Die neue Normalität der Rückfälle
Nach vier Wochen “neuer Normalität“ ist eines klar: alle Appelle an die Vernunft der Bevölkerung, die neue Freiheit nicht zu übertreiben, waren umsonst. Vor allem die jüngere Generation ist in kürzester Zeit in alte Exzesse zurückgefallen. Vom ersten Tag an waren die Strände maßlos überfüllt, Binnentourismus ist Trumpf. Medien bestätigen der Regierung Kontrollverlust, scheuen sich aber davor, neue Lockdowns zu fordern. Die Wirtschaft würde Amok laufen. Das Kaninchen starrt reglos auf die Schlange.
2020-08-12 / Post-Covid Tag (52)
REISEWARNUNG
Das deutsche Außenministerium hat das Baskenland entdeckt. Oder besser: die Viren, die in Araba, Bizkaia und Gipuzkoa umherschwirren. Aufmerksam wie es sich gehört und mit Weitsicht im Interesse der reisenden bundesdeutschen Bevölkerung wurde nun neben Navarra auch die Region Baskenland unter Kuratel gestellt. In einer ehrenvollen Reihe von weiteren 130 EU-Regionen. Denn die Pandemie wurde zuletzt nicht mehr nach Ländern sortiert, sondern nach Virus-Ansammlungen, Städten und Regionen. Wer aus einer dieser Regionen “von hohem Risiko“ kommt, muss bei der Rückkehr einen Test machen oder nachweisen, sonst häusliche Quarantäne.
REICHE REICHER TROTZ COVID
Die Weltwirtschaft, so wird geschätzt, hat durch die Coronavirus-Pandemie 10 Billionen Euro verloren. Dieser schmerzhafte Einschnitt betrifft jedoch nicht die Reichsten der Reichen. Im Gegenteil: sie sind in derselben Zeit um 250 Milliarden reicher geworden. So jedenfalls die Liste der Multimillionäre des berühmten Medien-Konzern Forbes (23. März bis 22. Mai 2020). Die Rede ist von den 25 umfangreichsten Wohlhaben der Welt. Am meisten profitiert von der Krise hat Mark Zuckerberg, Eigentümer von Facebook. Mit einem Besitz von 75 Milliarden ist er von Platz sieben auf vier vorgerückt. Geschichten wie bei Monopoly.
An der Spitze dieser Edelkapitalisten liegt der Amazon-Besitzer Jeff Bezos mit stattlichen 125 Milliarden. Das ist mehr als das Doppelte des Reichtums des Galiciers Amancio Ortega, Gründer von Inditex und dem kaufwilligen Publikum besser bekannt für seine Zara-Klamotten-Läden. Dieser “reichste Spanier“ schwimmt wie Dagobert Duck in einem Pool von 55 Milliarden. Amazon ist bekanntlich einer der Krisen- oder Kriegs-Gewinnler der Pandemie. Denn wo die Menschen zum Einkauf nicht mehr das Haus verlassen durften, wurde wie verrückt über Internet bestellt: Pizza, Supermarkt, Ikea, aber vor allem beim Allrounder Amazon.
BITTE ERHÖHT DIE STEUERN!
Bill Gates, zweitreichster Planetarier mit 92 Milliarden, versicherte kürzlich, dass Philanthropie eine freiwillige Angelegenheit sein müsse. In jenem Moment dachte er sicher nicht daran, dass 83 Millionäre aus USA, Deutschland, Frankreich, Dänemark, Holland, Great Britain, Schweden und Neuseeland von ihren jeweiligen Regierungen fordern würden, die Steuern für Superreiche zu erhöhen. Falls jemand das Wort Philanthropie fremd ist: es beschreibt den Vorgang, wenn ein ganz Reicher einem ganz Armen etwas von dem schenkt, was er sich vorher über massive kapitalistische Ausbeutung oder Spekulation angeeignet hat.
Zur karitativen Umverteilung gibt es dann die Stiftungen: Rockefeller, Gates, Soros, Guggenheim, Bloomberg … um das Gewissen ein wenig zu desinfizieren, Steuern zu sparen und als Humanisten dazustehen. “Wir haben Geld, viel Geld, Geld, das nun verzweifelt gesucht wird, und das lebenswichtig sein wird in den nächsten Jahren, bis sich die Welt von der Krise erholt“, heißt es in der Verlautbarung der 83 Millionäre. Gespenstisch, surrealistisch, pervers. “Wir fordern unsere Regierungen auf, die Steuern für Reiche wie uns zu erhöhen. Sofort. Im großen Stil. Auf Dauer.“ Unter den Forbes-Gelisteten sind die 83 nur kleine Fische. Ich fordere meine Regierung auf, den Kapitalismus abzuschaffen.
RUFE NACH MORAL
Auch in Madrid steht die Frage von Steuererhöhung für Reiche auf der Tagesordnung, doch ist nur Podemos daran interessiert. In den sozialen Netzen wird Inditex-Zara-Ortega eins ums andere Mal aufgefordert, mehr Steuern zu zahlen und sich nicht alle zwei Wochen irgendwo als karitativer Spender feiern zu lassen. Im Baskenland hatte er zu Beginn des Lockdowns ein millionenschweres Krankenhaus-Equipment gesponsert und war dafür in der bürgerlichen Presse gefeiert worden. Ein wahrhaft ekliger Vorgang, wenn wir uns vor Augen halten, woher der Reichtum u.a. kommt: Klamotten, die in Bangladesch fast kostenlos produziert werden, von Frauen in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen. Mehr als eine Fabrik ist schon abgebrannt, mit tausenden Opfern, die nicht fliehen konnten, weil die Türen verriegelt waren.
Ein weiteres Dauerthema ist das Geld der Bankenrettung von 2009, als der Staat Milliarden in kaputte Geldhäuser steckte, unter dem Versprechen, dass die Kohle komplett zurückgezahlt werde. Dies ist nicht geschehen, der korrumpierte Staat Spanien mit seiner desaströsen Wirtschaft bräuchte es notwendiger als je zuvor.
2020-08-11 / Post-Covid Tag (51)
VERPASST VERPASST
Dass die Ausgaben für Renten im Baskenland zum ersten Mal in der Geschichte gefallen sind, habe ich verpasst. Es handelte sich um eine Tagesmeldung Ende Mai. Grund für die Ersparnis: das Coronavirus. Denn aufgrund von Todesfällen (mit und ohne Corona) gab es plötzlich 1.912 weniger Rentnerinnen. Dazu kam, dass die Antragstellung für Neu-Rentner extrem schwierig war, weil die Behördenbüros wegen Covid geschlossen hatten.
MIGRANTEN VERPASST
Verpasst habe ich auch, dass allein im Juli 800 afrikanische Migranten in die baskische Grenzstadt Irun kamen, um dort Versuche zu starten, die Grenze hinter sich zu bringen. Die französischen Behörden begeistert das nicht besonders, illegale Express-Ausweisungen sind an der Tagesordnung. Die meisten Flüchtlinge wollen nach Frankreich oder Belgien, weil sie selbst aus französisch-sprachigen Ländern stammen und in Mitteleuropa bereits Angehörige haben. Der Aufenthalt im Iruner Roten-Kreuz-Übergangsheim ist kurz, die meisten wollen schnell weiter, die Medien hatten andere Sorgen, als über die Flüchtlinge zu berichten.
PILGER VERPASST
Pilger sind die Stiefkinder unter den Touristen. Sie geben wenig Geld aus und leben von Luft und Sonne. Dass auf dem Abschnitt des Jakobswegs von den Pyrenäen bis Bilbao nur 7 von 57 Herbergen geöffnet haben, macht das Wandern zu einem echten Abenteuer-Urlaub. Auch das ist mir – dem militanten Nicht-Pilger – entgangen. In Bizkaia ist bislang keine einzige öffentliche Station offen, die Perspektiven sind schlechter denn je. Unter den Pilgerinnen fehlen die Auswärtigen diesen Sommer fast vollständig, so bleibt Santiago in einheimischer Hand.
ARME VERPASST
Dass die Benzinpreise stark gefallen sind ist mir nicht entgangen. Wohl aber, dass in Bilbao im Corona-Alarm um die 28.000 Personen darauf angewiesen waren, bei öffentlichen Essens-Vergabestellen vorstellig zu werden, um nicht zu hungern. Doppelt so viele wie ein Jahr zu vor. Elf “Hunger-Warteschlangen“ gibt es in der Stadt. Wo die wirtschaftliche Situation schlechter wird werden die Schlangen länger. “Wir hatten Leute, die nie im Leben daran gedacht hätten, dass sie eines Tages zu unserer Essensausgabe kommen müssten“. Weil die meisten Ausgabestellen mit der Kirche verbunden sind, können die endlich mal wieder von Zulauf sprechen.
NICHT VERPASST
Nicht verpasst habe ich, dass in der baskischen Regierung offen von der zweiten Corona-Welle gesprochen wird. Die Gesundheits-Verantwortlichen erwarten eine entsprechende Einlieferungs-Welle in Hospitälern, nachdem sich in den vergangenen Tagen die schweren Corona-Fällen vermehrt haben. Derweil kündigt die Regierung weitere harte Maßnahmen an, sollte sich die Situation nicht baldigst stabilisieren. Die Rede ist weiter von nächtlichem Ausgehverbot. Die Gastronomen wollen davon nichts wissen, im Gegenteil. Sie fordern die Aufhebung der neu verkündeten Sperrstunde und wollen am Wochenende bis 3 Uhr Corona propagieren, den Diskotheken soll diese Möglichkeit bis 5 Uhr offen stehen. Eine entsprechende Klage gegen die Behörden ist anhängig. Eigentlich hatten wir die zweite Welle erst im September erwartet, aber erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Langsam wird jedenfalls klar, weshalb die baskischen Regional-Wahlen so schnell über die Bühne gehen mussten. Denn mit so viel Polizei sind keine Wahlen zu gewinnen.
2020-08-10 / Post-Covid Tag (50)
DIE COVID-SPEZIES
Pandemie, Coronavirus und Lockdown haben in der baskischen Gesellschaft zu neuen Stereotypen geführt, die überall in Erscheinung getreten sind und mit ihren überaus speziellen Umgangsformen den neuen Alltag in der Katastrophe geprägt haben. Im Folgenden eine erste Stereotypen-Sammlung. Über die Ernsthaftigkeit dieses Beitrag mögen andere urteilen.
