Karmele Jaios dritter Roman
Zehn Jahre nach ihrem ersten Roman “Mutters Hände“ legt die baskische Schriftstellerin und Journalistin Karmele Jaio ein neues Werk vor. “Aitaren Etxea“ wird der Titel sein: “Vaters Haus“. Eine Dreiecksgeschichte, die von der Bedeutung von Traditionen im baskischen Leben handelt. Zuletzt hatte Karmele Jaio 2015 die Gedichte-Sammlung “Jetzt haben wir Tote“ publiziert. Bereits vorher hatte eines ihrer Werk eine Übertragung ins Theater erlebt. Ihr erfolgreicher Erstroman fand den Weg in die Kinos.
Karmele Jaio (*1970) ist Schriftstellerin und Journalistin aus der baskischen Hauptstadt Vitoria-Gasteiz. Sie hat Kommunikations-Wissenschaften studiert und in verschiedenen öffentlichen Institutionen gearbeitet. Seit 2006 hat sie Erzählungen, Poesie und Romane publiziert. Sie schreibt regelmäßig für baskische Tageszeitungen.
Karmele Jaios neuer Roman trägt den Titel eines berühmten Gedichts von Gabriel Aresti, einem der Väter der modernen vereinigten baskischen Sprache (1): “Aitaren Etxea“ (Vaters Haus). Anfang Januar 2020 soll das Buch vom Destino-Verlag auf den Markt gebracht werden. Das Werk spielt in der Gegenwart, drei Figuren sind Protagonist*innen. Jasone, eine Bibliothekarin, die heimlich schreibt; ihr Ehemann Ismael, ein Schriftsteller inmitten einer Kreativkrise; und Libe, Ismaels Schwester, die nach 20 Jahren Berlin aus familiären Gründen ins Baskenland zurückkommt. Alle drei stellen Überlegungen über ihre Erziehung an, im Hauptteil eines Romans, der einmal mehr die Betreuung von nahestehenden Menschen zum Thema macht. Reflektiert wird auch über das Schreiben an sich, versichert die Autorin, die ihr Werk bei der jährlichen Musik- und Buchmesse im bizkainischen Durango vorstellen wird. (2)
Interview mit Karmele Jaio
Frage: Die Spuren einer patriarchalen Gesellschaft ist eines der Themen, die sich durch deinen neuen Roman ziehen. Wann hast du die Entscheidung getroffen darüber zu schreiben?
Karmele Jaio: Das kann ich gar nicht genau sagen, denn ich entscheide nicht über Themen, bevor ich zu schreiben beginne. Ich schreibe und entdecke dabei Themen, die es wert sind, beschrieben zu werden. In diesem Fall ist das Thema Patriarchat aufgetaucht, es füllt den Hauptteil des Romans, aber die Reflektion geht darüber hinaus. Ich habe drei Stimmen gewählt – Ismael, Jasone und Libe – die einzeln auftauchen. Ihr Protagonismus verdeutlicht, dass die Sicht der Welt sehr stark vom Ort abhängig ist, an dem du dich aufhältst. Das ist die erste Idee des Buches. Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle und einer davon ist das Geschlecht, das uns in vielerlei Hinsicht prägt. Es wirkt sich in allen Lebensbereichen aus. Wir können davon ausgehen, dass etwas so Intimes wie Sex zu haben mit jemand, oder sich zu verlieben – Beispiele, die im Buch erscheinen – zwar intim ist, aber dennoch geprägt von kulturellen Mustern, von Rollenvorschreibungen und Werten der Gesellschaft. Der Roman erzählt den Prozess der Bewusstwerdung der Protagonisten und wie sie davon beeinflusst werden.
Frage: Du sagst, beim Schreiben kommt nicht das zum Ausdruck, was du weißt, es sei vielmehr eine Suche … was hast du entdeckt?
Karmele Jaio: Ich habe schon mehrfach gesagt: wenn ich vorher wüsste, was ich in einem Buch schreiben will, wozu sollte ich es dann überhaupt noch schreiben. Ich habe entdeckt, dass es bestimmte Gefühle gibt, die in allen meinen Büchern immer wieder auftauchen. Eines davon ist das Thema des Schweigens in Familien, was gleichzeitig viel aussagt. Die Bedeutung der nicht ausgesprochenen Worte, all das, was wir in uns tragen und nicht aussprechen.
