100 Worte in einem Schweizer Buch von 1610
Die baskische Sprache Euskara ist eine sogenannte “isolierte Sprache“ ohne Verwandtschaft mit anderen. Weil sie nur in einem relativ kleinen Gebiet gesprochen wurde, war sie mehrfach vom Aussterben bedroht. Über ihren zeitlichen Ursprung gibt es wenig Information. Alles Auffindbare trägt zum Mosaik der Euskara-Geschichte bei. In Turin wurde ein 1610 in Zürich herausgegebenes Buch entdeckt, das einem Schweizer Theologen und Linguisten zugeschrieben wird. Nun landet das Exemplar im Baskenland.
Der kleine baskische Verlag Mintzoa hat das auf Latein geschriebene seltene Exemplar eines Buches aus dem Jahr 1610 gekauft, in dem 130 verschiedene Sprachen vorgestellt werden, darunter das Euskara. Besonders interessant ist, dass die dargestellten Baskisch-Worte bis heute in gleicher Form benutzt werden. “Mithridates gesneri, exprimens diferentias linguarum“ ist der Titel des Werks.
“Mithridates“ wurde 1610 von dem Züricher Theologen und Linguisten Caspar Waser verfasst (1). Unter den 130 Minderheiten-Sprachen, die in diesem Buch beschrieben werden, taucht auch das Euskara auf. Einhundert baskische Begriffe wurden für das Buch ins Latein übersetzt, das Euskara-Kapitel nimmt mehr Raum ein als alle anderen Sprachen. Über die Auflage des Buchs ist nichts Genaues bekannt, es ist jedoch davon auszugehen, dass es linguistisch-wissenschaftlichen Zwecken diente und dass in prestigeträchtigen europäischen Bibliotheken weitere Exemplare vorhanden sind. Aus einem Turiner Privatbesitz hat der baskische Kleinverlag Mintzoa das Buch gekauft.
“Bei den im Buch erwähnten baskischen Begriffen handelt es sich um umgangssprachliche Worte, häufig benutzt, die bis heute in unserer Kommunikation in identischer Form gebraucht werden. Das sind keine seltenen Worte“, erklärt der Geschäftsführer des Mintzoa-Verlags, Aritz Otazu. “Während andere Sprachen auf zwei bis drei Seiten abgehandelt wurden, sind unserer Sprache ganze sechs Seiten gewidmet.“ (2)
Geschätzte Auflage
In akademischen Zirkeln war die Existenz dieses spät-mittelalterlichen Werkes wohl bekannt. Seine Auflage wird auf 25 geschätzt, die gut konserviert in bekannten Bibliotheken weltweit aufbewahrt werden: in der London Library, im Trinity College, in der Kongress-Bibliothek in Washington, in der Spanischen National-Bibliothek, in der Bayrischen Staatsbibliothek in München und in den Universitäten von Oxford und Cambridge, um nur einige zu nennen. “Mithridates“ ist ein bedeutendes Buch, in kleiner Auflage, wir werden wohl nie erfahren, wie viele davon genau in Umlauf gebracht wurden“ (2).
Stellt sich die Frage, wie die Information über das Euskara in die Schweiz gekommen sein könnte. Woher wussten die, dass Euskal Herria, das Baskenland, existiert? “Wir wissen nicht ob der Autor Caspar Waser selbst über dieses Wissen verfügte oder ob es ihm von anderen zugänglich gemacht wurde. Die Frage bleibt ungeklärt“, sagt Otazu. Es gibt eine Theorie, die besagt, dass Waser den baskischen Schriftsteller Joanes Leizarraga (3) kennengelernt hat. Rein biografisch wäre das denkbar, denn der im nord-baskischen Iparralde geborene Leizarraga lebte von 1506 bis 1601, Waser von 1565 bis 1625. “Caspar Waser war in Paris, Leizarraga ist sehr alt gestorben, er ging schon auf die 100 Jahre zu. Vielleicht haben sie sich in irgendwelchen Diskussions-Zirkeln getroffen? Möglich. Ob es zutrifft wissen wir nicht, aber möglich wäre es“.