DIE PANISCHEN
Natürlich war die Pandemie ein Grund zur Angst! Dennoch ließen sich manche zusätzlich von der Panik leiten. Auf die Straße traten sie wie Zombis auf Expedition, es fehlte nur Tarnkleidung und eine automatische Waffe. Beobachtet wurden Leute mit drei Masken, Gesichtsschutz, am ganzen Körper aufgetragenem Alkohol-Gel und Plastik-Handschuhen.
UNERSÄTTLICHE SPORTLER
Die Langeweile des Einschlusses wurde für viele zur idealen Gelegenheit zur sportlichen Betätigung. Um fit zu bleiben, die fehlende Bewegung auszugleichen und am Ende besser dazustehen als je zuvor. Die Medien leisteten Vorschub und präsentierten jeden Tag irgend einen Profi (Fußballer, Pelotari, Radler, Ruderer), um die träg-fette Masse zu bewegen. Im Gegensatz zur Josu Normal im Wohnungsloch ohne Balkon und Fenster zur Straße turnten diese Privilegierten in offenen Gärten, olympischen Swimmingpools oder riesigen Indoor-Fitnessräumen. Wer sich davon nicht anmachen ließ, turnte mit Facebook oder WhatsApp zum Ärger der Nachbarn bis in die Nacht.
VERSCHWÖRUNGS-GLÄUBIGE
Dass uns die Chinesen etwas vorenthalten. Dass hier jemand einen biologischen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Oder, dass Bill Gates die Weltbevölkerung halbieren will. Zu solchen Verschwörungs-Theorien ließen sich viele hinreißen, die auch sonst der staatlichen Macht misstrauen. Von Trump und Bolsonaro animiert versammelten sie sich schutzlos, um zu demonstrieren, dass Corona nur eine Erfindung sei, und dass uns ein Polizeistaat drohe. Keine Masken tragen, keinen Abstand wahren, Impfungen ablehnen und schlecht versteckte Botschaften von Halbnazis weiterschicken, so die Erkennungs-Elemente dieser sektenhaft erscheinenden Gruppe.
DIE EREMITEN
Wer schon vorher das Zuhause liebte, einer Haustätigkeit wie dem Schriftstellern nachging und die Sonne hasste, konnte dem Lockdown eine ganze Menge abgewinnen. Endlich monatelang in den eigenen vier Wänden bleiben ohne die ablenkenden Verlockungen des Alltags. Telearbeit war ein willkommenes Argument, um von zu Hause aus die Schülerinnen oder Klientinnen zu befrieden und befriedigen. Die Angst vor Ansteckung tat ihr Übriges, sich nur wenn unbedingt notwendig auf der Straße sehen zu lassen.
DIE WITZEMACHER
Wer die plötzliche apathische Leere im Alltag nicht anders zu füllen wusste, begab sich im Internet auf die Suche nach Witzen und Humorvideos, um die Mitwelt ebenfalls damit zu beglücken. Was zu Beginn noch ganz ermutigend und unterhaltend war, die Witze über das Horten von Klopapier zum Beispiel, wurde für das Umfeld mit der Zeit zum Alptraum, wenn die Speicher der Mobiltelefone sich mit medialem Müll füllten.
DIE BESSERWISSER
Die immer alles wissen und nie den Mund halten. Meinungswechsel mit inbegriffen, mitunter innerhalb von Stunden. Die Besserwisser gefallen sich wie die Toreros, wenn sie über WhatsApp Allgemeinplätze wie “eine normale Grippe tötet mehr Menschen als das Covid“ in den Freundeskreis posaunten, oder “alles ist eine Erfindung der Pharmaindustrie, die an einer Spritze verdienen will“. Manche erlitten mit den Wochen einen pessimistischen Abgang: “Sanchez ist ein Totengräber, wir werden alle sterben“. Dank unendlicher Information im Internet, einer Vielzahl von medialen Diskussions-Runden und der Dauer-Bombardierung mit aktuellster Information fiel es dieser Spezies leicht, das Stammtisch-Niveau über Monate konstant niedrig zu halten.
DIE TOLLKÜHNEN MACHOS
“Schutzmaßnahmen sind Schwachsinn, Pedro Sanchez hat mir überhaupt nichts zu sagen.“ Die Spezies der Waghalsigen ging erhobenen Hauptes durch die Straßen, um auf alle Masken- und Handschuh-Träger verächtliche Blicke zu werfen, als würde es sich um schädliche Insekten handeln. Husten und auf den Boden spucken gehörte zum unbedingten Repertoire, diese Zeitgenossen gefielen sich in der Rolle der Widerständler gegen die Polizei und erzählten stolz von ihren Bußgeldern wegen Nichtbeachtung der Regeln.
DIE GELANGWEILT-KREATIVEN
Weil sie nicht zur Unterhaltung auf die Straße durften, zu Hause außer Fernsehen nichts mit sich anzufangen wussten, und sich beinahe zu Tode langweilten, suchte sich diese Spezies neue Herausforderungen im Internet. In Form von Kursen, Rezepten, Handbüchern und Gebrauchsanleitungen: Teig machen mit oder ohne Hefe, einen exotischen häuslichen Garten anlegen, die besten Übungen, um den Bauch zu reduzieren … um all das selbstverständlich an alle Welt weiterzugeben. Weil diese Extrovertierten, so die Psychologie, die andern für ihre Entfaltung und ihr Wohlbefinden unbedingt brauchen.
DIE BALKON-POLIZEI
Kann sein, dass wir alle etwas davon haben, Tratsch ganz nett finden und uns schon mal über die Balkon-Brüstung lehnen, um zu sehen, was in unserer Straße passiert. Unter normalen Umständen. Doch im Alarmzustand wird diese Angewohnheit zur Mission. Nachbarn kontrollieren, wer geht zu welcher Zeit auf die Straße, wer zum sechsten Mal mit dem Hund, ob die Mutter mit ihrem Kind den Zeitrahmen um fünf Minuten überschritten hat. In Extremfällen werden die Ertappten zur Ordnung gerufen. Oder ein Anruf bei der richtigen Polizei. Balkone waren gefährlicher als die Geschütze der Nazis bei der Landung der Alliierten, sinniert ein Zyniker. “Morgens verwüsten diese Balkon-Nazis die Supermärkte und abends klatschen sie sich die Hände wund für Polizei und Krankenpfleger.“
2020-08-09 / Post-Covid Tag (49)
DIE WELLE ROLLT
… und zwar auch wieder in baskischen Altersheimen. Dort hatte es seit 1. Juli keine neuen Ansteckungen mehr gegeben. Nun aber gleich acht in einer Residenz. Auch die übrigen Zahlen sind weiter auf dem Vormarsch. Die Gesundheits-Senatorin spricht offen von einer zweiten Covid-Welle, doch auf konkrete Maßnahmen will man sich in der Regierung noch nicht festlegen. Nun droht der Lehendakari (Ministerpräsident) über die sozialen Medien mit einer Ausgangssperre. Möglich sei eine generelle Sperrstunde nachts bis zu einem Limit am Morgen. Doch fehle dafür noch die rechtliche Grundlage. Wo Apelle an die persönliche Verantwortung nichts fruchten, dürfen wir uns über totalitäre Maßnahmen nicht wundern. Zu viele Fehler wurden in der Lockerungs-Phase gemacht, dem Tourismus zu viele Konzessionen erteilt. Nun kommt die Rechnung. Bitter für alle, die sich Mühe gegeben haben und nun mitbezahlen.
FATALE ABHÄNGIGKEIT
Die Urlaubs-Saison steht vor dem Ende, die Tourismus-Wirtschaft geht in die Knie. Dem Sangria-Land fehlen nicht nur Urlauber*innen, sondern vielmehr der Mut zu konsequenten Entscheidungen aus der Krise. “Was jetzt in London passiert, ist für viele Hotels auf Mallorca entscheidend“, sagt die Chefin des dortigen Hotelverbands. Zum Verständnis genügt ein Blick nach Magaluf, das britische Gegenstück zum deutschen Ballermann. Derzeit eine Geisterstadt. “Closed until further notice“ steht auf Schildern, Anfang August herrscht hier normalerweise Hochbetrieb. Wir erinnern uns: bereits in der Lockerungs-Phase wurden “Reise-Korridore“ auf die Balearen eingerichtet, um schnellstens an die deutschen und englischen Suffköpfe zu kommen. Zu schnell, wie sich nun herausstellt. Wer hätte auch erwartet, dass sich ausgerechnet Ballermänner Pandemie-angemessen vernünftig benehmen!
2020-08-08 / Post-Covid Tag (48)
DIE KURVE STEIGT UNAUFHALTSAM
Was haben wir doch für wunderbare Geschichten gehört: von der neuen Normalität, von den vielen Tests, von “im Griff haben“, von keinen Einlieferungen in die Intensiv-Stationen …. Dann kam die Maskenpflicht, von der im Alarmzustand keine Rede war – und von nun an gings bergab. “Die Kurve steigt unaufhaltsam“, titelt eine Tageszeitung ohne wenn und aber. Seit Wochenbeginn 1.328 Neuansteckungen, die Mehrheit mit 311 in Bilbao-Bizkaia. Schlimmer noch ist die Lage im Staate: kein west-europäisches Land verzeichnet mehr neue Covid-Fälle. Am 11. Mai begannen die Lockerungen der Ausgangssperre, seither kam es zu 75.000 neuen Ansteckungen, an 600 Orten sind Virenherde aktiv, gestern wurden 1.900 neue Fälle gemeldet.
Die Entwicklung der neuen Covid-Zahlen in der Region Baskenland ist ein Grund zur Besorgnis. Derzeit steigen die Ziffern um 90 bis 100 Fälle pro Tag. Zuletzt vier Tage in Folge deutliche Steigerungen, die ihren Ursprung haben in den vielfältigen Sommer-Aktivitäten und den Massen-Zusammenkünften, sei es in Kneipen, am Strand, in privaten Clubs oder Discos. Die Warnungen und Empfehlungen der Behörden werden ganz offenbar von vielen nicht ernst genommen. Alle Pädagogik zur Anwendung von Schutzmaßnahmen wird vom Winde verweht.