Frage: Im Gegensatz zum Schematismus anderer ist dein Schreibprozess eher intuitiv.
Karmele Jaio: Richtig. Es ist eine riskante Form des Schreibens. Abgesehen von persönlichen Gründen brauche ich deshalb länger. Ich weiß anfangs nicht genau, was ich erzählen will, ich verlasse mich auf meine Intuition. Es ist wie die Suche in der Dunkelheit mit einer Laterne. Bei diesem Roman ist es mir passiert, dass ich auf einen Weg geraten bin, den ich nicht gehen wollte.
Frage: Ist da viel Arbeit in den Papierkorb gewandert?
Karmele Jaio: Ziemlich viel Arbeit. Aber es war keine unnütze Arbeit. Denn dich wiederzufinden, nachdem du dich verloren hast, hilft dir weiter. Es hat mich Mühe gekostet, denn Schreiben ist für mich entdecken.
Frage: Eine der Fragen, die das Buch aufgeworfen hat: was fühlt ein Mann, wenn er von einem Fall von sexistischer Gewalt erfährt. Hast du diese Frage während des Schreibens Freunden, Freundinnen oder in der Familie gestellt?
Karmele Jaio: Vielleicht nicht ganz ausdrücklich …
Frage: Eine Art Sondierung?
Karmele Jaio: Anstatt direkt zu fragen, war ich sehr aufmerksam, bei Kommentaren und Reaktionen. Alle Schriftsteller*innen müssen aufmerksam sein. Ich hatte diese Neugier und daraus ist ein Teil des Buches geworden. Der Protagonist ist ein Schriftsteller mit zwei Töchtern. Als er von einem Fall von Gewalt gegen Frauen hört, hat er ambivalente Gefühle. Einerseits hat er Angst um seine Töchter. Auf der anderen Seite hat er eine Art von Schuldgefühl. Das beeinflusst ihn, dazu kommt, dass er seinen Vater pflegen muss. In Gegenwart seines Vaters hat er die Gelegenheit, über die Modelle und Ideale nachzudenken, die für ihn von Bedeutung waren.
Frage: Ismael ist die Hauptfigur, Libe und Jasone sind zweitrangig?
Karmele Jaio: Er hat tatsächlich einen besonderen Protagonismus und nimmt im Roman mehr Raum ein. Aber wichtig sind alle drei, jede Figur mit ihren spezifischen Überlegungen.
Frage: Während des Schreibens über solche Gedanken geschahen und geschehen ständig neue Morde an Frauen. Inwiefern beeinflussen diese Nachrichten die Romanfiguren und die Autorin?
Karmele Jaio: Was zu diesem Thema gesagt wird, ist stark vom Moment geprägt. Immer wenn das Thema aufkommt, Gewalt gegen Frauen, kommt mir in den Sinn wie wir uns selbst etwas vormachen und so tun, als würden wir alle an einem neutralen Ort leben. Es ist eine große Falle, zu denken, die Welt sei für alle gleich, das ist eine Art des Selbstbetrugs. Die Schriftstellerei erlaubt mir, inmitten dieser Bombardierung mit aktuellen Nachrichten zu reflektieren und voranzukommen. Kreativität scheint mir immens wichtig auf dem Weg zu einer kritischen Haltung bezüglich des Weltgeschehens.
Frage: Über Feminismus werden viele Bücher geschrieben, doch gibt es nur wenige Publikationen von Männern, die den Machismo in Frage stellen. Ist die Figur Ismaels ein Ausdruck dieses Mangels?
Karmele Jaio: Ich denke, die Gesellschaft befindet sich in einem Umbruch, der sich in den vergangenen 10 Jahren beschleunigt hat. Viele Frauen haben einen wichtigen Prozess in Gang gebracht, um ihren Standpunkt zu klären. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die aktuelle Situation die Notwendigkeit und Dringlichkeit provoziert hat. Der Feminismus hat uns in dieser Hinsicht viele Instrumente in die Hand gegeben. Wenn sich etwas bewegt, fragen sich die Männer, was da vor sich geht. Ich denke, viele Männer haben angefangen, darüber nachzudenken, aber vor ihnen liegt noch ein langer Weg. Im Mittelpunkt steht das Bewusstwerden, die Frage: wo stehen wir?
