pasto1Simone Veil 2022 in Muskildi

Pastoral bedeutet eigentlich seelsorgerisch und wird Priestern als Aufgabe zugeschrieben. Im französischen Baskenland – Iparralde – handelt es sich um ein Volkstheater, das jedes Jahr den Ort wechselt. Das Pastorala-Theater hat ebenfalls einen religiösen Ursprung, der über die Jahrzehnte langsam weltlichen Themen gewichen ist. Spielort war in diesem Jahr Muskildi, ein Dorf südlich der Stadt Maule. Thema war Simone Veil (2027-2017), Holocaust-Überlebende und spätere Präsidentin des Europa-Parlaments.

Pastorala-Theater werden in der baskischen Provinz Zuberoa seit dem 17. Jahrhundert organisiert. Themen sind historische Ereignisse oder Persönlichkeiten. Vorbereitet und gespielt wird das Theater auf offenen Plätzen von der Bevölkerung des jeweiligen Ortes. 2022 stand die Politikerin Simone Veil im Mittelpunkt.

Muskildi spielt Simone Veil

Im Jahr 2022 war als Austragungsort für die Pastorala wieder einmal das Dorf Muskildi (frz: Muskuldy) an der Reihe, 15 Kilometer vor der Provinz-Hauptstadt Maule gelegen (frz: Mauleon). Wie üblich hatten Dutzende von Bewohner*innen ein Jahr lang regelmäßig geprobt für die drei Auftritte im Juli und August. Allen voran Tanz- und Gesangsvereine und Chöre. Von Professionellen werden in der Regel nur Lieder, Texte und das Drehbuch geliefert.

Eüskara

pasto2Im Mittelpunkt der Pastorala-Aufführungen steht das Euskara, die einheimische baskische Sprache, die hier Eüskara genannt wird. Dieses Eüskara ist einer der historischen Dialekte der baskischen Sprache, vor allem seine Schreibweise ist speziell: “Wir danken“ heißt in der modernen Baskisch-Version “eskertzen ditugu“, im Zuberotarra jedoch “eskertzen dütügü“ – der im Deutschen als Umlaut bekannte Buchstabe sticht allerorten ins Auge. Selbst die muttersprachlichen Euskara-Profis aus dem Süden haben ihre Probleme, diesen Dialekt zu verstehen. Die Alten aus der Landwirtschaft sprechen hier Baskisch, die Jungen ebenfalls, wenn sie in die Baskisch-Schulen gehen. Dennoch ist der Eüskara-Anteil noch gering. Die Namen an den Friedhofsgräbern sind fast ausschließlich baskisch. Obwohl nicht offiziell sind alle öffentlichen Schilder zweisprachig, an den Rathäusern hängt ganz selbstverständlich die Ikurriña-Flagge der Region Baskenland (Euskadi), die in Navarra viele nicht sehen wollen. Doch das nur am Rande. Bei der Pastorala machen alle mit, ob euskaldun oder nicht.

Singen und gehen

Das Pastorala-Theater ist nicht eines unter vielen, sondern folgt ganz speziellen Regeln und Formen. In erster Linie: hier wird immer gesungen, meist im Wechselgesang zwischen den Schauspieler*innen. Wer singt, bewegt sich in vorgegebenen Schritten, der Rest steht still. Auf der Bühne sind zwischen zwei und zwanzig Personen, alle tragen einen Spazierstock, mit dem sie ihre Schritte markieren und beim Bühnen-Abgang Fuchtel-Bewegungen machen.

Die Pastorala findet im Freien statt auf großen Wiesen oder Plätzen. Die Bühne ist der tiefste Punkt, davor erheben sich zwei oder drei Publikums-Tribünen. Hinter der Bühne die Umkleideräume der Aktiven, darüber sitzt offen sichtbar das Orchester, das die Akte live begleitet. Über allem thront eine baskische Fahne, die Ikurriña. Die Schauspieler*innen kommen auf die Bühne über drei Tore, die mit Farben markiert sind. Links das blaue Tor, durch das die moralisch Guten eintreten, rechts das rote Tor für die Bösen, in der Mitte ein neutrales weißes Tor. Die Rollenverteilung ist antagonistisch und von Konfrontation geprägt. Links, blau und gut – gegenüber rechts, rot und böse. Vor jedem Akt wird mit entsprechender Fahne angekündigt, wer den Akt bestimmt.

In einigen Akten kommt es direkt zur verbalen Konfrontation. Jeweils vier oder acht Personen stehen sich links und rechts gegenüber, wer singt, tritt vor und geht nach der Intervention wieder ins Glied. Die bösen Blauen vom rechten Tor gehen immer im Stechschritt, die Schritte werden akustisch betont durch das Aufschlagen der Stöcke, was dem Auftritt etwas Martialisches verleiht. Daneben gibt es Tanz- und Chor-Einlagen, die nicht nach dem Pastorala-Schema funktionieren. Das gesamte Theaterstück dauert lange dreieinhalb Stunden und besteht aus 25 Akten.

