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Euskara und die großen Sprachen

„Es gibt große und kleine Sprachen“ – sagen viele und meinen damit, dass Sprachen von vielen oder wenigen gesprochen werden. Darin steckt nicht nur eine quantitative sondern auch eine qualitative Wertung. Die Schriftstellerin Karmele Jaio (1970) wehrt sich gegen solche Feststellungen. Die „kleine baskische Sprache“ kann es literarisch mit jeder anderen aufnehmen, sagt sie. Dass Englisch als Brückensprache für das Erreichen eines größeren Publikums wichtig ist, stellt dabei keinen Widerspruch dar.

Die baskische Sprache Euskara behauptet sich im internationalen literarischen Panorama. Karmele Jaios Roman „Mutters Hände“ wurde in verschiedene Sprachen übersetzt: Deutsch und Englisch.

Karmele Jaios 12 Jahre alter Roman „Amaren Eskuak“ wurde in die englische Sprache übersetzt und ist höchst aktuell: „Er handelt von Personen im Alltag, die keine Zeit haben, um ihre Mütter oder Kinder zu pflegen. Mit jenem ersten Roman „Amaren Eskuak“ (Mutters Hände) hat Karmele Jaio (Gasteiz, 1970) viele Leser*innen erobert. Es ist nicht nur eine Geschichte aus der Vergangenheit, mehr als eine Dekade später ist das Thema immer noch aktuell.

karmele02Vor Sommerbeginn 2018 erfuhr sie von ihrem Verlag, dass die 25. Auflage in Auftrag gegeben werde. Im Jahr 2008 hatte sie selbst den Roman ins Spanische übersetzt. Auch ein Film wurde davon gemacht. Dann folgte eine Übersetzung ins Deutsche. Nun liegt auch eine Übersetzung in die englische Sprache vor: „Her mothers hands“, herausgegeben vom französischen Verlag Parthian, innerhalb der Reihe neuer europäischer Schriftsteller*innen. Diese neue Übersetzung hat Karmele Jaio im vergangenen Sommer eine Einladung zur Buchmesse in Edinburg (Schottland) beschert. In einem Interview spricht die Schriftstellerin über einen überaus aktuell gebliebenen Roman, der von Betreuung handelt – ein Begriff, der in den letzten Jahren endlich auch auf der politischen Tagesordnung stand. Karmele Jaio arbeitet auch für die Frauenorganisation Emakunde der baskischen Regierung. (1)

Frage: Vor einigen Monaten haben Sie in einem Interview mit unserer Zeitung gesagt, das Ziel baskischer Autor*innen sei nach wie vor eine Übersetzung in andere Sprachen.

Karmele Jaio: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir ein sehr reduziertes Publikum haben. Oder besser gesagt: ein sehr konkretes Publikum. Um mehr Personen zu erreichen können Übersetzungen eine Brücke sein, ein Werkzeug. Ich spreche nicht allein von Übersetzungen ins Spanische, diese Feststellung gilt ganz allgemein. Die baskische Literatur ist heutzutage auf der Höhe jeder anderen europäischen Literatur. Sie hat Qualität und ist exportierbar. Das geschieht auch. Anfangs waren es einige wenige Autor*innen, nun werden es immer mehr, die in andere Sprachen übersetzt werden.

Diesen Sommer wurde Ihr Roman „Mutters Hände“ auf Englisch publiziert – das ist nach wie vor „die große Sprache“?

KJ: Zweifellos. Mein erster Roman wurde bereits ins Deutsche übersetzt und der zweite „Musik in der Luft“ ins Russische. Aber auf jeder Buchmesse sagen dir interessierte Verleger*innen: sag Bescheid, wenn du das auf Englisch vorliegen hast! Das ist ein wichtiges Trampolin, um in andere Sprachen zu gelangen. Egal, ob es sogenannte große Sprachen sind oder solche die üblicherweise als kleine Sprachen angesehen werden.

Wie kam es, dass der Roman zwölf Jahre nach seiner Ersterscheinung nun in englischer Sprache wieder auflebt?