Frage: Dein Roman “Mutters Hände“ wurde vor 10 Jahren ins Spanische und ins Deutsche übersetzt. Gibt es Gemeinsamkeiten mit “Vaters Haus“?
Karmele Jaio: Es gibt Faktoren, die geblieben sind. Manche sagen, eine Schriftstellerin schreibt immer dasselbe Buch. Da ist etwas dran, denn meine Sorgen und Rätsel bleiben dieselben. Bei mir wiederholt sich das Schweigen in der Familie, über das wir gesprochen haben. Wie können wir so viele Jahre unter einem Dach wohnen und uns gegenseitig überhaupt nicht kennen. Das Thema der Versorgung taucht ebenfalls wieder auf. Als Ismael seinen Vater pflegen muss, entdeckt er eine neue Welt. Im Buch sind mehr Fragen als Antworten enthalten.
Karmele Jaios Werk
Erzählungen: Hamabost zauri (Fünfzehn Wunden, 2004), wurde 2010 ins Spanische übersetzt. Zu bezain ahul (So schwach wie du, 2007). Ez naiz ni (Ich bin es nicht, 2012). Poesie: Orain hilak ditugu (Jetzt haben wir Tote, 2015). Romane: Amaren eskuak (Mutters Hände, 2006, wurde 2008 ins Spanische übersetzt). Musika airean (Musik in der Luft, 2010, wurde 2013 ins Spanische übersetzt; nach seinem großen Erfolg beim baskischen Publikum wurde der Roman von Mireia Gabilondo verfilmt und beim Internationalen Filmfestival Zinemaldia in Donostia-San Sebastían präsentiert). Karmele Jaio erhielt für ihre Arbeiten verschiedene baskische Literaturpreise. (3) Im Jahr 2009 gab der Pahl-Rugenstein-Verlag innerhalb der Reihe “Zubiak“ (Brücken) eine Übersetzung des Romans “Amaren Eskuak“ (Mutters Hände) heraus, übersetzt von Gabriele Schwab.
Übersetzungsreihe Zubiak – Brücken
2008 publizierte Radio-Z anlässlich der linken Gegen-Buchmesse in Nürnberg ein Interview mit zwei Autor*innen der vom Pahl-Rugenstein-Verlag herausgegebenen Buchreihe Zubiak, zu der auch der erste Roman von Karmele Jaio gehört:
… Ein Gespräch mit den baskischen SchriftstellerInnen Arantxa Urretabizkaia und Edorta Jimenez zur baskischen Literatur und ihre jetzt ins Deutsche übersetzten Bücher in der Reihe "Zubiak" beim Pahl Rugenstein Verlag. Sie ist die älteste (noch existierende) Sprache Europas und hierzulande (in Deutschland) doch fast unbekannt: die baskische Sprache. Kein Wunder, ist das Baskenland doch klein und war Baskisch unter dem Diktator Franco auch verboten, durften keine Bücher auf Baskisch gedruckt werden. Doch nun hat der Pahl Rugenstein eine Reihe gegründet, die Zubiak heißt.
Zubiak heißt auf Deutsch Brücken und eine solche Brücke zur baskischen Kultur sollen die Bände der “Baskischen Bibliothek“ auch sein. Zubiak wurde vor kurzem bei der linken Literaturmesse in Nürnberg vorgestellt und Heike Demmel hat mit zwei der Autor*innen gespochen. Mit Arantxa Urretabizkaia, die “Das rote Heft“ geschrieben hat. Und mit Edorta Jimenez, dem Autor von “Der Lärm der Grillen“, das ebenfalls in deutschen Übersetzung vorliegt.
