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Die Vergessenen von San Francisco

“ELLAS – SIE” ist der Titel des Projekts, mit dem die Fotografin Ainhoa Resano die Erinnerung an Frauen aus dem Stadtteil “aus den Familien-Alben auf die Straße“ gebracht hat. Die Rückbesinnung an “SIE“ ist eine Hommage an die Nachbarinnen, die “viel erlebt und wenig erzählt haben“. Sie alle haben in den 1960er und 1970 Jahren im Stadtteil San Francisco (Bilbao) gelebt, in den Straßen Cortes und San Francisco. In dem nach Kalifornien klingenden Stadtteil, der seinen Namen von den Franziskanern hat.

Frauen in der franquistischen Gesellschaft: unsichtbar, ignoriert, vergessen. Mit ihrer Ausstellung ELLAS – SIE auf den Straßen des Arbeiterviertels San Francisco in Bilbao hat die Fotografin Ainhoa Resano die Frauen aus der Vergessenheit zurückgeholt und stellt sie Jahrzehnte später wieder vor. In einem Stadtteil, der die schwierige Aufgabe vor sich hat, eine auf Vertreibung angelegte Gentrifizierungs-Politik aufzuhalten.

Frauen kehren zurück in die “Oberen Barrios“ von Bilbao

Quica La Barquillera – Merche, vom Süßigkeiten-Laden – Juli, die Besitzerin der Julene Bar, die mit 14 Jahren begann, billigen Wein zu verkaufen – Paqui, Schneiderin aus Cordoba, die auch für Priester arbeitete … sie sind mittlerweile zwischen 55 und 95 Jahre alt. Die meisten von ihnen leben immer noch im Stadtteil San Francisco, weil sie nie fortwollten. Einige sind schon tot. Nach vielen Jahren sind sie nun mittels eines Foto-Projekts von Ainhoa Resano auf die Straße zurückgekehrt, zumindest vorübergehend sind sie wieder sichtbar geworden. In den “barrios altos“ von Bilbao, den “oberen Barrios“, so werden San Francisco, Zabala und Miribilla genannt, weil sie am Berg und hoch über dem Nervion-Fluss liegen. Dort, wo einst die Eisenerz-Minen waren, wo viele spanische Migranten ankamen, um sich ein besseres Leben aufzubauen, wo die ersten großen Generalstreiks organisiert wurden.

ema002Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die “barrios altos“ zu Migranten-Vierteln, mit harter Arbeit im Bergwerk und elenden “untermenschlichen“ Lebensbedingungen. Hier formierte sich die baskische Arbeiterbewegung, um gegen den Industrie-Kapitalismus zu kämpfen. Deshalb wurde zu gleicher Zeit eine Kaserne gebaut, um die Revolutionäre in Schach zu halten. In der Cortes-Straße war die Prostitution angesiedelt, die in jener Epoche vor 100 Jahren noch von Baskinnen ausgeübt wurde. Es waren die Barrios der Arbeiter-Versammlungen und der Straßen-Barrikaden. Und meist waren es Männer, die zu Protagonisten wurden und die Blätter der Zeitungen füllten.

Erinnerung mit Verfallszeit

Dem setzt Ainhoa Resano derzeit ihre Ausstellung auf offener Straße entgegen. Eine Art von später Wertschätzung. Eine Ausstellung unter freiem Himmel mit Verfallszeit. Denn wenn die Großkopien nicht gefallen, kann schnell einmal Hand angelegt werden; und die winterliche Feuchtigkeit tut ihr Übriges. Großformatig sind die schwarz-weiß Papier-Fotos an geschlossene Rollläden geklebt, zwei auf drei, drei auf vier Meter, immer genau dem Hintergrund angepasst. Trotz ihrer Schlichtheit vermitteln sie die Aura von Nostalgie und Faszination. In San Francisco gibt es eine Menge solcher Rollos, die seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr geöffnet werden, weil die Läden, Geschäfte oder Werkstätten, die sie beherbergten, längst nicht mehr existieren.

