Sechs KZ-Deportierte identifiziert
75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und 75 Jahre nach der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager: in Prag wurden sechs Urnen mit der Asche von sechs aus dem spanischen Staat stammenden Deportierten gefunden. Einer davon ein Baske. Wie Tausende andere Antifaschisten war auch er nach dem Sieg der Putschisten im Spanienkrieg 1936-1939 nach Frankreich geflohen. Dort wurde er während der Nazi-Besetzung von der Gestapo festgenommen, in ein KZ gebracht, erschossen und verbrannt.
Jahrelange Nachforschungen von Anton Gandarias, Unai Egia und Antonio Medina haben Früchte getragen. Sie begannen unabhängig voneinander die Geschichte eines Deportierten zu erforschen, lernten sich bei dieser Arbeit kennen und unterstützten sich. Gandarias war auf der Suche nach dem Verbleib seines Onkels Anjel Lekuona, Medina suchte nach seinem Großvater, Unai Egia bemühte sich, den Tod des Katalanen Enric Moner im KZ Flossenbürg aufzuklären. Egia stieß bei seinen Nachforschungen auf Vicente Retegui, einen Basken aus der Grenzstadt Irun.
Diesen drei Hobby-Historikern ist es im Sommer 2021 gelungen, die Urnen mit der Asche von sechs Franco-Gegnern aus dem Krieg von 1936 ausfindig zu machen. Sie waren 1945 von den Nazis erschossen und verbrannt worden, nachdem sie durch verschiedene Konzentrationslager geschleust worden waren. Einer davon war Baske. Sein Neffe, Anton Gandarias, erzählte dem Journalisten Asier Robles von der baskischen Tageszeitung Gara die Geschichte seines Onkels Anjel Lekuona und wie er dessen Asche in der Hauptstadt der Tschechischen Republik fand. (1) (2)
Anjel Lekuona
Laut Gandarias hatte seine Mutter seit Juli 1945 einen Brief aufbewahrt, der im Haus der Familie angekommen war. Darin informierte ein Mann namens Gregorio Uranga aus dem Dorf Uruñuela in der Region La Rioja über den Tod von Anjel Lekuona, der wenige Monate zuvor von den Nazis ermordet worden war. Ein wesentlicher Hinweis in jenem Brief: "Er wurde in Prag verbrannt". - "Ich bin überzeugt, dass es unter den Gefangenen einen Pakt gab, in dem sie beschlossen, dass sie die Familien der übrigen Gefangenen über die Geschehnisse informieren würden, falls jemand lebend herauskäme", so Gandarias.
Gandarias bekam den Brief im Jahr 2000 zu Gesicht. Nach der Lektüre begann zu untersuchen, was geschehen war. "Ich fing an, das Internet zu durchforsten, um mehr Information zu finden. Es gab Zeiten, in denen ich entmutigt war, weil ich keine Fortschritte machen konnte, aber hin und wieder schickte mir jemand neue Informationen, sodass ich weiter dran blieb“. Erst sechs Jahre später, im Jahr 2006, konnte er in seiner Forschungsarbeit einen großen Schritt nach vorne machen. Eine Person aus Mallorca schickte ihm Unterlagen über das Konzentrationslager Buchenwald, in dem sein Onkel Anfang 1944 vorübergehend interniert gewesen war. (2)
Von den Nazis verhaftet
Lekuona war nach einer langen Reise durch Westeuropa auf der Flucht vor Franco und seinen Schergen in die Hände der Gestapo gefallen und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert worden. Er wurde 1913 als ältestes von elf Geschwistern in einer Familie aus Busturia in der Nähe Gernikas geboren. Ein Jahr nach dem Militarputsch gegen die Zweite Spanische Republik, im Jahr 1937, und nach der Bombardierung von Gernika, drangen Francos Truppen in Busturia ein. Sie verhafteten mehrere Nachbarn, von denen sieben im August desselben Jahres erschossen wurden. "Als mein Onkel das sah, beschloss er zu fliehen und sich einem Bataillon zur Verteidigung der Republik anzuschließen. In Asturien oder Kantabrien nahm er ein Boot, das ihn in den Süden des französischen Staates brachte, und von dort aus gelangte er nach Katalonien, das noch immer loyal zur Republik stand", erzählt Gandarias. (2)
Den Nachforschungen seines Neffen zufolge trat Lekuona in die 142. baskisch-pyrenäische Brigade ein, die von der baskischen Exilregierung organisiert wurde, um alle baskischen Bataillone zu vereinen, die in ganz Spanien verstreut waren. Er nahm an der Schlacht am Ebro teil und erreichte von dort aus Katalonien, auf dem Rückzug vor Francos Offensive. Anfang 1939 floh er über die Grenze nach Frankreich.