KJ: Das Buch hat viele Leben. Es war mein erster Roman, als ich ihn schrieb, hatte ich keine Vorstellung davon, dass er im baskischen Publikum so gut aufgenommen werden würde, dass er ins Spanische übersetzt werden sollte … Es waren immer wieder Neugeburten. Ein lebendiges Buch.

Er handelt von einem Thema, das heute aktueller ist als vor zehn Jahren.

karmele03KJ: Das Buch handelt vom Alltag von Personen. Unser Lebensrhythmus ist so gestaltet, dass wir unsere Mütter und Kinder immer weniger betreuen können,weil wir keine Zeit haben … Wenn etwas geschieht, was nicht vorhergesehen ist, stürzt all das auf uns nieder, was wir unter Kontrolle zu haben dachten. Was die Betreuung anbelangt – das Thema ist sehr aktuell: glücklicherweise werden immer mehr Stimmen laut, die fordern, Betreuung und die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Betreuung von Personen und von uns selbst. Es geht um ein Leben, das sich zu leben lohnt, indem wir uns wirklich umeinander kümmern. Diese Aufgabe steht uns noch bevor.

Ist die Verbindung denkbar?

KJ: Es ist ein langwieriger Prozess. Der Mangel wird immer mehr spürbar und taucht immer häufiger auf der politischen Tagesordnung auf, auch bei den Unternehmen. Immer mehr Bereiche sind in ihrer Funktionsweise und Organisation in Frage gestellt. Das Fass muss überlaufen. Es kann nicht sein, dass Frauen die Hauptlast dieser Betreuung tragen. Dieses Gepäck verhindert unter anderem unsere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und beeinträchtigt unsere Gesundheit. Das Ganze ist verbunden mit einem Schuldgefühl, wenn wir als Frauen diese Rolle nicht ausfüllen – wir sind in diesem Sinne sozialisiert und erzogen worden. Wenn wir nicht funktionieren, fühlen wir uns auch noch schlecht. Und wenn wir funktionieren, gehen wir daran zu Grunde.

Warum ist Betreuung so wichtig?

KJ: Es geht um die Existenz von allem. Wenn die betreuenden Hände nicht exisitieren, bricht alles zusammen, was wir aufbauen wollen. Doch ist diese Arbeit unsichtbar, es scheint manchmal, als würde sie gar nicht existieren. Sie wird nicht bewertet – das muss thematisiert werden, diese Arbeit muss unter allen geteilt werden.

Hat sich im vergangenen Jahrzehnt etwas verändert?

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KJ: Immer mehr Männer beteiligen sich, es gibt zweifellos ein anderes Modell von Männlichkeit. Aber das ist nur ein Anfang … Alles ist Folge unserer Sozialisierung. Mir wurde beigebracht, dass die Betreuung meine Aufgabe sei – die Funktion der Männer sei die materielle Versorgung und die Besorgung der Lebensmittel. Das steckt tief in uns. Wir wissen, dass das nicht stimmt, aber wir müssen kontinuierlich an Veränderung arbeiten, sonst erleiden wir Rückschläge. Viel Arbeit steht uns da noch bevor. Mit allem was wir machen, sind wir auch ein Beispiel, darüber müssen wir uns bewusst sein. Manchmal werde ich als Schriftstellerin gefragt, wie bei Kindern die Lesegewohnheit gefördert werden kann. Liest du zu Hause? Nein. Da haben wir es. Sie müssen dich sehen. Handlungen sind mehr als Worte – Worte fliegen weg mit dem Wind.

Von all dem handelt „Mutters Hände“ – nun mit einem neuen Leben. Haben Sie es erneut gelesen?

KJ: Mal sehen wie es auf Englisch klingt. Wenn du lange nicht gelesen hast, was du selbst geschrieben hast, kriegst du den Eindruck, als wäre das von jemand anderem. Das haben Bücher so an sich, die nie zu Ende sind.

Was macht eine Literatur – wie Sie sagten – exportierbar?

KJ: Sie muss gut sein. Was Harkaitz Cano oder Eider Rodriguez schreiben, hat ein hohes Niveau, darauf können wir stolz sein.

