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Forschung zwischen Bergen und Bibliothek

Im baskischen Oñati (Gipuzkoa) ist das „Internationale Institut für Rechtssoziologie" zu finden. Über ihre Erfahrungen am Institut berichtet die Juristin und Soziologin Sophie Arndt (1). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Daneben der erste Teil eines Interviews mit Vincenzo Ferrari, Mitbegründer des IISL und aktuell dessen amtierender wissenschaftlicher Direktor, der Geschichte, Aktualität und Zukunft des Instituts kommentiert (2).

Von Bergen, Wiesen, Schafskäse, dem Baskenland … und Rechtssoziologie – ein Bericht aus Oñati

(Von Sophie Arndt) Die im Titel verwendete Reihenfolge mag nicht einmal unpassend sein, um einen Aufenthalt am „Instituto Internacional de la Sociología Jurídica“ (IISJ) bzw. „International Institute for the Sociology of Law“ (IISL) (3) zu beschreiben. Die ersten drei genannten Aspekte gehören selbstverständlich zum Vierten. Die Rechtssoziologie am IISL hingegen gehört zwar zu Oñati und sähe sicher an einem anderen Ort anders aus, lebt aber gleichzeitig auch ein eigenes Dasein.

Bei der späten samstäglichen Ankunft im institutseigenen Studierendenwohnheim bekomme ich als Antwort auf mein „Buenas noches“ ein „Hi, where are you from?“ erwidert, verbunden mit einer Einladung zum Abendessen. Die Begrüßung hier wird beinahe gewohnheitsmäßig mit der Angabe der Herkunft verbunden, der nationalen, nicht der fachlichen. Jene wird im Dorf sogar beim Kaufen von Brot erfragt – und dann recht freundlich mit einem „Ongi etorri“ („Willkommen“ auf Baskisch) beantwortet. Zumeist stellt sich der Eindruck von Offenheit her, aber auch davon, dass die Aufnehmenden bereits selbstverständlich von einem bestimmten Typus von Gegenüber ausgehen: der Besucherin auf Zeit.
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Das Wohnheim könnte dem ersten Eindruck nach auch ein solches von Erasmus- oder anderen internationalen Studierenden sein. Die Lingua franca ist Englisch – dies gilt auch für das Masterstudium und den Unterricht – und es bedarf einiges an Überzeugungskraft gegenüber den spanischsprachigen, allesamt lateinamerikanischen, Studierenden, um im Gespräch mit einer deutschen Gastforscherin in ihre Muttersprache zu wechseln. Der erste Eindruck einer Blase, in der die Bewohner*innen des Studierendenwohnheims, der Residenz Antia, leben, muss aber nach einiger Zeit jedenfalls zum Teil revidiert werden. Viele Studierende pflegen Kontakte zur lokalen Bevölkerung, nehmen etwa an feiertäglichen Umzügen teil oder haben Freundschaften geschlossen. Um die vielfältigen, interessanten Motivationen für ein rechtssoziologisches Masterstudium zu erfahren sowie die Pläne für die Masterarbeit, bedarf es dann doch einiges an Gesprächen, Zeit und richtigen Momenten – und nicht zuletzt an Übersetzungstätigkeit. Die Masterarbeiten beschäftigen sich häufig mit den Herkunftsländern oder solchen, in denen die Studierenden zuvor gelebt haben: Der dänische Hypothekenmarkt, die mediale Darstellung des neuen kolumbianischen Polizeigesetzes, Opfervertretung in Strafprozessen um sexuelle Gewalt in Guatemala, die Effektivität von Schutzrechten für behinderte Menschen in Indonesion oder juridische Narrative in Prozessen gegen Polizeibeamte im Nordirland der 1980er Jahre.

Von den Besucher*innen, die als „visiting scholars“ oder als Personen mit „residence scholarship“ – auf den Unterschied wird noch zurückzukommen sein – ans IISL kommen, sind nicht wenige Rückkehrer*innen, die hier ihr Masterstudium absolviert haben und sich, so eine italienische Doktorandin, an ihre Zeit in On͂ati vor allem als eine solche der geteilten und vielfältigen Erfahrungen erinnern. Aber nicht zuletzt lernt man aus und mit Erfahrungen. Rechtssoziologie lässt sich schließlich mit Literatur allein – die die hervorragende Bibliothek in Oñati in überaus reichem Umfang bereithält – weder erlernen noch betreiben.