Überarbeitete Auflage
Bekannt ist ebenfalls, dass Waser seine Arbeit auf einer anderen aus dem Jahr 1555 gründete, einem von Conrad Gessner geschriebenen Werk (4). “Waser nahm dieses Buch als Basis, um unter anderem einhundert Euskara-Worte hinzuzufügen. Man kann nicht sagen, es sei eine zweite Edition gewesen. Es war vielmehr eine Neuherausgabe, bzw. eine überarbeitete Auflage.“ Bleibt die Frage, wie die baskischen Begriffe und das Wissen über Euskal Herria nach Zürich kamen. “Das ist auf jeden Fall eine interessante Geschichte“, kommentiert der Verleger Aritz Otazu.
Bei den vor 410 Jahren publizierten Worten taucht mehrfach die im heutigen Euskara häufig vorkommende Buchstaben-Kombination “tz“ auf. Das freut den Verleger Aritz Otazu ganz besonders, denn auch in seinem Vornamen ist das “tz“ enthalten. Bisher sind alle davon ausgegangen, dass das “tz“ vor hundert Jahren erfunden wurde, um das Euskara grammatikalisch zu vereinheitlichen und das französische “ç“ zu ersetzen. Diese Annahme muss nun revidiert werden.
“Alle Sprachen, die im Jahr 1610 gesprochen wurden, haben sich verändert, das Euskara nicht“
Dank einem gut organisierten Netz von Zuarbeiter*innen aus der ganzen Welt suchen Aritz Otazu und sein Verlagsteam nach verlorenen Büchern über die Geschichte von Navarra und die baskische Kultur. Der aktuelle Fund kommt aus Italien: ein vor mehr als 400 Jahren in Zürich herausgegebenes Buch über 130 Minderheiten-Sprachen. Darunter die baskische Sprache Euskara.
Wie haben Sie von der Existenz dieses Buches erfahren?
Der Verlag Mintzoa ist seit 40 Jahren auf dem antiquarischen Buchmarkt aktiv, wir kaufen und verkaufen Bücher über die Geschichte Navarras. Aufgrund dieser langen Erfahrung wussten wir schon länger von der Existenz dieses Buches in einem Turiner Adelshaus. Doch der wollte es nicht verkaufen. Nach vielen Jahren kam im Februar ein Verkaufsangebot. Und weil das zu unserem Geschäft gehört, haben wir es natürlich gekauft.
Warum hatte dieser italienische Adlige das Buch in seiner Bibliothek?
Normalerweise erhalten wir dazu keine Information. Ich stelle mir vor, das ist eine riesige Bibliothek, die nicht katalogisiert ist. Da gibt es sicher noch mehr literarische Juwelen. Ich bin sicher, diese Bibliothek ging von Eltern an Kinder, von Großeltern an Enkel.
Das Buch ist eine Bestandaufnahme der Minderheiten-Sprachen, darunter das Euskara.
Richtig. Das erste Werk in baskischer Sprache stammt aus dem Jahr 1545, das nächste ist die Übersetzung des Neuen Testaments, da befinden wir uns bereits im Jahr 1571. Außerdem wissen wir von einem Buch aus dem Jahr 1561, das jedoch verschwunden ist. Danach kommen Bücher mit einzelnen Begriffen auf Euskara, wie zum Beispiel bei Buenaventura Vulcano. Und dem nun erworbenen Buch aus dem Jahr 1610. Es handelt sich um eine überarbeitete Neuauflage eines Werks aus dem Jahr 1555. Dabei sind 100 Begriffe auf Euskara hinzugefügt. Außerdem ist von dem Volk der “Vasconen“ die Rede. Das Buch wurde in Zürich herausgegeben, es ist in Latein verfasst und wirklich spektakulär. Bisher wussten von seiner Existenz nur wenige Spezialistinnen.
Warum hat der Autor gerade 100 Worte ausgewählt?