ES GIBT KEINE GROSSEN ODER KLEINEN SPRACHEN

Bei dem Niveau, das die baskische Literatur mit dem Euskara erreicht hat (2), sind Institutionen wie Euskaltzaindia lebenswichtig. Karmele Jaio gehört dort zu den ehrenamtlichen Unterstützer*innen. In diesem Jahr feiert Euskaltzaindia – die offizielle Akademie der baskischen Sprache – ihr 100-jähriges Bestehen. (3) „Wir merken praktisch nicht, wieviele mehr oder weniger unbekannte Menschen für Euskaltzaindia gearbeitet haben oder arbeiten. Sie haben Unglaubliches geleistet und das Euskara vor dem Aussterben bewahrt. Diese Arbeit gibt uns für die Arbeit, für das Schreiben, für Berichte aller Art eine Sprache an die Hand“, stellt die Schriftstellerin fest in Bezug auf das Euskara Batua, das vereinheitlichte Euskara (4), das in diesem Jahr 50 Jahre feiert. „Die verschiedenen Dialekte in einer standadisierten Sprache zusammenzubringen, das war eine Meisterleistung“.

karmele05Dennoch sind manchmal noch Stimmen zu hören, die sagen „aber es ist doch eine sehr kleine Sprache …“

KJ: Es gibt keine kleinen und großen Sprachen. Eine Sprache, egal welche, ist nicht klein, sie wird lediglich von mehr oder weniger Leuten gesprochen. Doch das nimmt ihr nicht die Bedeutung. Im Gegenteil. Wenn die Gefahr besteht, dass eine Sprache verschwindet, müssen wir umso größere Anstrengungen unternehmen. Das kann leicht passieren: wenn wir das Euskara nicht fördern, erleben wir Rückschritte. Wir müssen weiter daran arbeiten.

Karmele Jaio Eiguren

Karmele Jaio studierte bis 1994 Informations-Wissenschaft an der baskischen Universität. Bis dahin hatte sie bereits bei verschiedenen Medien gearbeitet, unter anderem bei der Frauenorganisation Emakunde der baskischen Regierung. Unregelmäßig schrieb sie Kolumnen für verschiedene Tageszeitungen wie Noticias de Alava, Noticias de Gipuzkoa oder Deia. Sie ist Autorin von drei Erzählungen, zweier Romane und eines Gedichtbandes (5). Ihre Erzählungen kamen auch zum Theater, im Jahr 2010 inszenierte Ramon Barea (6) das Werk „Ecografias“, das auf einem Text der Schriftstellerin basiert. Karmele Jaios Erzählungen wurden in verschiedenen Anthologien veröffentlicht, ihre Werke wurden ins Katalanische, ins Deutsche, Russische, Spanische und Englische übersetzt. Seit 2015 arbeitet sie auch für die Euskaltzaindia-Akademie – das offizielle Institut der baskischen Sprache.

„Mutters Hände“

karmele06Im Pahl-Rugenstein-Verlag wurde 2009 der Roman „Mutters Hände“ publiziert. In der Buch-Vorstellung heißt es: „Mit zusammengebissenen Zähnen hockt ein kleines Mädchen in einem aus Sand gebauten Schiff am Strand und blickt geradewegs dem Meer entgegen. Sie weiß, dass ihre Barkasse früher oder später ein Opfer der Flut werden wird. Aber die Kleine ist bereit, sie zu verteidigen. – Es ist ein Foto aus ihrer Kindheit, das Nerea betrachtet,während sie im Krankenhaus am Bett ihrer Mutter, Luisa Izagirre, sitzt. Diese wurde verwirrt auf der Straße aufgefunden und liegt seitdem, gewissermassen in eine andere Welt versunken, zwischen den weißen Krankenhauslaken. Weder erkennt sie ihre Kinder noch erinnert sie sich an ihren eigenen Namen. – Nerea ist Journalistin, Mutter der kleinen Maialen und Ehefrau von Lewis, der ihrer Tochter vor dem Schlafengehen jeden Abend aus Alice im Wunderland vorliest. Ihren verschiedenen Rollen versucht sie gerecht zu werden, indem sie von einer zur anderen hetzt. Und dann gibt es noch Karlos, ihren früheren Freund, eine Geschichte aus der Vergangenheit, die sie immer noch mit sich herumträgt. – Die Krankheit ihrer Mutter bringt Nereas Leben völlig durcheinander. Von der aus Deutschland angereisten Tante Dolores erfährt Nerea, dass es im Leben ihrer Mutter Dinge gab, die diese stets für sich behalten hat. Und trotzdem (oder gerade deshalb) wird ihr bewusst, wie viele Parallelen es zwischen Mutter und Tochter gibt, zwei Frauen, die ganz andere Zeiten erlebt, ganz andere Erfahrungen gemacht haben.“ (Reihe Zubiak, Verlag Pahl-Rugenstein)