Ainhoa Resano ist eine Fotografin mit "feministischem Blick". Auf einigen der Abbildungen hat sie anonyme Frauen aus der Vergessenheit geholt, in anderen Fällen hat sie Familienalben durchstöbert und die Geschichten der dazugehörenden Frauen sichtbar gemacht. Großformatige Papier-Fotografien, aufgenommen in den 60er und 70er Jahren, sind auf die geschlossenen Fensterläden von etwa zwanzig Geschäften geklebt, von denen die meisten reichlich Staub angesetzt haben.

"Die Geschichte der Barrios wurde im Wesentlichen immer von Männern erzählt. Die Frauen erzählen von ihren häuslichen Erfahrungen"

Bei der Straßenausstellung “ELLAS – SIE“, so der Titel dieses Projekts, erscheinen Frauen auf alle möglichen Arten: kniend, wie Isabel, während sie das Vorderrad eines Autos wechselt – mit Freundinnen spazieren gehend, mit einem Lächeln in die Kamera schauend – beim Amüsement in Bars. In Erinnerung daran, dass auch sie einmal Mädchen waren, mit ihren kleinen weißen Kleidern, Locken, hohen Schuhen ... Endlich erscheint die Nachbarschaft einmal mit ausschließlich weiblichem Unterton.

ema003Die riesigen unübersehbaren Papierdarstellungen erinnern an eine für ältere Nachbar*innen durchaus bekannte, aber weit zurückliegende Vergangenheit von Läden und Geschäften. Als Bilbao eine riesige Ansammlung mit kleinen Geschäften und Lokalen war. Wie zum Beispiel Kurzwaren Mari, deren Besitzerin Wolle nach Gewicht verkaufte. "Leere Läden scheinen keine Geschichte zu haben", beklagt Resano, die das Verschwinden so vieler Geschäfte mit der wirtschaftlichen Entwicklung und dem anonymen Leben dieser Frauen in Verbindung bringt, die "viel gelebt und wenig erzählt haben, weil die große Geschichte immer von Männern erzählt wurde", reflektiert sie.

Die Künstlerin aus Iruñea-Pamplona lebt seit einem Vierteljahrhundert in der Hauptstadt Bizkaias. Doch das aktuelle Werk entstand erst 2017 und hat verschiedene Phasen durchlaufen. “ELLAS – SIE", so beschreibt sie, ist ein partizipatorisches Projekt von Fotografie und Erinnerung, das darauf abzielt, "bisher gut gehütete Familien-Episoden“ über Familienalben zu erforschen, darzustellen und sichtbar zu machen. Dabei werden auch “intime Geschichten“ mancher Häuser offenbar.

Klischees zerstören

"Das ist ein Übergang vom Privaten zum Öffentlichen, von den Einzelnen zur Gemeinschaft. Eine Angelegenheit zwischen Kulturerbe und Vergessenheit. Ein kollektives Album", bekräftigt Resano. Die Künstlerin wurde in die Wohnungen vieler Protagonistinnen eingeladen, um "ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden, ohne über das Vorgefundene zu lachen. Sie erzählten mir, wie ihr Leben aussah, wie sich die Nachbarschaft verändert hat, wie die Geschäfte aussahen, in denen sie einkauften. Man ging in das Haus der einen und es tauchten Fotos der anderen auf", erzählt sie begeistert.

Sie erinnert sich daran, dass sie auch in die Kirche am Plaza Corazón de María gegangen ist. "Ich habe Stimmen von allen möglichen Frauen aufgeschnappt", sagt sie. "Die Entdeckungen, Verbindungen und Begegnungen sind alle im selben Erinnerungs-Atlas aufgezeichnet. Wer sich aus Scham oder weil es Schmerzen verursacht nicht erinnern will, ist im Recht. Dem gegenüber steht das aufgezwungene Vergessen, das Tabus aufrechterhält und stereotype Frauenbilder verstärkt. Wer die Geschichten erbt, erbt auch das Schweigen", sagt sie.