Am Institut erfährt die Stipendiatin ein sehr herzliches Willkommen und vielfältige Unterstützungsangebote. Der Institutsbürokratie geschuldet, werden die stets pflichtgemäß eingehaltenen Unterschiede schnell sichtbar zwischen einer Stipendiatin, die kostenlos – im geteilten Zweierzimmer – im Wohnheim leben und die Bibliothek besuchen darf, und dem Gastforscher, der als Selbstzahler ein Einzelzimmer so wie ein privates Büro jenseits der Bibliotheksöffnungszeiten (Montag bis Freitag von 9 Uhr bis 17:30 Uhr) zur Verfügung gestellt bekommt. Auch für die Stipendiatin ergeben sich aber ausgesprochen gute Arbeitsbedingungen. Und den kostenlosen Eintritt in das kommunal betriebene Fitnessstudio nebst Schwimmbad und Kletterhalle, als Gegenprogramm zur Bibliothek gewissermaßen und mit großzügigeren Öffnungszeiten, erhalten unterschiedslos alle, die am IISL studieren oder forschen, für die Zeit ihres Aufenthalts.

Die Bibliothek des IISL ist ein exzellenter Ort sowohl für ausführliche Recherchen als auch für zurückgezogenes und konzentriertes Arbeiten. Der Schwerpunkt liegt klar auf englischsprachiger Literatur, aber auch die großen romanischen Sprachen und deutschsprachige Literatur scheinen gut vertreten zu sein (damit sind die vertretenen Sprachen keineswegs abschließend aufgeführt). Bei der deutschsprachigen Literatur entstand ein wenig der Eindruck, dass deren Fülle bei den Erscheinungen der vergangenen Jahre nachgelassen hat, was an einer bestimmten Konjunktur, der schwieriger gewordenen Finanzierung des IISL in Folge der spanischen Wirtschaftskrise oder schlicht an einer Fehlwahrnehmung liegen mag. (Eine Möglichkeit dies zu überprüfen, böte etwa die gezielte Suche im Online-Katalog der Bibliothek, mittels der Funktion „Neuerwerbungen“.) Beeindruckend ist auch die große Zahl an Zeitschriften mit Bezug zur Rechtssoziologie, die die Besucherin gleich im ersten Raum der Bibliothek empfangen. Auch wenn der Bibliotheksbesucherin für viele die Sprachkenntnisse fehlen, ist diese „geballte“ Präsenz doch ein Anhaltspunkt, um sich einen ersten Eindruck über den Stand rechtssoziologischer Forschung und Debatten in unterschiedlichen Ländern zu verschaffen.
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Die Bücher in der Bibliothek sind zunächst in einigen allgemeinen Sektionen und dann thematisch sortiert, eine recht detaillierte Übersicht kann auf der Internetseite der Bibliothek eingesehen werden. In den ersten Sektionen finden sich zum einen Nachschlagewerke, wichtige Werke der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie solche zu verschiedenen Rechtsbereichen (Sektion „General“). Zum anderen sind dort Klassiker rechtssoziologischer Forschung und Theoriebildung, unzählige Einführungs- und Überblickswerke zu letzteren und zu rechtssoziologischer Forschung im Allgemeinen versammelt sowie Werke aus den vielen „law and …“-Forschungsrichtungen (Sektion „Law and Society“). Hieran schließen sich die thematisch gegliederten Sektionen an („Legal Norms“, „Social Control“, „Conflict Resolution“, „Legal and Judicial Occupations“, „Governance“, „Rights“). Diese thematische Gliederung ermöglicht es, gewissermaßen durch ein Schweifen des Blickes oder ein Ablaufen der Regale (sowie Hinauf- und Herabklettern der Leitern, die erforderlich sind, um die oberen Regale einzusehen) auf „Recherche“ zu gehen. Diese Möglichkeit dürfte in vielen großen Universitätsbibliotheken häufig nicht gegeben sein. Denn dort werden die betreffenden Werke meist wahrscheinlich sehr viel weiter verstreut sein, nicht selten auf unterschiedliche Fachbereiche, und ein Werk lässt sich in diesem Fall praktisch nur dann auffinden, wenn man es auch gezielt sucht – was wiederum voraussetzt, bereits von seiner Existenz zu wissen. So lassen sich in der Bibliothek des IISL sowohl gezielt gesuchte Werke auffinden (nicht selten gibt es hier positive Überraschungen!) als auch produktive „Zufallsfunde“ machen.