NEUE VIREN-HERDE
Sobald ein Viren-Herd – in einer Disco, einer Bar – identifiziert ist, werden alle Personen, die sich am besagten Tag im Lokal aufgehalten haben, aufgefordert sich zu melden, um sich einem Test zu unterziehen. Problem 1 ist, dass nicht alle davon erfahren, Problem 2, dass dem Aufruf nicht Folge geleistet wird, aus Unbequemlichkeit oder Angst vor möglichen Folgen. Die Liste wird lang und länger, jeden Tag wechseln die Namen: zum Beispiel die Muguru Taberna und die Disco Kilimanjaro in Galdakao, das Restaurant Xixilu in Gasteiz, die Bar Ramuntxo Berri in Donostia, die Bar Kokolo in Agurain, der Biergarten Batzoki in Erandio, sowie die Fever-Diskothek in Bilbao, wo verschiedene Fälle bei Personal und Besucherinnen festgestellt wurden. Gleichzeitig steigen die Zahlen der Intensiv-Einweisungen in Hospitäler wieder, langsam, aber stetig.
IN DEN PROVINZEN
In Araba werden die meisten Neufälle in der Hauptstadt verzeichnet, die Situation in Agurain scheint stabil, keine neuen Positiven. Von den 311 Fällen in Bizkaia fallen 173 auf Bilbao, in einer Disco wurden allein 20 Personen angesteckt. In der letzten Woche kam es zu 633 Neu-Infizierungen. Auch in der 100.000-Einwohnerinnen-Stadt Barakaldo stiegen die Zahlen auf insgesamt 111. In Gipuzkoa machen sich die Ansteckungen ebenfalls vorwiegend in der Stadt breit. Nach einer Vielfach-Ansteckung in einer Bar sollen nun in drei Tagen 2.000 Tests gemacht werden unter den Klienten der Kneipe. Die Zahl der Positiven könnte sich somit weiter erhöhen. Der Brandherd Eibar, einer der ersten der zweiten Welle, ebenfalls in zwei Kneipen, gilt als abgeschlossen, insgesamt war es zu 580 Ansteckungen in fünf Gemeinden gekommen infolge von massiven Abiturfeiern in der Stadt.
EIN WINK GOTTES
Wie sich 11 Nonnen in einem geschlossenen Kloster in Lasarte-Oria anstecken konnten ist für alle ein Rätsel, weil sie so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt haben (möglicherweise ist Gott im Spiel). Die Region Navarra meldet 110 neue Fälle. Hier wurden 1.373 Tests gemacht. Beim Versuch, die Sperrstunde von Bars zu kontrollieren, kam es in Gasteiz zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen männlichen Kunden und der Polizei, die mit Festnahmen endete. Am 9. August gehen normalerweise die Fiestas der Stadt zu Ende, nicht jedoch dieses Jahr, weil alle Jaiak abgeblasen wurden. Dennoch erwartet die Polizei Unentwegte und Fiesta-Süchtige, die wider alle Vernunft “das Recht auf Fiesta“ einfordern.
2020-08-07 / Post-Covid Tag (47)
DIE ZWEITE WELLE
Die Oberverantwortliche für baskische Gesundheit sieht sich gezwungen, von der “zweiten Coronavirus-Welle“ zu sprechen. Nachdem die Zahl der Neuansteckungen immer weiter nach oben ging, hatte sie keine andere Wahl. “Der Virus gewinnt bei uns an Boden“ – mit diesem Satz resümierte sie die Entwicklung der Pandemie in der Region Baskenland, mit rekordfähigen 419 neuen Covid-Fällen. Das sind 100 mehr als am Vortag. In Bilbao hat sich die Zahl der Neu-Fälle innerhalb von 48 Stunden verdoppelt, Barakaldo und Gasteiz sind ebenfalls Orte der Besorgnis.
“Wir stehen zweifellos vor der zweiten Welle der Pandemie, und es gibt keine Gründe zu denken, sie sei schwächer und weniger tödlich. Wir haben es mit derselben Gefahr der Ansteckung zu tun wie im März, jeden Tag, jede Woche werden mehr Personen infiziert.“ Endlich einmal eine klare Aussage, nicht mehr dieses Einerseits und Andererseits, der Tanz um den heißen Brei. Beobachter werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass ähnliche Zahlen im April zum Lockdown geführt haben. Kurze Zeit später lauteten die Kommentare: “leider zu spät“, denn die folgende Entwicklung war von vielen Neuansteckungen, Einlieferungen und Todesfällen geprägt, die mit einem früheren Lockdown hätten verhindert werden können. Hier lernt niemand, nicht einmal aus der eben erlebten Geschichte.
Insgesamt 419 neue Fälle von Covid-19 in der Region, auch in Navarra schnellten die Zahlen nach oben, der größte Teil im Großraum Pamplona. Bizkaia ist jedenfalls die am stärksten betroffene Provinz mit 233 Positiven, auffällig auch Barakaldo, Erandio, Getxo und Portugalete. Auch in Gipuzkoa verdoppelte sich die Zahl, von 26 auf 57, betroffen sind Donostia, Elgoibar und Zarautz. Nur aus Araba wird eine kleine Atempause gemeldet, die Zahl sank von 58 auf 44, fast alle Fälle wurden in der Hauptstadt Gasteiz verzeichnet.
KEINE NEUE NORMALITÄT
“Der Virus lehrt uns, dass es eine neue Normalität nicht geben kann, wir müssen unsere Gewohnheiten im Umgang miteinander ändern. Also besser zwei Meter Abstand als die vorgeschriebenen eins fünfzig.“ Und wieder sind es die urbanen Zentren, die Schlagzeilen machen. Erneut wird an Limitierungen in der Gastronomie gedacht. Völlig unerklärlich, warum Discotheken immer noch geöffnet werden dürfen.
Negativ aufgefallen waren zuletzt Fiestas und kollektive Besäufnisse von Jugendlichen, die nicht selten in kollektiver Ansteckung endeten. Dagegen wurde Polizei aufgefahren, Bußgelder wurden verteilt. Nun besteht die Gefahr, dass diese öffentlichen Exzesse sich in Vereinsräume oder Landhäuser verlagern. “Das ist ein Spiel mit dem Feuer“, so die Senatorin. Jedenfalls ist glasklar, dass das durchschnittliche Alter der Infizierten deutlich unter dem der ersten Welle liegt. Das heißt, die Alten werden geschützt oder isoliert, oder sie schützen sich selbst – und die Jüngeren hauen auf den Putz: nach mir die Sintflut.
2020-08-05 / Post-Covid Tag (45)
REISEN GEFÄLLIG?
Zur Erinnerung: Am 21. Juni endete der Alarmzustand und die spanischen, baskischen und katalanischen Grenzen wurden für den europäischen und internationalen Tourismus wieder geöffnet. Nach drei Monaten Einschluss konnten Hotels und Restaurants erneut ihre Tore aufklappen, wohl wissend, dass die Einnahmen empfindlich geringer sein würden im Vergleich zum Vorjahr, als ganze 84 Millionen Reisende in den spanischen Staat kamen. Und es kam schlimmer als befürchtet.
Nach offiziellen Statistiken reduzierte sich die Ankunft von Tourist*innen im Juni um 97,7%, nur 204.926 Covid-Trotzende gingen den Weg über die Grenzen. Der Vergleich zu 2019: da waren es 8,8 Millionen. Entsprechend sanken auch die Einnahmen im Sektor um 98,6%. Heuer waren es 133 Millionen, im Vorjahr 9,696 Milliarden. Selbstverständlich sind diese Zahlen besser als die von April und Mai, als der Tourismus praktisch auf Null gefahren wurde. Schon im Halb-Katastrophen-Monat März sank die Zahl um 64%. Wir erinnern uns: Am 16. März begann auf der Halbinsel der Lockdown. Nur im Februar 2020 war die Zahl der Reisenden noch um 1% gestiegen.
Der französische Staat ist traditionell mit 30% hauptsächliches Ursprungs-Land der Reisenden. Im Juni sank die Zahl um 93%, nur 65.000 French-people wagten sich noch über die Grenze. Dahinter liegt Deutschland mit 33.700 Personen bei einer Abnahme von 97,4%. Eine ähnliche Ziffer verzeichnen die Holländer*innen: 97% weniger Ankömmlinge, insgesamt noch 12.300. Das entspricht noch nicht der Bestleistung. Den Rekord lassen sich britische und skandinavische Tourist*innen nicht nehmen. Great Britain gehört normalerweise zu den wichtigsten Sende-Ländern, nun waren es 99,6% weniger, ganze 8.400 machten sich auf den Weg. Aus den Nordländern waren es noch 4.000, der Einbruch wird auf 99,2% beziffert.
HAUSGEMACHT
Aber wen soll das wirklich wundern? Wer sich in Abhängigkeit begibt, kommt darin um. Deshalb wurde und wird auf allen Ebenen – Städte, Provinzen, Regionen und Staaten – Werbung für “einheimischen Tourismus“ gemacht. “Bleib in deiner Region, du weißt gar nicht, was es da alles zu entdecken gibt“. Die Formel, so vernünftig sie ist, hängt allen schon zum Halse raus. Auch ohne behördliche Bevormundung waren wir bereits selbst auf diese Idee gekommen, falls wir im Zeitalter des Massentourismus überhaupt noch zu denen zählten, die sich in Flugzeuge setzten und mehr als 300 Kilometer zwischen der Heimat und dem Ziel zurücklegten.
DIE REKORDHALTER
In der “alten Normalität“ stand Katalonien mit seinen nicht endenden Stränden an der Spitze der Aufnahme-Regionen, mit stattlichen 38% Anteil. Nun kamen noch 76.600, was ein Absacken um 96,5% bedeutet, die Hälfte davon üblicherweise aus dem französischen Norden. Bleibt abzuwarten, wie sich die Zahlen angesichts der Neublüte von Coronavirus-Herden im Juli und August entwickeln. Die französische Regierung hat schon mal die erneute Schließung der Grenzen mit Katalonien ins Spiel gebracht.
In der Liste der Lieblingsziele der Erholungsbedürftigen aus dem Ausland steht Valencia mit 15% des staatlichen Tourismus-Kuchens an zweiter Stelle. Gefolgt von den Balearen mit 14%. Auf den Mittelmeer-Inseln wurde der Sinkflug auf 96% beziffert. In die Region Valencia kommen üblicherweise Französ*innen, während die Balearen bevorzugt von Deutschen und Italiener*innen heimgesucht werden. In der Region Madrid sank der internationale Tourismus um 97%, in Andalusien um 99%, auf den Kanaren um 99,8%.