Bis April desselben Jahres war er im Flüchtlingslager Argelès-sur-Mer interniert, das die französische Regierung ca. 35 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt an den Stränden der am Mittelmeer liegenden gleichnamigen Stadt einrichtete: als Auffanglager für die vielen Flüchtlinge, die nach dem Fall der Stadt Barcelona in Richtung Frankreich strömten, um sich vor den näher rückenden Truppen Francos in Sicherheit zu bringen. (LINK) Von dort aus wurde Lekuona in das Lager Gurs im französischen Département Pyrénées-Atlantiques verlegt, einem Auffanglager für baskische Flüchtlinge im damals nicht von Deutschen besetzten Teil Frankreichs gelegen. (LINK)
Im Juni konnte er das Lager verlassen und arbeitete für die Holzfirma Lombardi & Morello in der Ortschaft Arudy, wo es erheblichen antifaschistischen Widerstand gab. Nachdem die deutsche Wehrmacht im Verlauf des Zweiten Weltkriegs auch den bis dahin “freien Teil“ Frankreichs besetzte wurde Lekuona im Juli 1943 von der Gestapo verhaftet und im Fort du Hâ in Bordeaux interniert, bevor er in das Durchgangslager Compiegne nördlich von Paris gebracht wurde. Am 19. Januar 1944 wurde Angel Lekuona zusammen mit 2.000 anderen Häftlingen in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht und einen Monat später, am 23. Februar, von dort nach Flossenbürg nahe der tschechischen Grenze überführt. Wiederum einen Monat später wurde er nach Hradischko, einem in der Tschechischen Republik befindlichen Außenlager von Flossenbürg, verlegt, wo er bis zu seinem gewaltsamen Tod am 9. April 1945 zur Zwangsarbeit beim Straßenbau verdammt war. (2)
Das Außenlager Hradischko
Die von Egia, Medina und Gandarias durchgeführten Untersuchungen haben auch dazu beigetragen, die Geschehnisse in einem der weniger bekannten Konzentrationslager des Dritten Reiches aufzudecken. Mindestens 40 Spanier kamen im März 1944 aus dem "Stammlager" Flossenbürg ins 200 Kilometer entfernte Außenlager Hradischko (20 Kilometer südlich von Prag). Sie alle waren Antifaschisten, die im Widerstand gegen Franco und Hitler gekämpft hatten. Ihre Tapferkeit haben sie teuer bezahlt. Nur ein Viertel von ihnen schaffte es, in dieser Hölle zu überleben. Alfred Kus, der Kommandant von Hradischko, und Erwin Lange, der SS-Sturmbannführer, der die Garnison befehligte, waren zwei brutale Verbrecher. Die Lebensbedingungen der Häftlinge waren unerträglich. Sie arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bekamen kaum etwas zu essen und mussten alle Arten von Demütigungen und Folter erdulden. Die Grausamkeit von Lange wurde Mitte April besonders deutlich. Mindestens 50 Häftlinge wurden auf dem Weg zur Arbeit erschossen. Unter ihnen befanden sich fünf der spanischen Deportierten, deren Asche nun gefunden wurde, auch die von Angel Lekuona.
