle

"Ich fühlte, wie sich die Neuronen in meinem Schädel drehten. Das Gehirn war durch den Luftmangel immer größer geworden, nach und nach, wie ein Biskuitkuchen im Ofen. Für meine Neuronen war immer noch Platz, immer weniger, um sich zu drehen. Bald würde die Hirnmasse so stark wachsen, dass sie die ganze Schädelhöhle einnimmt, alles würde sich verdichten, Klack, und das Gehirn würde stillstehen.

Vielleicht mit dem Tod, dachte ich, vielleicht mit dem Tod. Klack. Der Kuchen wuchs an, bis er den Ofen füllte. Klack. Mein Gehirn und mein Schädel waren gekoppelt. Und ich, glücklich. Mit dem dummen Lächeln des Ertrunkenen, dem seltsamen Süß eines guten Todes. Und ich, tot".

Die Badewanne

"Einige Guardia Civiles kamen herein, schnell und laut wie ein Rudel Hyänen, und warfen die Decke über mich. Man konnte das Rauschen eines Wasserhahns hören, das Wasser spritzte. Während sie mich mit aller Kraft festhielten, erschien José Vélez mit dem Klebeband-Apparat in der Hand. Und ohne sein Lächeln aufzugeben, begann er, mich wie eine Mumie einzuwickeln, ratsch, ratsch, genau wie im Wald.

Schreckliches Gelächter und Kriegsgeschrei. Mehrere von ihnen packten mich und trugen mich weg wie ein Bündel, ohne die Erde zu berühren. “Vorwärts, du Soldat", sagte einer von ihnen zu mir. Und außerdem: “Du wirst die olympische Medaille im Schwimmen in der Badewanne gewinnen.“ – “Mit meinen Füßen stemmte ich mich gegen den Rahmen der Badezimmertür, um zu verhindern, dass sie mich durch das Loch schoben.“

“So ein Mistkerl!“ Sie mussten mehrfach manövrieren, bis die Ladung gerade gebogen war und sie sich auf den Weg zum Badezimmer machten. “Lasst mich hier raus!“

“Vorwärts du Soldat“. Blupp, blupp, blupp. Nach zwanzig oder dreißig Tauchgängen hörst du auf, um dein Leben zu kämpfen und ergibst dich dem Unvermeidlichen".

arretxe4In der Intxaurrondo-Kaserne

"Er erzählte mir, dass einige namhafte ETA-Mitglieder hier durchgeschleust worden waren. Und dass einer von ihnen, einer der härtesten der Gruppe, mit Strom direkt aus der Steckdose verhört worden war. “Du kannst dir nicht vorstellen, was für Sprünge dieser riesige Hurensohn gemacht hat.“ Er hat geschrien wie ein Schwein, der Bastard, er hat lauter geschrien als du, das will schon was heißen.

Und er fuhr fort: “Sie hatten ihn ausgezogen und nass gemacht. Genau dort, in der Küche, wo du ein paar Mal warst. Und damit der Strom nicht übersprang, hielten ihn mehrere von ihnen auf einer Decke fest. Jedes Mal, wenn sie die Drähte einsteckten, sprang er an die Decke. Verflucht nochmal! So etwas hatte ich noch nie gesehen.“

Epilog 1

"Ich habe Mikel Zabalza nie gesehen, also werde ich nicht so verwegen sein, mit Sicherheit zu sagen, was mit ihm passiert ist. Er ist gestorben, wie ich hätte sterben können. So willkürlich sind Leben und Tod" (Ion Arretxe). Als Mikel Zabalzas Mutter nach der Verhaftung zur Polizei ging, um nach ihrem Sohn zu fragen, wurde ihr gesagt: “Wenn Sie ihn verloren haben, gehen Sie doch zum Fundbüro“. Die beiden Filme-Macher*innen Miguel Angel Llamas und Amaia Merino haben den gesamten Fall in der Dokumentation “Non dago Mikel?“ aufgezeichnet.