Weniger Besucher*innen, weniger Einnahmen – wer hätte das gedacht! Die Juni-Reisenden ließen nur 133 Millionen liegen, das sind 98,6% weniger als im Vergleichszeitraum. Es kommen also nicht nur weniger Personen – die Noch-Reisenden geben zudem weniger aus. Die (wie immer auch berechnete) durchschnittliche Ausgabe pro Tourist*in belief sich auf 651 Euro, das sind 40% weniger im Vergleich. Die täglichen T-Ausgaben sanken um 30% auf 114 Euro. Für diese Weniger-Einnahmen gibt es offiziell zwei Erklärungen: Erstens werden weniger Service-Leistungen angeboten wie Ausflüge, Bars, Restaurants und Discotheken. Zweitens sahen sich einige Unternehmer gezwungen, ihre Preise zu senken, um überhaupt noch Touristen an Land zu ziehen. Wir fügen eine dritte Erklärung hinzu: Es sind nicht mehr die ganz typischen konsumbereiten Tourist*innen, die sich derzeit auf den Weg machen.
AUCH TAXIFAHRER SIND MENSCHEN
Weniger aber dennoch wirkt sich die miese Covid-Konjunktur auf die Taxifahrer in Bizkaia aus. Seit dem Ausnahmezustand wegen Pandemie haben sie 75% ihrer Einnahmen verloren. Auch sie sind stark vom Tourismus abhängig, am Flughafen Bilbao steht ständig ein Heer von wartenden Autos in der Schlange. Immerhin 2.000 Taxis stehen in den drei baskischen Provinzen bereit zur Passagieraufnahme. In Barcelona wird von 80% Einbruch gesprochen, in Madrid von “Ruinierung“. Fast wehmütig spricht die Präsidentin einer Taxi-Vereinigung in Bilbao: “Als der Alarmzustand beendet war, hatten viele Leute enorme Lust, wieder auszugehen, wir waren wieder im Geschäft. Aber dann kamen erneute Ansteckungen und alles ist wieder in sich zusammengebrochen.“
Auch der sonst so hochgelobte und häufig genutzte öffentliche Transport hat heftige Einbußen hinter sich. In Metro und Stadtbussen ist es schwierig, die notwendige Gesundheits-Distanz zu wahren, deshalb ziehen alle, denen es irgendwie möglich ist, wieder den Individualverkehr und das verfluchte private Auto vor, wo der Mensch noch Mensch sein kann und keine Ansteckungsgefahr droht.
ENTSPANNUNG
Nicht wenige der Bewohner*innen der üblicherweise um diese Jahreszeit völlig überlaufenen Altstädte sind nicht unglücklich über diese Abwärts-Entwicklung. Im Casco Viejo Bilbao ist es wieder möglich, durch die Straßen zu gehen, ohne ständig mit ignoranten 50er-Gruppen plus Lautsprecher konfrontiert zu werden. Auffällig hingegen die finanzschwachen Rucksack-Reisenden, die bekanntlich noch nie die Übel-Tendenzen des Massen-Tourismus angeheizt haben. Für sie wird auch keine teure Werbung gemacht.
Entspannter an die Küste gehen können auch die Bewohner*innen von Bermeo und Bakio wieder, um die Felseninsel San Juan de Gaztelugatxe zu besuchen. Vier Jahre lang war dies unmöglich, weil die Nachwehen zum Dreh einer weltbekannten Fernsehserie einen internationalen-Fan-Massen-Tourismus nach sich zog, der verheerende ökologische und soziale Folgen nach sich zog. Bis 2016 waren es etwa 30.000 Personen pro Jahr, meist aus der direkten Umgebung, die die malerische Insel mit Kapelle auf der Kuppe bewanderten. Nach dem “Spiel der Throne“ waren es auf einen Schlag 600.000, und das auch “nur“, weil der Zugang beschränkt wurde. Horden von angekarrten Selfisten verwüsteten die Küstenenklave, hinterließen ihren Müll und nahmen zum Andenken Steinchen aus der historischen Mauer mit. Covid hat diese Exzesse (vorläufig) wieder auf ein Normalmaß gestutzt. Im Hochsaison-Monat Juli ging die Zahl auf vernünftige 21.528 zurück. Allgemeines Aufatmen in der Bevölkerung und unter baskischen Ökologie-Freund*innen.
BIS HIERHER UND NICHT WEITER
Die Pandemie hat eine Zäsur verursacht, in menschlicher, gesellschaftlicher, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Solche Momente sind bestens geeignet, Bilanz zu ziehen, Strategien zu überprüfen und zu korrigieren. Im Gesundheits-Bereich kam die Einsicht, dass ein ungekürztes öffentliches System durch nichts zu ersetzen ist, am wenigsten durch profit-orientierte private. Im Tourismus-Bereich sind es drei Elemente, die einmal mehr sichtbar geworden sind: nicht so weit, nicht so viel und weniger Monokultur. Die Chance zum Umsteuern. Oder sollen wir warten auf das COVID-25?
2020-08-03 / Post-Covid Tag (43)
ROTE ZONE BITTE NICHT VERLASSEN
Reiseziele werden neuerdings in orange und rote Zonen eingeteilt, um die Reisewilligen zu orientieren und sie nicht ins offene Corona-Messer laufen zu lassen. Die Tourismus-Medien sind statt Reiseempfehlungen voller Reiseverbote und Reisewarnungen. “Der Coronavirus bremst die Tourismus-Branche aus“, heißt es blumig auf einer Internetseite. Aber es ist nicht der Virus, der den Bremseffekt verursacht hat, es ist die tödliche Mischung von Brachial-Kapitalismus, Pharma-Landwirtschaft und Umweltzerstörung, die den Nährboden geschaffen hat für Killerviren.
“750.000 Tourismus-Jobs könnten in Spanien verloren gehen“, heißt es an anderer Stelle, vielleicht sogar mehr, wenn das Problem nicht in den Griff zu kriegen ist. Wer sich wirtschaftlich einseitig abhängig macht, stolpert leichter in die Krisen-Falle. Dass in Russland eine Spritze gefunden worden sein soll, reißt niemand vom Hocker. Solange die nicht millionenhaft ausprobiert ist, käme von meinen Freund*innen hier niemand in die Verlegenheit, sich sowas verabreichen zu lassen. Dann schon lieber die lästigen Masken.
Beunruhigend sind eher Nachrichten aus Vietnam, wo ein noch gefährlicherer Killervirus aufgetaucht sein soll, der noch aggressiver und tödlicher wirkt. Niemand kann sagen, wie ernsthaft diese Nachrichten sind, denn aus China und Neuseeland kamen schon ähnliche Nachrichten, die innerhalb von zwei Tagen wieder spurlos von der Medien-Bildfläche verschwanden. Ping-Pong – und der Ball bist du.
Nie war es so wertvoll wie heute, ernsthafte von lächerlichen Nachrichten unterscheiden zu können, eine Kunst, die in den Schulen nicht gerade gelehrt wird. Denn das Niveau auf Facebook, Bild und Twitter spricht eine andere Sprache, die lediglich die Stammtische bereichert, falls sie nicht schon unter Quarantäne gestellt sind.
DAUERLÖSUNG
Ein Freund aus Donostia, den ich seit sechs Monaten nicht mehr gesehen habe, beschwert sich, dass die Coronavirus-Spannung auch nach dem Lockdown nicht wirklich nachgelassen habe. “Im Grunde haben sich nur die Vorzeichen geändert, denn die neue Normalität ist nichts anderes als Covid-Light: Jeden Tag hören wir neue Schauer-Nachrichten, jeden Tag über andere Orte. Es mag zynisch klingen, aber der Lockdown war einfacher, klarer, geregelter. Nun werden wir jeden Tag in die Arbeit und auf die Straße getrieben und müssen uns durchschlagen, mit und ohne Maske, mit und ohne Angst, mit und ohne Massen … und müssen feststellen, dass viele diese neue alte Freiheit nicht vertragen, dass sie nicht verantwortlich damit umgehen können. Über uns kreist ein Hubschrauber mit einem Kübel Löschwasser an den Seilen. Wir haben keine Ahnung, ob die Brandherde damit eingedämmt werden oder angefacht. Es reicht, wenn irgend ein Idiot – ein Unternehmer, ein Kneipier, ein Diskobesitzer, ein Feten-Williger – irgend einen Exzess vom Zaun bricht und plötzlich hundert Leute infiziert sind. Das wird auf unbestimmte Zeit unser tägliches Brot sein, ein Jahr, zwei Jahre vielleicht.“
PHARMA-LANDWIRTSCHAFT UND VIREN-MUTATION
In einer kritischen Zeitschrift war zu lesen: “Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass versucht wird, die Kosten erneut auf die unteren Klassen abzuwälzen. Gleichzeitig könnte versucht werden, einen Obrigkeitsstaat dauerhaft zu etablieren und den Moment zu nutzen für die Abschaffung demokratischer Grundrechte. Außer den Verschwörungs-Fanatikern fragt kaum noch jemand nach den Ursachen der seit der Jahrtausend-Wende regelmäßig wiederkehrenden Viren-Mutationen, die Artgrenzen überspringen und vom menschlichen Immunsystem nicht abgewehrt werden können. Analysiert werden müsste das Entstehen der mutierten Viren im Umfeld industrialisierter Landwirtschaft und Fleischproduktion, als Resultat der kompletten Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. Solange diese Form der zerstörerischen kapitalistischen Nahrungsmittel-Produktion nicht grundlegend geändert wird, bleibt nur eine kurze Zeitspanne bis die nächsten und sicher noch gefährlicheren Viren-Mutationen in Erscheinung treten.“
Politiker sagen, einen zweiten Lockdown werde die Wirtschaft nicht verkraften. Die Bereitschaft zu einem grundlegenden Wertewandel in der Produktion und im Verhältnis zur Natur ist nicht in Sicht. Der Coronavirus ist auf Dauer programmiert.
2020-08-01 / Post-Covid Tag (41)
WER BEZAHLT DIE RECHNUNG?
In den vergangenen Tages-Kolumnen haben wir uns mit der Gretchen-Frage aller Wirtschaftskrisen beschäftigt: Auf wen werden die Kosten der Pandemie-Krise abgewälzt? Etwa auf Bill Gates und Konsorten, denen es keine Spur weh täte, einen Großteil ihres Besitzes an die zurückzugeben, die diesen Reichtum erarbeitet haben? Wohl kaum. Auch nicht auf die Banken im spanischen Staat, die einfach nur das zurückzahlen müssten, was ihnen vor 12 Jahren zur Rettung “ausgeliehen“ wurde. Wir haben die Ankündigungen baskischer Kapitalisten verfolgt, ihre “Belegschaft zu reduzieren“ und die phantastischen Vorschläge der baskischen Wirtschafts-Senatorin, die hinsichtlich der arbeitenden Bevölkerung ganz direkt zum Ausdruck bringt: “Ihr bezahlt die Rechnung“.