Ein interessanter Effekt, der sich beim Forschungsaufenthalt am IISL recht schnell einstellt, ist die Selbstverständlichkeit der Beschäftigung mit „Rechtssoziologie“. Zwar wird darunter, je nach individuellem und disziplinärem Hintergrund, höchst Unterschiedliches verstanden. Eines tritt jedoch nie auf, womit jedenfalls viele mit soziologischen Methoden und Ansätzen arbeitende Jurist*innen und vielleicht auch einige an Recht interessierte Soziolog*innen bisweilen zu kämpfen haben: Erstaunen und die Frage, was „damit“ (der soziologischen Perspektive auf Recht oder der Fokussierung auf den Gegenstand Recht) denn erklärt werden könne und ob das denn eigentlich noch zur eigenen Disziplin gehöre und von dieser wahrgenommen werden müsse. Das IISL lässt die Besucherin wahrlich glauben, die Rechtssoziologie sei eine stolze Disziplin wie andere auch und keine, die zwischen den Stühlen sitzt, oder womöglich auf zwei oder noch mehr unterschiedlichen, zwischen denen bisweilen ein gehöriger Abstand besteht. Das in On͂ati herrschende (Selbst-)Verständnis von Rechtssoziologie erscheint der Besucherin breit und undogmatisch zu sein, die rechtssoziologische community am IISL ist in der Folge entsprechend offen und inklusiv. Hier wird, in bester rechtssoziologischer Manier, auf institutioneller, Bildungs- und handlungspraktischer Ebene und mit einigem Sinn für Performativität an der Kreation von Rechtssoziologie als selbstverständlicher akademischer Disziplin gearbeitet. Wie sich das gestärkte rechtssoziologische Selbstbewusstsein dann im heimischen Kontext entfalten wird, bleibt abzuwarten.

Der Aufenthalt vor Ort ist tatsächlich durch verschiedene Erfahrungsräume charakterisiert. Da ist zum einen natürlich der intellektuelle Erfahrungsraum für Studium und Austausch in Bibliothek und Institut. Zum anderen ergeben sich viele Möglichkeiten für Entdeckungen. Die sehen je nach Persönlichkeit und Geschmack anders aus: Sei es das dörfliche Nachtleben (von dem die Einheimischen einerseits versichern, es gebe hier ausgesprochen gutes „Ambiente“, andererseits habe im Baskenland jedes Dorf oder Städtchen solche weithin genutzten Möglichkeiten zum Sozialisieren), das eine politische Variante etwa im neben der Residenz gelegenen Jugendkulturzentrum hat, eine traditionelle baskische Tanzgruppe, kulturell und historisch bedeutsame Ausflugsziele (etwa das nahe gelegene Kloster Arantzazu, von On͂ati aus erreichbar ist auch Guernica), kulinarische Entdeckungen (Fisch von der Küste oder Käse direkt vom Schäfer), der örtliche Wanderverein, der Mitwandernde gerne mit auf einen Ausflug nimmt oder überhaupt die Höhlen und Felsen (zum Bestaunen und Erklettern), die Wiesen und nahen Mittelgebirgsketten.
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Und das spezifisch baskische politische Geschehen ist mit wachem Auge gut sichtbar: Das vergangene des bewaffneten Konflikts, der noch vielerorts und wohl auch in vielen Familien und Freundeskreisen nachwirkt (hierüber schreibt etwa der baskische, in Deutschland lebende Autor Fernando Aramburu) und sich vordergründig und aller Orten sichtbar in der Forderung äußert, die politischen Gefangenen der ETA seien, wenn zwar nicht freizulassen, so doch zumindest auf heimatlicher Erde (statt teils viele hundert Kilometer entfernt oder sogar auf den Balearen oder Kanaren) mit verbesserter Möglichkeit der Kontaktaufnahme gefangen zu halten. Die andere Seite, die sich als Opfer der ETA sieht, ist zwar in den Medien – je nachdem welche man konsumiert – präsent, im öffentlichen Leben des Ortes hingegen weniger. Oder seien es die kleinen, aber recht spürbaren Umgestaltungen des Lebens in der Kommune, die laut Auskunft von Anwohner*innen durch die neue links-nationalistische politische Kraft Bildu (baskisch für sich versammeln) ins Leben gerufen wurden, die das hiesige Rathaus regiert. Das äußerst strikte und irgendwie drollige Recyclingsystem, bei dem alle Haushalte je nach Wochentag ihre verschiedenen Mülleimer(chen) vor die Tür stellen oder in die entsprechenden Vorrichtungen hängen, erstaunt selbst die deutsche, in Recyclingfragen wahrlich geschulte Besucherin.