Das Schicksal der Hradischko-Häftlinge war damit noch nicht beendet. Das Herannahen der sowjetischen Truppen veranlasste Lange, die Beseitigung aller Häftlinge im Krankenrevier des Lagers anzuordnen. Mit dieser Aufgabe wurde ein gewöhnlicher deutscher Häftling betraut, der sich daran machte, seinen Mitgefangenen nach und nach Ethanol zu spritzen. Zwei Wochen später, am 26. April, löste der SS-Sturmbannführer das Lager auf, trieb die restlichen Gefangenen zusammen und organisierte ihren Abtransport auf einem Todesmarsch zu Fuß und in Viehwaggons in Richtung Prag, dem mindestens 100 weitere Männer zum Opfer fielen. Nach einer zweiwöchigen Höllen-Reise wurde der Zug der Überlebenden von einem Kommando tschechischer Partisanen abgefangen, die die Gefangenen befreiten. (3)
Das Krematorium in Prag
Da das Lager Hradischko über kein eigenes Krematorium verfügte, beschloss die Lagerleitung, die Leichen ihrer Opfer im zivilen Krematorium in Strašnice bei Prag zu verbrennen. Und hier geschah das Außergewöhnliche. Der Leiter dieses Krematoriums, ein Mann namens František Suchý, beschloss, sich über den Befehl der SS, die Asche verschwinden zu lassen, hinwegzusetzen. Nach der Einäscherung der Leichen füllte er die Asche jeder Person in einen nummerierten Topf, während er auf einem Blatt Papier den Vor- und Nachnamen, den Todestag und die Nummer, die er jeder Person zugewiesen hatte, notierte. Währenddessen fertigte sein Sohn eine handschriftliche Abschrift an, um ein Duplikat an einem sicheren Ort zu hinterlegen. In einer lebensbedrohlichen Aktion versteckten sie daraufhin die Töpfe.
Paradoxerweise wurde die Heldentat von František Suchý und seinem Sohn, ebenso wie die Geschichte dieser sechs Männer im Lande bewusst verschwiegen. Der Grund dafür ist besonders dramatisch. Die neue kommunistische Regierung kopierte die Strategie der Nazis im Prager Krematorium. Diesmal war es die tschechische Polizei, die die Leichen der politischen Dissidenten ins Krematorium brachte und den Krematoriumsleiter Suchý anordnete, die Leichen zu verbrennen und ihre Asche verschwinden zu lassen. Der Leiter des Krematoriums beschloss erneut, nicht zu gehorchen. Dieses Mal wurden Vater und Sohn verhaftet und mussten eine lange Haftstrafe verbüßen. (3)
Kooperation der tschechischen Behörden
Als Anton Gandarias von František Suchýs Geschichte erfuhr, beschloss er, sie gemeinsam mit Unai Egia und Antonio Medina zu recherchieren. Sie sprachen mit der spanischen Botschaft in Prag und auch mit der tschechischen Delegation in Madrid, die ihnen einen Stipendiaten aus der Hauptstadt des mitteleuropäischen Landes zur Seite stellte. "Worte reichen nicht aus, um für die Unterstützung zu danken, die wir aus der Tschechischen Republik erhalten haben", sagt Egia. "Wir haben mit der Botschaft in Madrid gesprochen und sie haben uns unterstützt. Sie ernannten einen wissenschaftlichen Mitarbeiter, der uns von Prag aus helfen sollte. Es war unglaublich." (3)
"Nach langwierigen Verhandlungen erfuhren wir, dass auf der Liste, die Suchý vor Jahrzehnten erstellt hatte, sechs Personen mit spanischer Staatsangehörigkeit standen. Einer davon war der Name meines Onkels mit der Häftlingsnummer 62.559 sowie weiteren Informationen: Gestorben am 9.4.1945, eingeäschert am 10.4.1945", berichtet Gandarias. "Mit dieser Nachricht erreichte ich einen Punkt, den ich mir zu Beginn meiner Untersuchungen niemals vorstellen konnte“. (2)