Wer war Simone Veil?

pasto3Eine 1927 in Nizza geborene Jüdin, die im Konzentrationslager die Hälfte ihrer Familie verlor und selbst das KZ Auschwitz-Birkenau überlebte. Sie studierte Jura, arbeitete in den 1950er Jahren im Justizministerium und wurde in den 1970ern von Giscard d´Estaing und Chirac zu einer der ersten Ministerinnen berufen. Einen Namen machte sich Simone Veil durch ihren Kampf für liberale Abtreibungs-Gesetze, die ihr unter Männern und Rechten viele Feinde einbrachte. Ein Gesetz zur Fristenregelung wurde am 17. Januar 1975 durch das französische Parlament angenommen und ist als “Loi Veil“ (Veil-Gesetz) bekannt. Von 1979 bis 1982 war sie Präsidentin des Europa-Parlaments. Trotz ihrer in vieler Hinsicht fortschrittlichen Haltung kandidierte sie immer für rechts-liberale Parteien.

Pastorala-Vorlauf

Der Theatertag beginnt um 11 Uhr vormittags mit einem Umzug der Schauspieler*innen durch den Ort Muskildi. Vor allem Nachbarinnen und Nachbarn haben sich auf den Weg gemacht. In langer Reihe geht es zum Bühnenplatz, wo zudem zwei große Zelte aufgebaut sind: zum Getränkeausschank und zum Volksessen. Erst einmal wird getanzt, Schauspieler*innen und Publikum gemeinsam. Der Durst wird bekämpft, danach werden um die drei- bis vierhundert Personen mit Essen versorgt, das in riesigen Pfannen zubereitet wurde. Zum stolzen Preis von 20 Euro – was aber niemand aus der Gegend abschreckt, denn niemand will den sozialen Akt verpassen, bei derart vielen freiwilligen Helfer*innen geht der Erlös an die Finanzierung der nächsten Pastorala.

Das Theater

Nach ausgiebigen Gesprächen unter Freund*innen und Familien wird es langsam ernst. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Hitzewochen war der Vormittag erstaunlich frisch, doch bereits um die Mittagszeit zog die Sonne erneut ihre vernichtenden Runden. Mit Wartezeit über vier Stunden auf einer Metalltribüne bei sengender Hitze erfordert Überlebenstechniken in Form von Sonnenschirmen und viel Wasser. Dennoch mussten während der Vorführung zehn Personen vom Sanitäts-Personal abgeholt werden, entweder mühselig gestützt oder flach auf der Bahre. Vor allem ältere Zuschauer*innen hatten ihre Hitzeresistenz völlig unterschätzt. Und wenn es geregnet hätte? Wäre die Vorstellung womöglich abgesagt worden – auch das gehört zur Pastorala.

Neben Wasser und Sonnenhüten ist ein zweisprachiges Textbuch unabdingbares Instrument zum Verfolgen dessen, was sich auf der Bühne abspielt. Trotz eines Preises von fünf Euro empfiehlt sich dieses Utensil dringend, denn nur ein kleiner Teil der Einheimischen versteht den bei der Pastorala praktizierten Eüskara-Iparralde-Dialekt. Linke Seite französisch, rechts das gesungene Eüskara, mit Drehbuch-Anweisungen. Aufgeführt sind zudem die auftretenden Schauspieler*innen. Ein Blick durch die Publikumsreihen während der Vorstellung macht deutlich, dass mehr als 80% mit einem Auge diesen Texten folgen und mit dem anderen auf der Bühne kleben.

Gegen Faschisten und Reaktionäre

pasto4Simone Veil hat es bereits als Mädchen mit den Nazi-Besetzern zu tun, die sie gefangen nehmen und ins KZ bringen. Dort werden schwarz gekleidete Wächterinnen zu ihren Antagonistinnen – und das Publikum bringt sich bei diesen Gelegenheiten mit Buh-Rufen ein. Wie später auch gegen die französischen Gendarmen, die Frauen aus der 68er-Bewegung angreifen. Ausgebuht werden auch die reaktionären Popen und Politiker, die Abtreibung mit faschistischen Vernichtungslagern vergleichen.

Pastorala-Bilanz: Nazis sind mega-out, Feminismus ist mega-in, alle sind gegen Faschismus und für liberale Abtreibung. Mit Rassismus hat hier niemand was zu tun … übrigens: den ganzen Tag über waren lediglich vier aus Afrika stammende Personen bei der Pastorala zu sehen, zwei Frauen und ein Mann unter den Zuschauer*innen, ein schwarzer Junge auf der Bühne. Ungewohnte Verhältnisse für ein Land mit so langer kolonialer Geschichte. Am Ende wird die Vorführung richtig frauenbewegt, gegen Sexismus, Rassismus und Faschismus, sogar Kapitalismus wird an einer Stelle negativ vermerkt.