Die Interaktion zwischen Oñati und dem IISL (das eine vom Baskenland sowie dem Research Comittee on Sociology of Law der International Sociological Association unterhaltene Stiftung ist) wird auf vielfältigen Wegen befördert. Von Einladungen der Bewohner*innen des Studierendenwohnheims in eine „sociedad“ in Oñati (bei diesen „Gesellschaften“ handelt es sich um Clubs in denen, exklusiv, die Mitglieder gemeinsame Räume mit Küche und Kneipenambiente unterhalten), über die Einladung junger Sozialwissenschaftler*innen in das Studierendenwohnheim hin zum „Freundschaftsprogramm“, durch das Studierende in Kontakt mit der lokalen Bevölkerung kommen können. Auch wird von der Stadt Oñati in jedem Jahr ein Stipendium ausgelobt, das dieses Jahr ein kanadischer Masterstudent erhält, der sich in seiner Masterarbeit mit der Situation pakistanischer Migrant*innen im Baskenland beschäftigen möchte.

Wer also eine Zeit lang in Ruhe rechtssoziologisch forschen möchte, vor einem Studierendenwohnheim nicht zurückschreckt und obendrein die Berge, Schafskäse oder auch die baskische Kultur liebt oder sich vorstellen könnte zu lieben, dem*der sei Oñati wärmstens ans Herz gelegt. (Für die kalten Monate bringe er*sie sich ausreichend warme Kleidung zum Überziehen mit, das gilt ausdrücklich auch für die geschlossenen Räume in Bibliothek und Wohnheim!) Für Forschungsaufenthalte kommt einstweilen nur die Variante Selbstzahler*in in Frage. Die Frist für die Bewerbung für ein Forschungsstipendium läuft stets Anfang Februar ab, die nächste Bewerbung ist also erst wieder für das akademische Jahr 2018/2019 möglich.
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Interview mit Vincenzo Ferrari, Mitbegründer und amtierender wissenschaftlicher Direktor des On͂ati International Institute for the Sociology of Law (IISL)

(Unter dem Titel „Rechtssoziologische Praxis – das IISL in On͂ati als verwirklichte Utopie“ publizierte Sophie Arndt am 12.07.2017 ein Interview mit Vincenzo Ferrari (2), das an dieser Stelle auszugsweise dokumentiert ist. Im Wortlaut:)

Vincenzo Ferrari (Jahrgang 1940) war Mitbegründer des On͂ati International Institute for the Sociology of Law (IISL) und ist seit dem akademischen Jahr 2016/17 wissenschaftlicher Direktor des Instituts. Er studierte in Mailand Rechtswissenschaft und promovierte bei Renato Treves, den er als seinen Lehrer betrachtet. Vincenzo Ferrari ist während seiner gesamten Laufbahn stets sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler gewesen. Er arbeitete zunächst an der Mailänder Universität als Assistent Renato Trevesʹ. Später lehrte er an den Universitäten von Cagliari (Sardinien, 1973-1983) und Bologna (1983-1990), ab 1980 als Lehrstuhlinhaber, bevor er im Jahr 1990 wieder nach Mailand zurückkehrte, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012 Professor für Rechtssoziologie und u.a. außerdem Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät war, sowie das juristische Promotionsprogramm und die Zusammenarbeit mit der League of European Research Universities (LERU) verantwortete.