Tatsächlich überbrachten schließlich der oberste Leiter des Gefängnisarchivs (Aleš Kýr) und der Verantwortliche der Prager Friedhöfe (Julius Mlčoch) die erhoffte Nachricht: "Es stehen sechs Spanier auf der Liste". Kurze Zeit später erhielten sie eine Kopie der Originalliste, die Suchýs Sohn bis zu seinem Tod aufbewahrt hatte und die alle Informationen enthielt: “Henri Mone (Enric Moner), gestorben am 9.4.1945, eingeäschert am 10.4.1945, Urne Nr. 62557 / Pedro Raga, Ángel Lekuona, Antonio Medina und Rafael Moya erschienen mit identischen Todes- und Einäscherungs-Daten wie Moner in den Urnen 62558, 62559, 62560 bzw. 62563 / Vicente Vila Cuenca wurde als am 19.4.1945 gestorben und am 23.4.1945 eingeäschert in der Urne Nr. 62752 aufgeführt“. (3)
Gedenktag 8. Mai
Gandarias erfuhr auch, dass 1946, als die Sowjets die Kontrolle über die Tschechische Republik hatten, die Töpfe mit der Asche aus ihrem Versteck geholt und an einem sichtbaren Ort im Krematorium aufgestellt wurden, um auf diese Weise an die Ermordeten zu erinnern. Seither finden jedes Jahr am 8. Mai, dem Tag der Befreiung des Landes vom Nationalsozialismus, im Krematorium selbst Gedenkveranstaltungen statt. (2)
In der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Flossenbürg erinnert heute eine Gedenktafel an die Biografie eines spanischen Häftlings und erzählt die Geschichte von Angel Lekuona. "Ich bin glücklich, denn auf diese Weise wird mein Onkel anerkannt, und wer dorthin geht, wird sehen können, dass es eine Biographie von Angel Lekuona gibt (...) Auf diese Weise werden die Leute wissen, dass jemand aus Busturia in einem deutschen KZ gestorben ist. Einfach so. Damit die Leute wissen, was passiert ist". Anton Gandarias nahm als Vertreter des Gemeinderats von Busturia an der Präsentation der Dauerausstellung in Flossenbürg teil. (2)
Rückholung der Asche
Die Angehörigen der in der tschechischen Hauptstadt eingeäscherten baskischen und spanischen Deportierten versuchen, deren Asche zu überführen, was ihnen aufgrund bürokratischer Probleme vermutlich nicht leicht fallen wird. Gandarias gibt jedoch die Hoffnung nicht auf und hat bereits Verhandlungen mit den zuständigen Behörden aufgenommen, um die Urnen zu bergen, obwohl er nach seinen Worten den Eindruck hat, dass weder die baskischen noch die spanischen Institutionen diesbezüglich viel Engagement zeigen. Der französische Staat hat die Urnen seiner deportierten und ermordeten Landsleute bereits 1948 zurückgefordert und auch erhalten. "Jetzt ist es an der Zeit, dass diese sechs Aktivisten zurückkehren. Zwar in einer Urne, aber in ihre Heimat", sagt er abschließend. (2)
ANMERKUNGEN:
(1) “Tod im KZ Flossenbürg“, Artikel bei baskultur.info, der auf die Recherchearbeit von Unai Egia zurückgeht (LINK)
(2) Der Artikel basiert im Wesentlichen auf der Information aus zwei Quellen, die beide auf Interviews mit Anton Gandarias zurückgehen. A: "Rescatando la memoria: de Busturia a un crematorio de Praga" (Erinnerung retten: von Busturia in ein Prager Krematorium) von Asier Robles. Veröffentlicht in der Tageszeitung Gara am 18.10.2021 (ohne LINK) / B: "Entrevista a Anton Gandarias, sobrino de Angel Lekuona" (Interview mit Anton Gandarias, Neffe von Angel Lekuona), veröffentlicht im Internetportal Euskal Memoria, über die Deportation baskischer Häftlinge in Konzentrationslager der Nazis, ohne Datumsangabe (LINK)
(3) "Localizan las cenizas de seis españoles asesinados en un campo de concentración nazi" (Asche von sechs in einem Nazi-KZ ermordeten Spanier ausfindig gemacht) Onlinezeitung El Diario, Carlos Hernández, 26.9.2021 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) KZ-Opfer (eldiario)
(2) Lekuona (euskalmemoria)
(3) Kremator Prag (eldiario)
(4) KZ Flossenbürg (wikipedia)
(5) Lekuona (euskalmemoria)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-11-05)