Wikipedia erzählt auf Baskisch …

Die Pastorala-Aufführung wird von Anfang bis Ende in Versen gesungen, auf Zuberoa-Baskisch. Bis vor nicht allzu langer Zeit traten entweder nur Männer aus dem Dorf auf oder, in seltenen Fällen, nur Frauen aus dem Dorf. Aber in den letzten Jahren haben Männer und Frauen gemeinsam teilgenommen. Die theatralische Darstellung basiert auf einem gesellschaftlichen Ereignis oder auf dem Leben einer Hauptfigur und ist um einen Kampf zwischen den Bösen und den Guten aufgebaut.

Wahrscheinlich hat das Pastorala-Theater seinen Ursprung im mittelalterlichen Theater, die frühesten Schriften stammen aus dem 17. Jahrhundert. Dies deutet darauf hin, dass die Pastorale eine wichtige Ausdrucksform in der mündlichen Literatur war. Obwohl es frühere Referenzen gibt, ist die älteste datierte Pastorale zweifellos "Sainte Elisabeth von Portugal", die 1750 in Eskiula aufgeführt wurde. Im Volkstheater von Zuberoa kann man zwischen Maskeraden (Iparralde-Karneval) und Pastoralen unterscheiden. Darüber hinaus gab es Karnevalsfarcen, die in ihrer Aufführungsweise den Pastoralen ähnelten. Diese werden jedoch seit langem nicht mehr durchgeführt und haben keine Nachfolge.

Nach Ansicht der meisten Forscher handelt es sich bei den Pastoralen um Überbleibsel der Mysterien des mittelalterlichen Europas, die wahrscheinlich indirekt über das französische Bauerntheater nach Zuberoa gelangt sind. Außerhalb von Zuberoa scheint diese Art von Theater im Baskenland nie Fuß gefasst zu haben, und es ist nicht klar, wann sie in Zuberoa ihren Anfang nahm. Die einzigen sicheren Zeugnisse und die ältesten Manuskripte stammen aus dem 18. Jahrhundert.

Oihenart zitiert einen Hirten-Schriftsteller namens Joanes Etxegarai in einem französisch-sprachigen Werk aus dem Jahr 1665. Er soll Priester gewesen sein und ein Hirtenbuch in Versen "Artzain gorria" (Roter Schafhirte) geschrieben haben, das Mitte des 16. Jahrhunderts in Donibane Garazi aufgeführt wurde. Es ist jedoch nicht sicher, dass Oihenart das Wort Pastorale verwendete und dabei an Theater wie die Pastorale von Zuberoa dachte, da im Französischen das Wort Pastorale im 16. und 17. Jahrhundert für Lyrik weit verbreitet war. Dasselbe gilt für ein Manuskript der Pastoral "Saint Jacques". Einige lesen darin die Jahreszahl 1634, andere bezweifeln, dass die Zahl am Ende des Manuskripts, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, auch dem Jahr entspricht, auf das der Schreiber die Pastorale ansetzt. Und dass es sich in Wirklichkeit um 1834 handelt. (1)

Ikusi arte – Auf Widersehen!

pasto5Zuletzt eine Kostprobe aus dem meistgelesenen Buch des Pastorala-Tages, Simone Veil spricht: “Ez nüzü ihorat ere joanen, Ama eta Milou gabe. Ene beharra beitüte, gü hiruak edo ihor ere. – Je ne partirai nulle part sans Milou et ma mère. Elles ont besoin de moi, nous trois ou personne" (Ich gehe nicht weg ohne Mutter und Milou. Sie brauchen mich. Entweder wir drei oder niemand).

Ein Jahr des Einstudierens mit sechzig oder mehr Personen für drei Vorstellungen, die im schlimmsten Fall dem Regen zum Opfer fallen können – das ist Volkstheater im besten Sinn. Ein solch unermüdliches Engagement steht nächstes Jahr dem Muskildi-Nachbarort Urdiñarbe (frz: Ordiarp) bevor, prophezeit die Empfangsfrau auf dem Camping a la Ferme in Urdiñarbe. Das Thema wisse sie allerdings noch nicht. Sie spricht Französisch, zum Glück ohne Akzent.

Fotoserie

Simone Veil, Pastorala Muskildi, 2022-08-06 – Fotoserie vom dritten Veranstaltungstag der diesjährigen Pastorala. (LINK)

ANMERKUNGEN:

(1) Pastorala, Wikipedia (LINK)

ABBILDUNGEN:

(*) Pastorala Simone Veil (FAT)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-08-09)

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