Doch noch ein paar Worte zur baskischen Literatur der Gegenwart. Sie ist geprägt von drei Generationen lebender Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Da ist zum einen jene Generation, die in Zeiten der Verfolgung unter Franco nur im Verborgenen oder im Exil arbeiten konnte. Zum anderen gibt es die Strömung der so genannten “1975er“ (Todesjahr Francos). Viele dieser Autor*innen reflektieren in ihrem literarischen Schaffen immer wieder auch den Unabhängigkeits-Konflikt. Und die Generation der eher jüngeren Autorinnen und Autoren sind oft eher auf der Suche nach neuen Inhalten und Ausdrucksformen. Der Bürgerkrieg und der Franquismus sind nach wie vor wichtige literarische Themen in der baskischen Literatur. Aber der Horizont der baskischen Literatur ist weit, erläutert der Schriftsteller Edorta Jimenez. (4)
Folgende Bücher baskischer Autor*innen liegen in deutscher Übersetzung vor. Von Edorta Jimenez: Der Lärm der Grillen (200 Seiten), Arantxa Urretabizkaia: Das rote Heft (125 Seiten), Anjel Lertxundi: Domingos letzte Wette, Aingeru Epaltza: Rock’n’Roll, Harkaitz Cano: Pasaia Blues. Der Pahl-Rugenstein-Verlag wurde mittlerweile aufgelöst, die Webseite zubiak.de existiert nicht mehr. So sind die Bücher nur noch über Literaturversand oder aus zweiter Hand zu erhalten.
Karmele Jaios Erzählungen wurden in zahlreichen Anthologien aufgenommen und erneut publiziert. Ihre Werke wurden in die katalanische, deutsche, russische und englische Sprache übersetzt. Seit 2015 ist Karmele Jaio beratendes Mitglied bei Euskaltzaindia, der offiziellen Akademie der baskischen Sprache (5). Bei Baskultur.info erschien ein weiterer Artikel über Karmele Jaio unter dem Titel “Karmele Jaio, Schriftstellerin. Euskara und die großen Sprachen“. (6)
ANMERKUNGEN:
(1) Gabriel Aresti (1933 bis 1975), marxistischer baskischer Schriftsteller und Poet aus Bilbao. Er wuchs mit der spanischen Sprache auf und lernte autodidaktisch Euskara. Er war Mitglied der illegalen Akademie der baskischen Sprache, Euskaltzaindia. Aresti war einer der ersten, der die Notwendigkeit einer vereinigten baskischen Sprache erkannte, an deren Ausarbeitung er sich beteiligte. Mit Artikeln provozierte er die Zensur der Franquisten. Er starb wenige Monate vor Francos Tod.
(2) Interview aus der Tageszeitung El Correo vom 2019-11-25, Autor Ramón Albertus: “Pensar que el mundo es igual para todos es una gran trampa” (Es ist eine große Falle, zu denken, die Welt sei gleich für alle) (LINK)
(3) Karmele Jaio – Wikipedia (LINK)
(4) Zubiak (Brücken) - Baskische Bibliothek. Bis 2009 publizierte der Pahl-Rugenstein-Verlag eine Reihe von Übersetzungen neuer baskischer Literatur. Vertreten waren Schriftsteller*innen wie Arantxa Urretabizkaia, Edorta Jimenez, Anjel Lertxundi, Aingeru Epaltza, Harkaitz Cano, Karmele Jaio u.a. Bei Radio-Z erschien ein Interview mit den beiden erstgenannten zum Thema Literatur aus dem Baskenland. (LINK)
(5) Euskaltzaindia, auf Baskisch: Hüterin des Baskischen. Die offiziell so genannte Königliche Akademie der Baskischen Sprache (Real Academia de la Lengua Vasca) wurde 1919 gegründet und ist eine Einrichtung zur Pflege und Standardisierung der baskischen Sprache, sowie zu ihrer Erforschung durch philologische und etymologische Studien. In den Jahren der Diktatur war sie ebenso verboten wie der Gebrauch der baskischen Sprache selbst. Sie hat ihren Sitz in Bilbao (bask: Bilbo) und Zweigsitze in Baiona (frz: Bayonne), Donostia (span: San Sebastián), in Gasteiz (span: Vitoria) und in Iruñea (span: Pamplona).
(6) Baskultur.info: Karmele Jaio (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Karmele Jaio (elcorreo)
(2) Roman-Cover
(3) Roman-Cover
(4) Roman-Cover
(5) Buchreihe Zubiak
(6) Roman-Cover
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2019-12-02)