In seiner rechtspraktischen Tätigkeit ist er aktuell Vize-Präsident der Jury des „Istituto dell’Autodisciplina Pubblicitaria“, der Instanz der Werbeselbstkontrolle in Italien (vergleichbar mit dem Deutschen Werberat). Das Gerichtswesen lernte er früh durch eine über Jahre andauernde Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter kennen. Sein 1968 gegründetes Rechtsanwaltsbüro mit dem Schwerpunkt Privat- und Arbeitsrecht unterhält er auch weiterhin und arbeitet unter anderem für die regionale Journalistenvereinigung der Lombardei.

Vincenzo Ferrari ist nicht nur sowohl Wissenschaftler als auch Praktiker, sondern hat seine Arbeit stets auf kosmopolitische Weise betrieben: Er war Gastprofessor an Universitäten in der ganzen Welt, hat Ehrenprofessuren der Universidad Externado de Colombia und der Universidad Metropolitana, Caracas, sowie Ehrendoktorwürden der Universitäten Rosario, Buenos Aires und Saragossa erhalten. Er ist seit 1969 Mitglied des Research Committee on Sociology of Law in der International Sociological Association, dessen stellvertretender Vorsitzender (1986-1990) und Vorsitzender (1990-1994) er war.

Zu seinen wichtigsten Publikationen, die teils in verschiedene Sprachen übersetzt wurden, zählen: Funzioni del diritto (Roma/Bari: Laterza, 1987), Giustizia e diritti umani (Mailand: Franco Angeli, 1995), Lineamenti di sociologia del diritto. Azione giuridica e sistema normativo (Roma/Bari: Laterza, 1997), Diritto e società (Roma/Bari: Laterza, 2004), Prima lezione di sociologia del diritto (Roma/Bari: Laterza, 2010). Ins Deutsche übersetzt wurde sein Interview mit Ralf Dahrendorf (Der Liberalismus und Europa. München: Piper, 1979). Im Jahr 1990 erschien der von ihm herausgegebene Band Developing Sociology of Law – A worldwide documentary enquiry (Mailand: Guiffrè).[1]

Er ist leitender Herausgeber der italienischen rechtssoziologischen Zeitschrift „Sociologia del diritto“.
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Sophie Arndt: Sie waren Mitbegründer des IISL im Jahr 1989. Was waren die Absichten und Erwartungen, die mit dieser Gründung verfolgt wurden?

Vincenzo Ferrari: Wir, vom Komitee für Rechtssoziologie der ISA (International Sociological Association), suchten damals nach einem Ort für ein festes Büro. Zu dieser Zeit war ich der stellvertretende Vorsitzende des Komitees, Jean Van Houtte[2] (Antwerpen) war der Vorsitzende und Volkmar Gessner[3] (Bremen) war Sekretär. Und auf einmal erfuhren wir von unserem Kollegen Francisco Javier Caballero Harriet[4] von der Universität des Baskenlandes (Universidad del Paìs Vasco, UPV), dass im Baskenland die Möglichkeit bestand, etwas viel Größeres aufzubauen. Dies ereignete sich während des internationalen Rechtssoziologiekongresses, im Juni 1988, in Bologna. Ich hatte damals eine Professur in Bologna inne. Im Dezember lud Caballero uns, die Vorstandsmitglieder des Komitees, dann ein, ins Baskenland zu kommen. Wir kamen also hierher, auch mein Lehrer, Renato Treves[5], war dabei. Mit der Regierung des Baskenlandes handelten wir ein Abkommen aus, das beide Seiten unterzeichneten. Und so wurde dieses Institut geboren, aus dem schließlich etwas mehr als nur ein Büro geworden ist (lacht). In den beinahe dreißig Jahren seines Bestehens ist es zum weltweiten Zentrum der Rechtssoziologie geworden. Anfangs lautete unsere Mission, einen Ort zu gestalten, der gleichzeitig der Zusammenkunft, der Reflexion und der Organisation und Entfaltung von Initiativen auf dem Gebiet der Rechtssoziologie dienen sollte. Diese Idee stammte von Caballero sowie von Volkmar Gessner, der mit Forschern in San Sebastián zusammenarbeitete. Derjenige, der diese Ausgangsidee maßgeblich interpretierte und umsetzte, ja der das IISL geradezu erfand, war André-Jean Arnaud[6]. Ihn ernannten wir zum Institutsdirektor. Er ließ alle seine anderen Aufgaben links liegen, zog gemeinsam mit seiner Ehefrau Wanda Capeller nach On͂ati und machte sich an die Arbeit. Innerhalb eines knappen halben Jahres konnten wir das Institut eröffnen. Das war ein unglaubliches Tempo – in Italien hätte solch ein Prozess zehn Jahre gedauert!