WAS IST DA FAUL IM STAATE?
Die Daten sind nicht zum Lachen: die staatliche Wirtschaft hat in sechs Monaten 22% ihrer Kraft verloren (Vergleich Deutschland 10%, USA 9,5%). Dies ist vor allem auf die wirtschaftliche Monokultur Tourismus zurückzuführen. Alle Früchte hängen an einem Baum! Die Statistiker sprechen von 15% Arbeitslosen, es dürften viel mehr sein, Millionen mehr. 20% wären realistischer.
“Viele Arbeitslose haben es angesichts lange geschlossener Behörden nicht geschafft, sich überhaupt im Juni arbeitslos zu melden. Wer in Spanien keine Leistungen zu erwarten hat, tut das ohnehin normalerweise nicht. Und das sind viele.“ So ist es bei Telepolis zu lesen. Und wir sind noch nicht am tiefsten Punkt angelangt. Denn neben den (in)offiziell Arbeitslosen gibt es ja noch die ERTE-Beschäftigten, die vorübergehend und auf Staatskosten von Arbeit befreit sind. Um die 3,5 Millionen Menschen waren das im letzten Quartal. Viele von ihnen stehen mit Sicherheit zwei Schritte vor der endgültigen Arbeitslosigkeit. “Man darf annehmen, dass die enorme Zahl von 26% im Jahr 2013 in der letzten Krise noch deutlich überschritten werden wird.“ (Telepolis)
“Die Mehrzahl der Jobs, die verloren gingen, lag im Dienstleistungssektor, vor allem Tourismus, wo offiziell allein 800.000 Stellen weggefallen sind. Zwei Drittel der verlorenen Stellen waren befristet. Mehr als 90 Prozent aller Verträge werden hier befristet geschlossen, müssen also nicht gekündigt werden. Sie fielen damit nicht unter den Corona-Kündigungsschutz der spanischen Regierung im Alarmzustand, der bis zum 21. Juni andauerte.“ Das ist die Realität, Telepolis wirft Schlaglichter auf unsere Zukunft.
TOURISMUS IN QUARANTÄNE
Um Touristen nicht zu verschrecken, will die Regierung “ums Verrecken nicht“ von einer Coronavirus-Welle sprechen. Obwohl alle Zahlen darauf hindeuten. Vor allem die niedrigen Zahlen über Madrid sind erstunken und erlogen. Neugebuchte Reisen wurden trotz der Manipulation schon wieder abgesagt, einige europäische Regierungen verordnen Quarantäne nach Reiserückkehr.
Mit dem August kommt die große Reisewelle – eine optimale Gelegenheit für die Madriderinnen und Madrider, heimische Andenken auszuteilen. Denn mit dem Virus im Gepäck können sie nun ins ganze Land ausströmen. Praktisch eine ganz ähnliche Situation wie vor dem Alarmzustand im März. Insofern wäre es durchaus angebracht, Großbritannien und Norwegen zu folgen und eine generelle Quarantäne für Rückkehrer aus Spanien anzuordnen. Oder Covid-Pässe für Reisende aus Madrid einzuführen. In weniger als einem Monat werden wir sagen müssen: “Wir haben es doch vor einem Monat schon gesagt!“ Doch dann sind wir möglicherweise schon wieder eingesperrt in unsere vier Wände ohne Balkon.
2020-07-31 / Post-Covid Tag (40)
ARANTZA SPRICHT: LOHNVERZICHT
Arantxa Tapia ist Senatorin für Wirtschaftliche Entwicklung der baskischen Regierung. Als Mitte März von fünfzehn Tagen Covid-Lockdown die Rede war, sagte sie voraus, dass daraus zweieinhalb Monate werden könnten. Sie lag richtig. Nun ist der erste Corona-Schub vorbei, die Gefahr eines Wiederaufflammens ist überall zu erahnen. “Wir müssen uns um die Gesundheit kümmern, aber einen Wirtschafts-Stopp wie gerade eben erlebt können wir uns nicht leisten.“
Dass Unternehmen wie Siemens-Gamesa, Sener, Tubacex oder ITP Entlassungen angekündigt haben, überrascht sie nicht sonderlich. “Als wir im März sagten, ein kompletter Produktions-Stopp könnte tödlich sein, ahnten wir, was kommen könnte. Alles, was mit Mobilität und Versammlung von Personen zu tun hat, ist betroffen. Das heißt, Transport am Boden, Flugzeuge, Automobile, Energie, Maschinenbau, alles bedingt sich gegenseitig“.
Wenn Arantxa davon spricht, dass Entlassungen nur als letzte mögliche Maßnahme in Frage kommen, dann sagt sie nur die halbe Wahrheit. Denn die Partei, die sie repräsentiert, steht dem Unternehmertum deutlich näher als der Arbeiterschaft. Nun sei Phantasie angesagt. Unternehmer und Gewerkschaften müssten andere Arten von Verhandlungen führen als in der Vergangenheit. Unternehmen müssten es ertragen, eine Zeitlang auch mal minimale Verluste zu machen; und die Beschäftigten müssten gegebenenfalls Lohneinbußen hinnehmen, um ihre Arbeitsplätze zu sichern.
Das Argument ist nicht neu, es wurde bereits häufig praktiziert, insbesondere in solchen Bereichen, die verhältnismäßig gut bezahlen, in denen die Beschäftigten also nicht sofort in Armut-Niveaus absinken. Die Fagor-Krise in Arrasate-Mondragon zum Beispiel vor knapp zehn Jahren ist in frischer Erinnerung. Doch waren das keine dauerhaften Lösungen. Wenn die Konjunktur wieder boomt kommt niemand auf die Idee, den Lohnverzicht auszugleichen, wenn die Unternehmens-Gewinne wieder in die Millionen gehen.
Kapitalismus basiert auf Profiten für die Unternehmer, dafür ist die Ausbeutung von entfremdeter Arbeitskraft notwendig. Wenn die Gewinne sinken, muss die Ausbeutungs-Schraube angezogen werden, um die Profitspanne zu erhalten. Sonst bleibt nur die Schließung von Standorten. Siemens-Gamesa hat vor zwei Wochen gezeigt, dass sogar solche Werke geschlossen werden können, die wirtschaftlich und profitabel arbeiten.
“Haben die Unternehmen mit ihrer Entlassungs-Ankündigung gewartet bis die Regionalwahlen vorbei waren?“ – wird Arantxa am Ende eines Interviews gefragt. Wir ersparen uns ihre Antwort. Selbstverständlich haben die Unternehmer den Mund gehalten, obwohl die Pläne längst in der Schublade lagen. Denn wer will in jenen Kreisen schon gerne einen Regierungswechsel. Der Unternehmerverband kann schließlich stolz sei auf verlässliche Leute wie Arantxa.
Und während im Baskenland noch philosophiert wird über den Beitrag der Beschäftigten zum Erhalt des Kapitalismus, ist man in Deutschland schon einen Schritt weiter. Daimler meldet Lohnverzicht für Jobsicherung (29.07.2020): “Bei Daimler verzichtet die Belegschaft auf 450 Millionen Euro, um Entlassungen wegen der Coronakrise zu vermeiden. Die Beschäftigung bei Daimler bleibt bis 2030 gesichert, und betriebsbedingte Kündigungen bleiben ausgeschlossen“, erklärte Betriebsratschef Michael Brecht nach einer Einigung mit dem Management auf befristete Lohnkürzungen. “Wir reden hier über ein Einsparvolumen von 450 Millionen Euro“, ergänzte der Belegschaftsvertreter. “Das entspricht etwa der Arbeitsleistung von 7.000 Beschäftigten.“ Lass die Sektkorken knallen, Michael!
2020-07-30 / Post-Covid Tag (39)
GRENZENLOS SOLIDARISCH
Was haben wir in den vergangenen Monaten nicht alles über Solidarität gehört. “Der Staat lässt dich nicht hängen“, uneigennützige Solidaritätsnetze überall, “den Schwachen helfen“. Die Solidarität wurde uns regelrecht um die Ohren gehauen. Doch schon zu Beginn war klar, dass diese “Welle der Menschlichkeit“ irgendwann schnell ihre Grenzen finden würde. Die erste Grenze war jene, über die Migrantinnen aus dem Süden in unsere Breitengrade zu gelangen versuchen. Von dieser Grenze war drei Monate lang überhaupt nicht mehr die Rede.
Zweite Grenze war eine interne und bürokratische: Wer kriegt hier Arbeitslosengeld und wer nicht? Ihren besten Ausdruck fand diese Grenze im neuen garantierten Minimaleinkommen, das die links-liberale spanische Regierung beschloss. War der Betrag ohnehin schon zum Leben zu wenig, wurden gleichzeitig Dutzende von Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt. Alle Menschen sind gleich, doch die Schweine sind gleicher. Es bleibt ein Geheimnis, wie die afrikanischen Straßenverkäufer in Bilbao (und anderswo) ohne ihre illegalen Verkäufe (von der Hand in den Mund) überleben konnten, wenn nicht über interne Solidarität.
Als staatliche Milliarden ausgeschüttet wurden, um Entlassungen von definitiv auf zeitlich begrenzt zu schalten, fragten sich die ersten, wer denn am Ende die Rechnung bezahlen sollte. Es wurde daran erinnert, wie vor 12 Jahren die Banken mit Milliarden “gerettet“ wurden, mit dem Versprechen, dieses öffentliche Geld zurückzuzahlen. Was nie geschah, es blieb in den Rachen gieriger Banker hängen, legitimiert durch die Regierungen, die sich die Klinke in die Hand gaben. Nun präsentieren einige der großen aus der Wirtschaft die Grenzen der Beschäftigung. Sie argumentieren (wie gewohnt) mit den Grenzen der Rentabilität und den begrenzten Reingewinnen.
SIEMENS IN NAVARRA
Wo in Navarra (Agoitz) die Grenzen der Solidarität liegen, wurde an dieser Stelle bereits geschildert. Der Wind-Generatoren-Multi Siemens-Gamesa erklärte sich einer strukturschwachen Gegend “verbunden“ und kündigte 235 Mitarbeiter*innen! Als die Niederlassung vor 11 Jahren aufgemacht wurde, zeigte sich die Regionalregierung “solidarisch“ und unterstützte das Vorhaben mit Millionen. Diese Grenze ist nun überschritten.