(Publikation: Baskultur.info 2018-10-09)

ANMERKUNGEN:

(1) Aus „La literatura vasca ahora está al nivel de cualquier literatura europea” (Die baskische Literatur ist heute auf der Höhe jeder anderen europäischen Literatur), Interview mit der baskischen Schriftstellerin Karmele Jaio, Tageszeitung El Correo 23.09.2018

(2) Die baskische Sprache, Eigenbezeichnung auch euskera, eskuara, üskara, wird in allen Teilen des historischen Baskenlands (Euskal Herria) von etwa einer Million Menschen gesprochen, darüber hinaus in der baskischen Diaspora in Europa und Amerika. Die ursprüngliche Verbreitung war weiträumiger, von Santander/Kantabrien bis Bordeaux/Frankreich und Zaragoza/Aragon. Euskara gilt als die älteste lebendige Sprache Europas. Es ist laut Forschung mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt. Während alle anderen Sprachen Europas zu sog. Sprachfamilien gehören, sei es zu den indogermanischen, den uralischen, den Turksprachen oder den semitischen Sprachen, gilt das Euskara als eine sogenannte isolierte Sprache.

(3) Euskaltzaindia. Auf Baskisch: Hüterin des Baskischen. Die offiziell so genannte Königliche Akademie der Baskischen Sprache (Real Academia de la Lengua Vasca) wurde 1919 gegründet und ist eine Einrichtung zur Pflege und Standardisierung der baskischen Sprache, sowie zu ihrer Erforschung durch philologische und etymologische Studien. In den Jahren der Diktatur war sie ebenso verboten wie der Gebrauch der baskischen Sprache selbst. Sie hat ihren Sitz in Bilbao (bask: Bilbo) und Zweigsitze in Baiona (frz: Bayonne), Donostia (span: San Sebastián), in Gasteiz (span: Vitoria) und in Iruñea (span: Pamplona).

(4) Die Sprachwissenschaft stellt fest, dass für das Überleben einer Sprache und für die Herausbildung einer einheitlichen Literatur eine vereinheitlichte Sprachform vorhanden sein muss. Eine Art Hoch-Sprache, auf die alle zurückgreifen können, mit einer einheitlichen Grammatik. Dialekte stören dabei in keinster Weise, sie sind ganz im Gegenteil eine sprachliche und kulturelle Bereicherung. In Anbetracht dieser Überlegungen machte sich bereits in den 1960er-Jahren – mitten im Franquismus, der das Euskara verboten hatte – eine Reihe von Euskaldunen an die Arbeit und entwickelte das Euskara Batua, das Vereinheitlichte Euskara. Dieses Batua wird heute in den Schulen nördlich und südlich der Pyrenäen, in den baskischen Provinzen der beiden Staaten Frankreich und Spanien gelehrt.

(5) Karmele Jaio, Wikipedia (Link)

(6) Ramon Barea, ist derzeit einer der bekanntesten baskischen Schauspieler. Gelegentlich führt er auch Regie. Barea hat in Bilbao ein alternatives Theater mit aufgebaut. Ein Feature bei Baskultur.info: Der Schaupieler Ramon Barea (Link)

ABBILDUNGEN:

(1) Karmele Jaio (lacuevademislibros)

(2) Roman: Mutters Hände (elkar)

(3) Euskaltzaindia Bilbao (FAT)

(4) Roman Karmele Jaio (elkar)

(5) Karmele Jaio (elcorreo)

(6) Roman Karmele Jaio (elkar)

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