Als sie sich auf den Bildern in der Straße sahen, waren alle Frauen "erfreut und stolz", ihre Anonymität hinter sich zu lassen und "die Nachbarschaft über sich reden zu lassen. Ich wollte das sichtbar machen, was im allgemeinen Gedächtnis nicht existiert, dem eine Bedeutung beimessen, es auf die Straße werfen und die von anderen verordneten Klischees in Frage stellen". “ELLAS – SIE“ werden zu Hüterinnen einer bisher nie gesehenen Erinnerung.

ema004Kritische Stimmen

“Es ist unbedingt positiv, dass die Geschichten von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft an die Öffentlichkeit gebracht und thematisiert werden. Gerade in einem Barrio wie San Francisco, wo 80 Prozent der auf der Straße sichtbaren Personen Männer sind“, kommentiert Amaia Urrutikoetxea vom Kulturverein Baskale. Doch dann folgt eine Einschränkung. “Die öffentliche Ausstellung von Ainhoa Resano ist eine von vielen Kunstprojekten, die im Stadtteil in den vergangenen Jahren angesiedelt waren. Wir fragen uns, warum immer hier und nicht in der Altstadt, in Santutxu oder in Deustu? Auch dort gibt es Geschichten von Frauen, die es verdienen, erinnert zu werden. Es ist keine Kritik am vorliegenden Projekt. Aber Tatsache ist, dass die Barrios Altos in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem beliebten Ort von künstlerischer Kreativität geworden sind.“ (2)

Auf Nachfrage geht Amaia weiter ins Detail: “Der positive Aspekt ist, dass ein wenig Farbe und Inhalt in diesen teilweise trostlosen Stadtteil-Alltag gebracht wird. Der negative Aspekt ist, dass das Barrio aufgewertet wird im Sinn von Investoren, Banken und einer äußerst konsumfreudigen Kundschaft, die alles verinnerlicht, was angeboten wird. Postmoderne Gaststätten mit hohen Preisen, jedes normale Wochenende fällt die Yuppi-Szene aus dem Großraum Bilbao über die Barrios Altos her.“

Kunst als urbanistische Brechstange

Tatsache ist, dass es nirgendwo sonst in Bilbao so viele Galerien und Kunst-Einrichtungen gibt wie hier. Jedes halbe Jahr kommt eine dazu. “Soll aber niemand denken, dass die Armen und Migrantinnen und Arbeitslosen, die hier leben, plötzlich ihre künstlerische Ader entdeckt haben. Es handelt sich um Aktivitäten, die dem Barrio weitgehend fremd sind, sowohl was die Anbieter*innen wie auch die Konsument*innen anbelangt. Der Stadtteil wird attraktiv, die Preise in den Kneipen und Wohnungen steigen, Investoren werden angezogen. In einem langsamen Prozess werden die alten Bewohner*innen aus diesem ehemaligen Bergbau-Viertel verdrängt, ganz so, wie es der Stadtverwaltung mit ihrer neoliberalen Politik gefällt. Die Soziologinnen nennen das Gentrifizierung und immer mehr Alteingesessene sind sich dieses Problems bewusst.“

An dieser Stelle stellt sich selbstverständlich die Frage nach der Alternative. Amaia: “Hier geht es nicht um Alternativen, nicht um schwarz oder weiß, nicht um richtig oder falsch. Wer hier eine Galerie aufmachen will, soll es tun. Mich würde lediglich interessieren, weshalb gerade hier. Das wäre ein erster aufschlussreicher Anhaltspunkt. Zweitens sollen diese Leute die minimale Empathie mitbringen, sich vorzustellen, was ihre Aktivität für das Barrio bedeutet. Sind sie dazu fähig? Es gibt schließlich durchaus auch kreative Aktivitäten vom Barrio für das Barrio, die keinen vergleichbaren Schaden anrichten, zum Beispiel verschiedene Aktionen der Gau Irekia (offene Nacht), oder historische Rundgänge durch die Stadtteile. Ein Problem ist, dass die Basis-Initiativen, angefangen von den selbstorganisierten Volkfesten, von der Stadtverwaltung fast nicht unterstützt werden. Seit Jahren gibt es sogenannte Jane-Jacobs-Rundgänge durch die verschiedenen Viertel …“. (3)

ema005Jane Jacobs?