Doch Siemens-Gamesa waren nur die ersten in einer – wie zu befürchten ist – langen Liste von Grenzgängern der kapitalistischen Wirtschaft. Mercedes will weltweit 30.000 Stellen streichen, wie viele, unter welchen Umständen und wo ist bislang nicht klar. In Vitoria-Gasteiz unterhält der Konzern ein Werk mit 5.500 Beschäftigten. Nächster Kandidat ist der Tubacex, Hersteller von rostfreien Röhren mit Werken im baskischen Araba. Von weltweit 2.550 Beschäftigten (Spanien 1.100) sollen 20% entlassen werden.
FLUG- UND RÜSTUNGSINDUSTRIE
Weiter geht es mit Sener, Aernnova und ITP Aero, alle drei ebenfalls gut im Baskenland vertreten. Sie arbeiten offiziell für die Flugzeug-Industrie, sind aber als Rüstungs-Fabrikanten bekannt und gebrandmarkt. Die Krise der Tourismus-Branche betrifft bekanntlich mit an erster Stelle den Flugzeug-Bau. Deshalb will Aernnova 650 Stellen einsparen, Sener eine unbekannte Zahl. Der Zu Rolls Royce gehörende ITP-Konzern beschäftigt in Mexiko, Indien und Europa 4.000 Personen, die Hälfte davon im Baskenland. 600 der gesamten Arbeitsplätze (15%) sollen nun wegfallen.
Kontrastiert werden diese Entlassungs-Meldungen vom Geschäftsbericht des in aller Welt vertretenen baskischen Energieriesen Iberdrola. Dessen Wert an der Börse hat während und trotz der Coronavirus-Krise einen historischen Höchstwert erreicht, bei einer Steigerung von 25% in den verfluchten Pandemie-Monaten. Gleichzeitig wurde der Gewinn im ersten Quartal – trotz Corona – um 12% erhöht (1,8 Milliarden). Das Versprechen, im laufenden Jahr insgesamt 10 Milliarden zu investieren (und somit die darniederliegende Wirtschaft anzukurbeln) ist kein karitativer Empathie-Akt. In Sicht ist vielmehr ein neuer Markt mit erneut Milliarden-Profiten. Iberdrola setzt auf die “grüne Energie“, will heißen, die erneuerbaren Energieformen. Das kommt beim Volk genauso gut an wie bei den Aktionären.
2020-07-29 / Post-Covid Tag (38)
UNSER TÄGLICHES BROT
Von Normalität kann keine Rede sein. Weder von alter noch von neuer. Zu viele, vor allem Jüngere, streben nach der alten Normalität und provozieren Massen-Ansteckungen. Die sechs B der Ansteckungsherde singen ein Lied davon. Vor drei Monaten hatten wir den Lockdown – was waren das noch Zeiten: wir wussten genau, was wir tun und lassen sollten. Diese Klarheit ist dem Chaos gewichen. Jeden Tag neue Regeln von verschiedenen Institutionen, Gruppengröße, Abstand, Masken.
Was hier erlaubt ist, ist in der nächsten Stadt verboten, jede Region hat ihre eigenen Regeln, Lockdown in Gebäuden, Stadtteilen, Städten, heute ja, morgen schon nicht mehr. Totales Chaos. Es ist weitgehend schleierhaft, was europäische Tourist*innen in unsere Gegend treibt: Nervenkitzel? Reisesucht? Billigklamotten? Tatsache ist, dass sie in täglich größerer Anzahl auflaufen. August: Haupt-Reise-Monat. Aus Holland, Frankreich, Deutschland, sogar Großbritannien, obwohl letztere bei ihrer Rückkehr mit zwei Wochen Quarantäne bestraft werden.
6.200 neue Coronavirus-Fälle im Staat. Die baskischen Küstenorte sehen sich von Inlands-Tourist*innen überrollt und machen deutlich, dass sie bereits jetzt die Kontrolle verloren haben. An der Küste organisieren sauffreudige Jugendliche einen Makro-Botellon nach dem anderen, die Polizei verteilt Dutzende von Strafen. Discotheken müssen wieder schließen und viele fragen sich, weshalb die jemals die Erlaubnis zur Wiedereröffnung erhielten. Was sich dort ereignen würde, war klar. Alle Kneipen- Öffnungszeiten werden wieder eingeschränkt, um nächtliche Ausschweifungen zu vermeiden.
Der katalanische Präsident warnt vor einem neuen Lockdown, wenn sich die Lage nicht innerhalb von 10 Tagen in den Griff kriegen lässt. Im bizkainischen Portugalete ist ein ganzer Fußball-Club unter Quarantäne. Und von der anderen Seite des großen Teiches hören wir Meldungen, dass Kalifornien und Florida mittlerweile die Rekordzahlen aus New York in den Schatten stellen. Schönen Sommer auch!
2020-07-27 / Post-Covid Tag (36)
DIE VERFÜHRER SIND DA
Etwas spät, eigentlich enorm spät, scheinen die Coronavirus-Negationisten und Verschwörungs-Theoretiker über spanische Breitengrade auch im Baskenland anzulanden. Was während des schmerzhaften Lockdowns nicht geschah – Protest – richtet sich nun – in ruhigeren Zeiten – gegen die harmlosen Gesichtsmasken. In Donostia kam es bei einer Kundgebung zu Verhaftungen und Personalien-Feststellungen, weil die Teilnehmerinnen keine Masken anlegen wollten.
In der Covid-Lockerungs-Phase waren es Gruppen von Postfranquisten und Ultrarechten, die sich vor allem in Madrid distanzlos und maskenfrei auf die Straße gestellt hatten, um gegen die Politik der Regierung zu rebellieren. Ohne Inhalt und Forderungen. Einfach rechten Dampf ablassen gegen die “Kommunisten“ in der Regierung.
Die neue Mobilisierung kommt etwas anders daher. Das Mobilisierungs-Flugblatt aus Donostia ist ein bunte Mischung aus bekannten und neuen Diskurs-Fragmenten, die keinerlei gemeinsame Logik erkennen lassen. Im Mittelpunkt steht die Klage gegen die “Neue Weltordnung“, die “Totale Kontrolle, die Warnung vor der “Reduzierung der Bevölkerung“ und vor der “Wirtschaftlich-Militärischen Diktatur“. Bis dahin könnten die Schlagworte aus einem Anti-Globilisierungs-Text abgeschrieben sein.
Dann wird es verschwörerisch. Die Pandemie sei provoziert, dahinter ständen die Welt-Gesundheits-Organisation WHO, Bill Gates und die Pharmaindustrie, die an einer obligatorischen Impfung verdienen wolle (wenn es eines Tages eine Spritze geben sollte). Gewarnt wird vor dem Verlust aller Rechte über den Körper, das Geld und die Kinder. Nur “die Wahrheit macht uns frei“, heißt es am Ende.
Was aber ist die Wahrheit? Sicher nicht die Version von Coronavirus und Gesundheits-Management, die uns die meisten Regierungen täglich über mehr oder weniger gleichgeschaltete Medien präsentieren! Was aus Sicht der Organisatoren von Donostia die Wahrheit sein soll bleibt ein Geheimnis. Außer Schlagworten keine Hinweise, wo die Wahrheit zu finden sein könnte.
Wir fragen uns also: An wen wenden sich solche Aufrufe, die mittlerweile auf eine internationale Vernetzung bauen, Deutschland, Argentinien, USA? In erster Linie wenden sie sich an das direkte Umfeld der Organisatoren, die sich selbst im Dunkeln halten, deren rechter Ursprung jedoch mehr als einmal deutlich wurde, siehe Hygiene-Demos in Deutschland. Zum anderen sollen damit all jene geködert werden, die unter den Einschränkungen des Lockdowns besonders gelitten haben; Personen, die schon vorher die Machtstrukturen individualistisch in Frage gestellt haben; Menschen, die sich seit Langem in einem endlosen Disput mit den Behörden befinden; Leute, deren geringe psychische Stabilität drei Monate lang auf die härteste Probe gestellt wurde.
Wenn schon die Mobilisierungs-Schlagworte keine genaue politische Orientierung erkennen lassen, versuchen wir es doch einmal mit jenen Begriffen, die in den vergangenen vier Corona-Monaten die Runde gemacht haben. Die Kritik an den Mängeln des Gesundheits-Systems, Kritik an der Privatisierung von öffentlichen Aufgaben, ökologische Kritik und Infragestellung des kapitalistischen Systems. All diese Elemente, die der anti-kapitalistischen Linken eigen sind, glänzen in den Wahrheits-Mobilisierungen durch Abwesenheit.
So wird umgekehrt durch den Umkehrschluss eine Logik sichtbar. Was die neue Weltordnung nach Ende des Kalten Krieges oder nach den Twin Towers, oder die fortgesetzte Militarisierung anbelangt, existiert in weiten Teilen der Linken eine große Bereitschaft zur Diskussion, ohne Frage. Doch die Mehrheit dieses kritischen Potentials wird sich nicht in Madrid oder Donostia einfinden, weder auf der Suche nach Hygiene noch nach Wahrheit (jener Wahrheit). Der Ursprung dieser Mobilisierungen liegt in einem Dickicht von rechten Theorien, Esotherik, Verschwörungsgeist und diffuser Systemkritik, womöglich noch religiös gefärbt.
Seit dem Lockdown ist ein Werbespot zum Dauerbrenner in den nächtlichen Krimiserien-Programmen geworden, bei dem eine schrullige alte Dame neben einem Globus zu sehen ist. “Wenn Sie psychologische Probleme haben, können Sie sich gerne an uns wenden“, sagt sie. Und zum Abschied: “Wenn sie sich jedoch gerade jetzt verwirrt oder umnachtet fühlen, können Sie auch sofort bei uns anrufen“. Der Sendeplatz ist sicher nicht billig. Der Köder ist ausgelegt für alle, die im schwierigen Alltag keinen materiellen oder gemeinschaftlichen Halt finden. Alternative ist übrigens – laut Werbung – das Wettbüro.