Diese 100 Worte stammen wahrscheinlich aus anderen Quellen. Das Besondere daran ist, dass es sich um 100 Begriffe handelt, die im heutigen Sprachgebrauch praktisch dieselben geblieben sind: gorputza, bihotza, arreba, aita, astoa, andrea... (Körper, Herz, Schwester, Vater, Esel, Frau). Wenn wir andere Sprachen betrachten, die im Jahr 1610 gesprochen wurden, alle haben sich stark verändert – nur das Euskara nicht. Bei Euskal Herria handelt es sich immerhin um ein Territorium, das 100 Jahre vor dieser Herausgabe eine Invasion erlebte (1512). Viele sagen, dass das Euskara von nur wenigen gesprochen wurde. Aber das war offenbar ausreichend, dass sich ein Schweizer Philosoph, Theologe, Physiker und Schriftsteller dafür interessierte. Und das nicht wenig. Fast alle abgehandelten Sprachen füllen zwei Seiten, das Euskara hingegen sechs.
Sie sagten, dass das Buch auch von den Basken selbst handelt.
Die Rede ist von einem unbeugsamen Volk und einer Sprache, die der Autor als “vazicorum“ bezeichnet, als die der Basken und aus Bizkaia. Eine Bezeichnung, die auch in anderen Publikationen jener Zeit zu finden war. Gleichzeitig bezieht er sich auf das Territorium der Basken.
An wen war dieses Buch seinerzeit gerichtet?
Schwer zu sagen. Wenn wir genau wüssten, wie viele Exemplare damals gedruckt wurden, könnten wir genauere Angaben machen über die Bedeutung, die das Buch gehabt haben könnte. Aber auch mit diesem Wissen könnten wir keine genauen Rückschlüsse ziehen. Es könnte eine kleine Auflage gewesen sein, denn es wurde auf teurem Papier gedruckt, auf einem besonderen Pergament der Jahrhunderte 14 und 15. Dabei ist es ein Buch aus dem 16. Jahrhundert. Ein Zeichen dafür, dass es sich um ein besonderes Werk handelte.
In welchem Zustand ist das Werk?
Das Exemplar ist in hervorragendem Zustand. Bei so alten Büchern findet man häufig abgegriffene Seitenecken, beschädigte Einbände, oder von Motten zerfressene Seiten. Aber dieses Buch ist perfekt. Auch das ist ein Zeichen seiner Bedeutung: die Besitzer haben es gut geschützt aufbewahrt. Ich persönlich kenne Ausgaben des Don Quijote, die sich in sehr schlechtem Zustand befinden.
Um ein solches Werk ausfindig zu machen, bedarf es sicherlich eines großen Netzes von Informanten, die von ihren Entdeckungen berichten.
Selbstverständlich. In den 40 Jahren Verlag, angefangen bei meinen Eltern, haben wir ein breites Netz geschaffen. Zu Beginn gab es kein Internet, Reisen waren notwendig, alles war etwas schwieriger. Zu unserem Netz gehören Archivare, Journalisten, Antiquitäten-Händler, Versteigerer … sie kennen uns wegen unseres Interesses für die Geschichte von Navarra und wissen genau, wofür wir uns interessieren. Unser Ziel ist, die navarrischen Wurzeln offenzulegen, zur kulturellen Bereicherung unserer Gesellschaft beizutragen. Außerdem wollen wir auch Werke weiterverkaufen, um neue Bücher kaufen zu können.
Hat sich Euskaltzaindia für das Buch interessiert?
Mit Euskaltzaindia, der Akademie der Baskischen Sprache, haben wir ein ausgezeichnetes Verhältnis. Bislang haben sie sich nicht mit uns in Kontakt gesetzt. Über die Presse ist allerdings bekannt, dass die Akademie über die Existenz des Werks informiert ist. Das Buch kann in einigen Bibliotheken weltweit eingesehen werden. Deshalb ist es in Momenten wie derzeit, mit der Coronavirus-Pandemie, nicht einfach, so ein Werk zu verkaufen. Es ist verständlich, dass die Akademie das nicht versucht hat. Wir setzen uns in Kontakt mit allen Institutionen, bei denen wir davon ausgehen, dass sie Interesse haben könnten. Wenn wir hierbei keine Rückmeldung bekommen, wenden wir uns an den privaten Markt. So verfahren wir immer.