Es war also geradezu unerwartet, dass das IISL das Licht der Welt erblickte?

Ja, vollkommen unerwartet. Es war eine verwirklichte Utopie.

Hat sich das Konzept des IISL seither stark verändert?

Ich glaube nein. Aber ich bin der Meinung, dass es sich ein wenig verändern sollte. Meine persönliche Vorstellung vom IISL unterschied sich von Anfang an leicht von derjenigen der anderen Mitbegründer. Das Institut ist Ort des Zusammentreffens – dazu dienen die Workshops. Jedes Jahr finden am IISL 15 Workshops statt. Wir bekommen meist so viele Bewerbungen, dass wir doppelt so viele Workshops veranstalten könnten. Die Workshops waren von Beginn an einer der Hauptpfeiler des Instituts; der andere war die rechtssoziologische Lehre – junge Menschen sollen in die Rechtssoziologie eingeführt werden. Arnaud glaubte, dass das Institut als solches keine Forschung betreiben könnte, da es vor Ort keine festen Wissenschaftler gab. Ich hingegen schlug von Anfang an vor, dass wir versuchen könnten, die Workshops mit Forschungsvorhaben zu verbinden. Dafür hätten wir Workshops internationaler Forschergruppen fördern müssen. Aber so weit kam es nie. Nun versuche ich, diese Idee wieder aufzugreifen.

Seit den 80er und den 90er Jahren, die das goldene Zeitalter des Instituts darstellen, hat sich vieles verändert. Die erste und deutlichste Veränderung ergab sich aus den finanziellen Kürzungen. Unser Budget hat sich auf Grund der Finanz- und Wirtschaftskrise in Spanien deutlich reduziert. Wir müssen daher nun nach anderen Geldquellen suchen.

Aber die Lage ist auch noch aus einem weiteren Grund eine andere. Als das Institut anfing, zog es bereits Menschen aus der ganzen Welt an – und tut es bis heute. Mit den Jahren jedoch hat sich eine Gemeinschaft von Instituts-Alumni gebildet, die sich selbst als aktiver Teil des Instituts betrachtet. Ihre Unterstützung könnte es uns erlauben, eine Forschergruppe hierher einzuladen, die mit verschiedenen privaten und öffentlichen Geldern am IISL ein Forschungsprojekt aufbauen würde.

Das vollständige Interview mit Vincenzo Ferrari ist zu finden unter der Webadresse des Blogs „Rechtswirklichkeit“ barblog.hypotheses.org (Link). Fußnoten des Interviews (eckige Klammern) in der Original-Publikation.
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 ANMERKUNGEN:

(1) Die Publikation wurde Baskultur.info freundlicherweise von der Autorin Sophie Arndt zur Verfügung gestellt – wir danken für den Beitrag! Er wurde zuerst am 12.07.2017 veröffentlicht auf dem Blog „Rechtswirklichkeit“ unter folgender Webadresse (Link). Sophie Arndt ist Juristin und Soziologin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie lebt in Frankfurt am Main und Barcelona.

(2) Interview mit Vincenzo Ferrari, Mitgründer und amtierender wissenschaftlicher Direktor des On͂ati International Institute for the Sociology of Law (IISL), von Sophie Arndt (Link)

(3) Instituto Internacional de Sociología Jurídica de Oñati – Oñati International Institute for the Sociology of Law (Link)

ABBILDUNGEN

(*) Oñati im baskischen Gipuzkoa (FAT)

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