2020-07-26 / Post-Covid Tag (35)
DIE ÜBERVORSICHTIGEN
Belgien warnt seine reisewilligen Bürgerinnen vor spanischen Regionen: Aragon, Katalonien, La Rioja und Extremadura. Verboten ist es, in Katalonien in zwei der am stärksten vom Wiederaufflammen des Covid betroffenen Gebiete zu reisen. Gewarnt wird auch vor dem Baskenland. Wer aus einem des besagten Gebiete nach Belgien zurückreist, sollte sich freiwillig in Quarantäne begeben, so die Empfehlung. Gefährlich seinen auch Regionen in EU-Staaten wie Österreich, Bulgarien, Kroatien, Luxemburg, Portugal, Tschechien, Polen, Rumänien, Slowenien, Schweden und Großbritannien. Das fehlt so gut wie nichts. Zu Hause bleiben ist angesagt für die reisegeilen Europäerinnen.
Warum vor Reisen nach Euskal Herria gewarnt wird, bleibt einheimischen baskischen Seelen nicht nachvollziehbar. Hier werden Wahlen abgehalten, Feste gefeiert, Fußball gespielt, Ruderregatten organisiert. Mit dem vermehrten Konsum von Alkohol konnte die Pandemie im Mai vorzeitig beendet werden. Zudem haben die Baskinnen das Glück, auf den ältesten und einzigartigen Rhesusfaktor Europa setzen zu können. Der schützt vor allem und jedem, weil er älter ist als Corona. Wer als Baske den Franquismus und die Niederlagen gegen Real Madrid überstanden hat, für den ist Covid Nebensache.
Was sich auf europäischer Ebene abspielt scheint also eher ein Komplott der Übervorsichtigen zu sein. Der größte britische Reiseveranstalter und Tourismus-Profiteur hat alle Reisen auf die Halbinsel gecancelt. Nur die Balearen dürfen weiter ballern. Der geläuterte Negationist Boris Johnson hatte allen von Iberien Zurückreisenden eine 14-tägige Quarantäne verabreicht. Da habt ihr es!
Die Zahl der jährlich agierenden Touristinnen wird weltweit auf 1,4 Milliarden geschätzt. Weil Reisen Risiko und Ansteckungsgefahr bedeutet, ist eine ganz neue Bevölkerungs-Gruppe zum Idol der neuen Zeiten geworden: die Armen. Sie weigern sich standhaft zu reisen, schmücken ihre Balkone (sofern sie welche haben) mit Fotos von Bali und Hawaii. Beispielhaft. Nachhaltig. Sozial verantwortlich. Nicht nur im Baskenland ….
2020-07-25 / Post-Covid Tag (34)
DER HELLSEHER AUS MADRID
Ein Uni-Professor hat den Kreis geschlossen. Im November 2019 war er in unserem Viertel bei einer Buchvorstellung zu hören. Er sprach über Kapitalismus, dessen terminale Phase, die mit einem Kollaps enden werde. In einem geradlinigen Diskurs ohne “wenn und aber“, ohne “ein wenig“ und “vielleicht“ referierte er über Öko-Faschismus und einen möglichen öko-sozialen Übergang. Zu einem Zeitpunkt, als es aus China noch keine Nachrichten über das Coronavirus gab.
Er sprach unverblümt über das kapitalistische System, das sich als völlig unfähig gezeigt habe, die Weltbevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern zu versorgen und ein würdiges Leben für alle zu garantieren. Um sich die Milliarden von Armen und Hungernden vom Hals zu schaffen hielt er es für möglich, dass dieses System sich einen Teil dieser Bevölkerung vom Hals schafft. Wer heute – acht Monate später, nach Indien schaut, nach Brasilien, Chile, oder in die Südstaaten, kann genau das beobachten: wie die Ärmsten der Armen, die nie einen Zugang zu minimaler Gesundheits-Versorgung hatten, in Massen sterben. In gruseliger Form und nicht ahnend, was bald danach kommen sollte, lieferte Carlos Taibo seherische Analysen der kapitalistischen Brutalität.
Nun kam er zurück ins Barrio der Armen und Migrantinnen, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung sechs Jahre weniger beträgt als in bürgerlichen Bilbao-Stadtteilen, das mittlere Jahreseinkommen ein Drittel der Reichenviertel. Sein neues Buch ist eine Zusammenstellung von Geschichten aus dem Kapitalismus. Keine Analyse, eher eine Alltags-Fotografie von Szenen, die wir alle schon einmal erlebt haben.
Gedanken eines undogmatischen Libertären, der ein Kurdistan-Motiv auf dem T-Shirt trägt und sicher auch Öcalans ideologischen Sprung zum Demokratischen Konföderalismus teilt. Beobachtungen eines Mannes aus Madrid, die bei der individuellen und kollektiven Aufarbeitung der Pandemie-Erfahrung helfen, die uns momentan beschäftigt.
2020-07-24 / Post-Covid Tag (33)
DIE SCHULDIGEN
Endlich erfahren wir, wer die Schuldigen sind für das “Wiederaufblühen“ der Coronavirus-Sternchen: es handelt sich um die junge Generation, die unbetrübt ihre distanzlosen Feste feiert und dafür von einer nächtlichen Strandorgie zur nächsten zieht. Vierzig Prozent der Neuansteckungen ereignen sich im familiären Rahmen, die junge Generation ist zur Haupt-Überträgerin geworden. Ein Mediziner hat medienwirksam die Gefahrenpunkte benannt: es handelt sich um die “sechs B“ – das können sich alle leicht merken. In spanischer Sprache sind das Bodas, Bautizos, Bares, Botellones, Barbacoas und Banquetes. Ins Deutsche übersetzt reduziert sich der B-Anteil auf zwei, doch bleibt die Botschaft klar: Hochzeiten, Taufen, Bars, Jugendbesäufnisse, Grillfeste, Bankette. Weitere vier B gehören übrigens nicht dazu: Bergausflüge, Bücherlesen, Bildung und Badewannen-Vergnügen. Bitte im Bewusstsein behalten!
2020-07-23 / Post-Covid Tag (32)
FUSSBALL ÜBER ALLEM
Stell dir vor, du stehst mit deinem Überraschungs-Team einen Schritt vor einem historischen Aufstieg in die nächste Kategorie der Fußball-Liga. Einen Tag vor dem entscheidenden Spiel meldet die interne Gesundheitskontrolle vier mit Coronavirus infizierte Spieler. Das besagte letzte Spiel läuft Gefahr, abgesagt zu werden, der Traum vom nie dagewesenen Erfolg könnte sich in Luft auflösen. Also Augen zu und durch.
Etwas Ähnliches hat sich im spanischen Fußball ereignet. Trotz mehrfachem “Positiv“ reiste ein Team aus Madrid nach Galicien, um sich dort die Teilnahme an der Aufstiegsrunde zu sichern. Die Galicier sind empört, weil sie über die Virus-Fälle nicht informiert wurden, die Madrider behaupten, sie hätten formal die Protokolle erfüllt und den Fall von vier Ansteckungen unter den Spielern der zuständigen Gesundheits-Behörde mitgeteilt. Man habe die Infizierten zu Hause gelassen und sei dann nach ordnungsgemäßen Negativ-Tests an die Nordküste gereist.
Tatsache ist das In Galicien keine Meldung ankam und dass das entscheidende Match in letzter Minute abgesagt wurde. Wie immer in solchen Fällen von Spielen mit gezockten Karten sind die jeweils anderen schuld. Im spanischen Sprachgebrauch heißt dies übersetzt: Bälle nach draußen schießen. Wir schließen uns diesem Urteil nicht an. Denn schließlich gibt es eherne Gesetze: “Fußball steht über allem, Wetten stehen über allem, das Geld steht über allem“. Und: der Erfolg heiligt die Mittel. Oder so ähnlich. (Nachtrag 25.07.2020: Mittlerweile sind 10 Personen aus dem Spieler- und Betreuer-Kader positiv gestet worden, ein Spieler wurde ins Krankenhaus eingewiesen, was immer deutlicher macht, das von Vereinsseite mit falschen Karten gespielt wurde.)
2020-07-22 / Post-Covid Tag (31)
WAHLKAMPF UND KLASSENINTERESSEN
Moderne Demokratien beziehen ihre Legitimation über freie Wahlen, bei denen alle das Recht zur Teilnahme haben. Was aber, wenn die Berechtigten nicht wählen gehen, oder nur ganz bestimmte Schichten und Klassen?
Die baskischen Wahlen zum Regional-Parlament von 12. Juli 2020 haben eine historisch niedrige Wahlbeteiligung erlebt. Fast 50% des Wahlvolkes machte von seinem Recht keinen Gebrauch. Im vorliegenden Fall spielten die Pandemie und die Gefahr einer Ansteckung an der Wahlurne selbst eine große Rolle. Andere Faktoren sind Politik-Verdrossenheit und die Erfahrung, dass “die doch sowieso nur das machen, was ihnen in den Kram passt“.
Nach solchen vernichtenden Ergebnissen könnte jemand auf die Idee kommen und den Wahlsiegern die Legitimation absprechen. Das tun jedoch nur jene, die das Modell insgesamt in Frage stellen. Aber gewählt ist gewählt. Wenn es 100% sind, die die Verantwortung in die Hände einer Partei legen, dann sind alle glücklich. Wenn es 50% sind (oder wie in den USA unter 10%) stellt das Ergebnis niemand in Frage. Niemand kann schließlich an der Urne zu seinem Unglück gezwungen werden.
Die Wahlen vom 12. Juli haben ein weiteres interessantes Element ans Tageslicht gefördert: Die Armen wählen weniger als die Reichen. Was bedeutet, dass die Interessen der Reichen stärker im Parlament vertreten sind als die der Armen.
Beispiel Gasteiz. In einem Wahlbezirk beteiligten sich weniger als 20% der Berechtigten, Wahlenthaltung 81,2%. In Bilbao waren in fünf Bezirken 3.308 Personen aufgefordert, doch nur 890 folgten der Einladung: 26,9%. All diese Bezirke sind in Otxarkoaga, dem bekannten Arbeiter- und Armutsviertel Bilbaos. Bis in die 1950er Jahre hausten dort vorwiegend Arbeitsmigrantinnen in Bruchbuden, ehe der Franquismus sterile Wohnblocks hochziehen ließ. Neben San Francisco hat dieses Viertel in der Stadt den schlechtesten Ruf. Das staatliche Statistikamt bescheinigt, dass in keinem dieser Wahlbezirke das durchschnittliche Jahreseinkommen der Wahlberechtigten 9.000 Euro übersteigt. Im Durchschnitt wohlgemerkt, das heißt viele haben deutlich weniger zum Leben.