“… genau. Jane Jacobs war eine kanadische Schriftstellerin und Architektur-Kritikerin. Sie war eine Aktivistin, die in New York und Toronto Flächen-Sanierungen bekämpfte, die zur Vertreibung der anwesenden Bevölkerung führen sollten. Ihr Name und ihr Konzept dient den Initiatorinnen in San Francisco zur Durchführung von kritischen Rundgängen durch das Barrio, um zu sehen, was wo war und was geplant ist. Denn oft wissen wir nicht, woran in der Nebenstraße gerade gearbeitet und geplant wird.

Ein Fazit?

“An der guten Absicht von Ainhoa habe ich keine Zweifel. Das Projekt ist begrüßenswert, weil es das Bewusstsein über die Geschichte des Barrios erweitert. Und weil es dieser Geschichte den oft unterschlagenen femininen Aspekt hinzufügt. Zorionak! Aber wir leben nicht in einem neutralen Raum, sondern müssen uns hier wehren gegen Spekulation, Tourismus-Wohnungen, die uns die Mieten verteuern, gegen Spekulations-Haifische und gegen Polizei-Willkür. Die Stadtverwaltung unterstützt kreative Aktivitäten im Barrio und schickt ihre Polizei gegen Migrant*innen. Irgendetwas passt da nicht zusammen. Darüber müssen wir uns bewusst sein. Dies ist kein netter Stadtteil, es ist ein Ort, an dem verflucht harte Existenzkämpfe ausgefochten werden. Hier ist Klassenkampf wie vor 150 Jahren. Da müssen auch die Kreativen Stellung beziehen.“

Noch ein Wandbild

Dieser Tage hat die Stadtverwaltung Bilbao ein Wandbild in Auftrag gegeben, das patriarchale Gewalt thematisieren soll. Der Entstehungsort liegt ebenfalls zwischen den Barrios San Francisco und Bilbao La Vieja. “Es ist unbedingt positiv, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit thematisiert und optisch dargestellt wird. Ich frage mich allerdings, warum gerade in diesem Stadtteilen. Warum nicht am Arenal-Park? Weil da zu viele Touristen vorbeikommen, die mit diesem Thema nicht belästigt werden sollen? Der Standort könnte so gesehen auch eine Markierung sein: hier gibt es besonders viel patriarchale Gewalt. Das Wandbild wird ausreichend groß werden, um über Bilbao hinaus Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist die Absicht der Verwaltung: Schlagzeilen produzieren. Es gibt bereits jetzt in der internationalen Presse Berichte, die die genannten Stadtteile als Kunst- und Boheme-Orte loben. Es ist klar, welche Art von Besucher*innen das anzieht. Auch das ist Gentrifizierung.“

Foto-Reportage

Eine Bilder-Serie des FOTO ARCHIV TXENG (FAT) zeigt verschiedene der Foto-Installationen von Ainhoa Resano im bilbainischen Arbeiter-Stadtteil San Francisco. (LINK)

ANMERKUNGEN:

(1) “Las mujeres vuelven a los barrios altos de Bilbao” (Frauen kommen in die oberen Barrios von Bilbao zurück), Tageszeitung El Correo, Autor: Luis Gomez, 2021-01-30) (LINK)

(2) Das Interview mit Amaia Urrutikoetxea wurde in schriftlicher Form durchgeführt.

(3) Jane Jacobs (*4. Mai 1916 in Scranton, Pennsylvania als Jane Butzner; † 25. April 2006 in Toronto) war eine in den USA geborene kanadische Sachbuchautorin, Stadt- und Architekturkritikerin. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren lebte sie im New Yorker Stadtviertel Greenwich Village. Um das Jahr 1960 sollte dort eine großangelegte Flächensanierung durchgeführt werden. Dies hätte den Verlust von über 80 % der vorhandenen, gemischten und gewachsenen Bausubstanz und die Verdrängung von tausenden Bewohnern, darunter viele Künstler und Gewerbetreibende, zur Folge gehabt. Nach dem gleichen Schema waren bereits seit Anfang der 1940er-Jahre unter der Ägide von Robert Moses in New York eine größere Anzahl von Flächensanierungen durchgeführt worden. (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Frauenbilder (FAT)

(2) Frauenbilder (FAT)

(3) Frauenbilder (FAT)

(4) Frauenbilder (FAT)

(5) Jane Jacobs (wikipedia)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-02-13)

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