Epilog 2

Im spanischen Staat wird gerne über den politischen und polizeilichen Sieg gegen ETA gesprochen. Dass bei diesen Anstrengungen kontinuierlich ein schmutziger Krieg praktiziert wurde, interessiert fast niemand, nicht die Justiz, nicht die Sozialdemokraten und die postfranquistische spanische Rechte schon gar nicht. Neben der Polizeifolter taten sich bei staatlich organisierten Todesschwadronen Uniformierte, Rechtsradikale und bezahlte Killer zusammen, um auf Linke Jagd zu machen und sie zu ermorden. Was bei ETA als “Terror“ bezeichnet wird, ist auf der anderen Seite ein “Verdienst fürs Vaterland“. Alle (der wenigen) verurteilten Folterer wurden schnell begnadigt und allesamt befördert und ausgezeichnet.

Im Februar 2021 kam der Mitschnitt eines Telefonats an die Öffentlichkeit, in dem sich zwei Zivilgardisten zwangslos über den Foltertod von Zabalza unterhalten. Vor Gericht wurde dieses Audio seinerzeit nicht zugelassen! Personen wie José Miguel Etxeberria “Naparra“ oder Eduardo Moreno Bergaretxe “Pertur“ sind seit 40 Jahren spurlos verschwunden, niemand außer den Familien sind an Aufklärung interessiert. Dass die baskische Regierung, die baskische Linke, Amnesty International und andere Menschenrechts-Gruppen eine Wahrheits-Kommission fordern, die die Gewalt auf allen Seiten aufarbeitet, sind Rufe in der Wüste. Der Staat bleibt weiter tief in seinen franquistischen Wurzeln verhaftet. Nur Podemos und die peripheren regionalen Bewegungen haben das verstanden.

arretxe5Epilog 3

Der Schriftsteller, Drehbuchschreiber und Zeichner Ion Arretxe starb im Jahr 2017 im Alter von 52 Jahren an einem Lungenkrebs. Seine Folter-Erfahrungen schrieb er nieder in einem Buch mit dem Titel “Intxaurrondo. La sombra del Nogal“ (Intxaurrondo. Der Schatten des Walnuss-Baums – der Name der Guardia Civil Kaserne Intxaurrondo ist baskisch und bedeutet tatsächlich Walnuss-Baum). Freunde sprachen von einem überraschenden Tod. Der 1964 geborene Arretxe wurde mit 21 Jahren mit Zabalza und zwei anderen Personen festgenommen und schwer misshandelt (Mikels Freundin und sein Cousin).

In einem Interview mit ehemaligen Monatszeitung Diagonal erklärte Arretxe: "Folter war in Euskal Herria eine gängige Praxis, besonders im Kampf gegen ETA, ich denke mit drei Zielen. Die erste ist, Informationen zu erhalten. Als sie mich verhafteten und aus meinem Haus holten, brachten sie mich als erstes in den Wald und verhörten mich an einem Fluss, ich denke, mit dem dringenden Bedürfnis, Informationen zu bekommen. Dort fragten sie mich nach dem Kommando, danach, wo die Waffen wären. Zweites Ziel ist, Leute zu demütigen, sie als Person zu zerstören. Dann gibt es noch ein weiteres Ziel: der Gesellschaft eine Lektion zu erteilen, damit mehr Menschen um dich herum sehen, was mit dir passieren kann, wenn du dich in bestimmten Kämpfen oder in bestimmten Gruppen engagierst oder wenn du ein Mitglied der baskischen Linken bist".

ANMERKUNGEN:

(1) “Murió él, como podía haber muerto yo” (Er starb, wie ich hätte sterben können) Tageszeitung Gara, 2021-03-07 (LINK)

(2) “Fallece el escritor Ion Arretxe, detenido y torturado junto a Mikel Zabalza” (Tod des Schriftstellers Ion Arretxe, der mit Mikel Zabalza zusammen verhaftet und gefoltert wurde) Tageszeitung Publico, 2017-03-18 (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Zabalza-Arretxe (FAT)

(2) Non dago Mikel? (Diario de Noticias)

(3) Gedenken (Publico)

(4) Ion Arretxe (Publico)

(5) Non dago Mikel? (Diario de Noticias)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-03-10)

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