Gibt es weitere Fundstücke, die demnächst erscheinen könnten?
Die Geschichte des Königreichs Navarra ist sehr umfangreich. Insofern gibt es literarische Juwelen, die uns erlauben, unsere Kultur, unsere Sprache und unsere Gebräuche besser zu verstehen. Wer denkt, wir sind ein kleines Volk, über das nicht geschrieben wurde, irrt sich total. Wir erleben das bei internationalen Bibliotheken, die häufig nicht einmal die Eigentümer kennen. Euskara wurde nicht nur von vier Personen gesprochen, und die Nachricht ist immerhin bis in die Schweiz gelangt.
ANMERKUNGEN:
(1) Kaspar Waser (1565-1625) war ein reformierter Theologe und Orientalist aus Zürich. Er studierte Sprachen, Naturwissenschaften und Mathematik sowie Theologie an verschiedenen Universitäten, Altdorf, Genf, Basel, Siena und Leyden. Mit einem Stipendium absolvierte er zwischen 1585 und 1593 umfangreiche Bildungsreisen, die ihn u. a. in die Niederlande, nach England, Irland und Schottland sowie nach Italien führten. Kaspar Waser machte 1593 sein Examen und wurde Pfarrer, 1596 Diakon und Professor für Hebräisch. Um 1607 wurde er Chorherr und Professor für Griechisch und 1611 schließlich Professor der Theologie am Collegium Carolinum, der theologischen Hochschule Zürichs.
Waser verfasste Grammatiken des Hebräischen, des Chaldäischen und des Syrischen sowie Monographien über semitische Münzen. (LINK)
(2) Tageszeitung Gara: “Suitzan 1610. urtean euskaraz idatzi ziren 100 hitz topatu ditu Mintzoa argitaletxeak“ (Der Mintzoa-Verlag findet ein in der Schweiz publiziertes Buch mit 100 baskischen Begriffen aus dem Jahr 1610), 2020-06-04. (LINK)
(3) Joanes Leizarraga Lermanda (auf französisch bekannt als Jean de Liçarrague) wurde 1506 in Briscous (Lapurdi) geboren und starb 1601 in La Bastide-Clairence. Über seine Jugend ist wenig bekannt, nur so viel, dass er zum Priesterseminar ging. 1559 wurde er zum Anhänger der protestantischen Reform, was Verfolgung und Gefängnis zur Folge hatte. Wie andere Protestanten wurde er von der navarrischen Königin Juana III de Albret geschützt. Drei Jahrzehnte lang war er Pfarrer der protestantischen Kirche in La Bastide-Clairence, in Nieder-Navarra. Im Auftrag der Synode von Pau im Jahr 1564 machte er eine erste Übersetzung des Neuen Testaments auf Euskara. Die Übersetzung wurde in drei Bänden herausgegeben: Iesus Christ Gure Iaunaren Testamentu Berria (Das Neue Testament); Kalendrera, ein Kalender religiöser Feste; ABC edo Christinoen instructionea, Basis-Lektionen zum Studium der Bilbel. Der erste Band wurde 1571 von Pierre Hautin en La Rochelle gedruckt, nachdem er von vier baskischen Pfarrern überarbeitet worden war: Sanz Tartas, Piarres Landetcheverry, Tardetz und Joannes Etcheverry, alle aus Zuberoa. (LINK)
(4) Johann Conrad Gessner, Konrad Gessner, Conrad von Gesner oder Conradus Gesnerus (1516-1565) schweizer Naturalist und Bilbliograf. Sein Werk “Historia Animalium“ in vier Bänden (1551-1558) wird als Grundlage der modernen Zoologie betrachtet. Er studierte in Straßburg und Bourges (1532-1533). In Paris traf er den Mäzen Job Steiger aus Bern. Nach 1541 lebte er in Zürich, wo er Physik-Professor wurde. Er starb an der Pest. (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Buchausschnitt (gara)
(2) Buchtitel
(3) Conrad Waser (wikimedia)
(4) Buchausschnitt (abc)
(5) Johann Gessner (wikipedia)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-06-09)