Bleiben wir in Bilbao und wenden uns einem anderen Viertel zu. Abando, Innenstadt, hier liegt das Durchschnitts-Einkommen bei 26.051 Euro. Und die Wahlbeteiligung liegt nicht bei 26%, sondern bei 64,1%. Der Unterschied liegt somit bei knapp vierzig Prozent. Diese Tendenz bestätigt sich bei der Durchsicht weiterer reicher und armer Stadtteile und Orte. In den zwanzig reichsten Orten Bizkaias wählten 58,2%, in den zwanzig ärmsten nur 34,2 – also 24 Punkte Unterschied. Anders ausgedrückt: aus diesen reichen Bezirken Bizkaias kamen doppelt so viele Stimmen für das Parlament in Gasteiz wie aus den armen Bezirken.
Hier stellt sich nicht nur die Frage nach Beteiligung oder Enthaltung. Vielmehr wird deutlich, welche Interessen über die Wahlen vertreten werden. Unwahrscheinlich, dass die Reichen Podemos wählen, sie wählen rechte Parteien, also baskische oder spanische Nationalisten, die eine korrekte neoliberale Interessen-Vertretung abliefern. Von den Interessen der Armen keine Spur.
2013 untersuchten drei Soziologen 14 Länder und stellten fest, dass dort, wo die arme Bevölkerung verstärkt zur Wahl geht, der gesellschaftliche Reichtum “ein wenig gerechter“ verteilt wird. “Die Parteien können den Interessen der Armen den Rücken zukehren, weil sie nie ins System eingreifen und auch nicht bis zum Ende der Legislatur warten, um dann mit ihrer Stimme zu belohnen oder zu bestrafen“.
2020-07-21 / Post-Covid Tag (30)
ANTIRASSISTISCHE DEMONSTRATION IN BILBO
Ein langer Marsch in sengender Sonne: Mit einer Demonstration wurde in Bilbao die bedingungslose Legalisierung von Menschen ohne Papiere gefordert. Etwa vierhundert Personen nutzten den Sonntag nicht, um an überfüllte Strände zu gehen und sich einen Virus einzufangen, sondern traten auf dem Asphaltstrand für die Rechte der Rechtlosen ein. Denn unter dem Pflaster liegt bekanntlich der Strand.
Wie nicht anders möglich startete der Marsch an jenem Punkt, der während des Corona-Alarmzustands unrühmliche Bekanntheit erlangt hatte: im bilbainischen Stadtteil San Francisco, wo es im April und Mai (und bis gestern) rassistisch und ausländerfeindlich motivierte Polizeiaktionen gab.
Ähnliche Demonstrationen gab es in Donostia und Iruñea, sowie in verschiedenen spanischen Städten. Dass es zu einer solch breit angelegten Koordination kommen konnte, lag am Bündnis von verschiedenen Gruppen von Migrantinnnen und der baskischen Pro-Flüchtlings-Bewegung Ongi Etorri Errefuxiatuak (Herzlich Willkommen Flüchtlinge). Vor allem Gruppen aus Afrika sind in den vergangenen Jahren gewachsen und erkämpfen sich zunehmend einen Platz im politischen Gefüge des Baskenlandes. Gemeinsam mit Organisationen aus dem Maghreb und Latinas wurde die Plattform "Plataforma Regulación Ya Bizkaia“ gegründet (Regulierung Jetzt). Die Hauptforderung der Legalisierung sei “ein erster Schritt für ein würdiges Leben aller Frauen und Männern als Grundrecht“. Sie machen deutlich: “Der Kampf aller Migrantinnen und Flüchtlinge ist in Gang, er wird nicht enden, bevor unsere Rechte, Freiheiten und unsere Würde anerkannt werden.“
Die Organisatorinnen stellten fest, die Pandemie habe “die prekäre Lage vieler von Benachteiligung und Rassismus betroffenen Personen deutlich gemacht und noch verschlimmert.“ Verantwortlich dafür sei nicht zuletzt das Ausländer-Gesetz (Ley de Extranjería): “Es macht die Betroffenen verletzbar, nimmt ihnen Rechte, treibt sie in soziale und wirtschaftliche Prekarität und in gefährliche Arbeitsverhältnisse“. Die Regulierung müsse deshalb sofort und dauerhaft erfolgen, ohne Vorbedingungen für alle Migrantinnen.
Gleichzeitig müssten die menschenverachtenden CIE-Aufnahmelager aufgelöst werden, die in Melilla und Ceuta (spanische Enklaven in Afrika) eingesperrten Personen müssten auf die Halbinsel gebracht, die illegalen Sofort-Abschiebungen und Deportierungen beendet werden. Das “Ausländer-Gesetz“ müsse aufgehoben werden. “Die rassistischen Polizei-Razzien zur Identifizierung nach ethnischen Kriterien müssen beendet, die Einschreibung in öffentlichen Melderegistern für alle möglich gemacht werden.“
Fast die Hälfte der Teilnehmerinnen am Protestmarsch waren Personen aus dem Umfeld der Pro-Flüchtlings-Bewegung OEE und der Gruppe SOS Rassismus, sowie viele Bewohnerinnen des von Polizei-Rassismus betroffenen Stadtteils San Francisco.
Durch komplette Abwesenheit glänzte die politische Klasse. Kein einziges aus dem Fernsehen bekanntes Gesicht ließ sich auf den 1,5 Kilometern blicken. Von der spanischen Rechten wäre ohnehin nur die Forderung nach einem Demonstrations-Verbot zu erwarten gewesen, das liberale Spektrum ist gleichgültig, weil es hier ja nicht um Wahlstimmen geht. Dass sich von den “linken“ Organisationen Podemos und EH Bildu (baskische Linke) niemand sehen ließ, ist schwerwiegend. Vielleicht der Müdigkeit nach den unnützen Wahlen geschuldet. Vergeben wurde jedenfalls eine perfekte Gelegenheit, den Verdammten dieser Erde Verbundenheit zu zeigen. Daran besteht ganz offenbar kein Interesse.
2020-07-19 / Post-Covid Tag (28)
KONTROLLVERLUST
Was sich in diesen Tagen im Staate S. abspielt darf als Kontrollverlust bezeichnet werden. Den Behörden ist die Kontrolle über die Pandemie, oder besser gesagt: ihr Wiederaufflammen, aus den Händen geglitten. Von mehr als 200 aktiven Infektions-Herden ist die Rede. Dabei ist es gar nicht mehr möglich, im Großraum Barcelona die Rebrotes einzeln zu zählen, weil sich die Infektionsgebiete überlappen. Rebrote ist das Wiederaufflammen an einem bestimmten Ort.
“Wir sprechen von einzelnen Infektions-Orten und nicht von kommunaler Übertragung. Das ist ein gutes Zeichen“. Diese Worte sagte der staatliche Koordinations-Direktor für Alarm und Gesundheits-Notstand am 25. Juni. Also vor 25 Tagen. Heute wird eingestanden, dass es diese “kommunale Übertragung“ durchaus wieder gibt. Nicht nur in Barcelona, sondern auch on Zaragoza und Huesca (Aragon) und in Lleida (Katalonien). Eingeräumt wird auch, dass die Brandherde nicht mehr eindeutig zuordenbar sind, weil es zu Überschneidungen kommt.
Dies sind Alarmzeichen, die Reaktionen erfordern. Allein am heutigen Sonntag wurden in Katalonien 700 neue Ansteckungen gezählt, im weniger geschundenen und nur ein Drittel so großen Baskenland waren es immerhin 200. Aus den 158 Virusherden am Donnerstag sind am heutigen Sonntag 200 geworden. Hinzu kamen ein Unternehmen in Granada, ein Freizeitzentrum in Murcia, Erntehelfer in Albacete (die den verordneten Einschluss durchbrachen und der Polizei gegenüber standen), 73 Fälle aus einer Fiesta in Cordoba, ein Nachtlokal in Navarra, eine Kneipe in einem Strandort in Valencia. Ballermann auf Mallorca gehört dabei schon zu den Altfällen.
Im Baskenland gibt es Rebrotes in Zarautz, aufgrund einer Abiturfeier, die in der Disco endete, sowie in Ermua aufgrund einer Familienfeier. Interessant und bezeichnend ist, dass mittlerweile 40% der neuen Ansteckungen bei Jugendlichen unter 19 Jahren festgestellt werden. Klar, die Altersheime wurden nach der tödlichen Erfahrung von April-Mai abgeschottet, offenbar in ausreichendem Maße. Die Jugend hingegen lässt seit der Lockerung des Einschlusses keine Gelegenheit aus, wie in alten Zeiten auf den Putz zu hauen.
In Navarra wurde bekannt, dass Jugendgruppen sich Wohnungen gemietet haben, um mit der verbotenen Praxis des Botellón weiterzumachen. Die besteht darin, sich im Supermarkt mit billigem Alkohol zu versorgen und sich kollektiv zu betrinken. Der hohe Anteil von Jugendlichen bei den Covid-Ansteckungen erklärt, weshalb es trotz hoher Anzahl zu wenig Todesfällen kommt, das Durchschnitts-Alter liegt derzeit bei 48 Jahren.
Dazu kommen Kollektiv-Ansteckungen in einem Ferienlager, sowie bei einem baskischen Ruderteam, das in der Folge auf einen Wettbewerb verzichten musste. Die Reaktion: In Altersheimen werden die Schutzmaßnahmen erneut verschärft, Feriencamps für Kinder werden abgesagt. Kurioserweise jedoch nur die öffentlichen Camps, die privaten dürfen vorerst weitermachen – erneut eine seltsame Unterscheidung zwischen privat und öffentlich. Die Zentren der Rebrotes sind einfach zu benennen: Strände, Erntehelfer, Kneipen, Discos, Jugendpartys – überall dort, wo anonyme Massen auseinandertreffen.
UNAUFHALTSAMER ABSTIEG
Die Analyse der Statistiken der Regierung lässt nur einen Schluss zu: KONTROLLVERLUST. Nicht nur in Katalonien und Aragon. Das Ganze nur einen Monat, nachdem zwischen März und Mai die Eindämmung der Pandemie gelungen war, durch Lockdown und eine einzigartige Einschränkung der demokratischen Freiheiten. Zwischen dem 15. und dem 25. Juni ging die Zahl der Ansteckungen und Todesfälle gegen Null, seither geht es steil bergauf. Zehn Tage lang konnte sich in den Köpfen der Bevölkerung die Annahme festsetzen, dass die Schlacht gegen den Virus gewonnen sei. Dieser Irrtum könnte tödliche Folgen haben, was in der Steigerung von täglich 40 Neuansteckungen auf Staatsebene auf mehr als 1.300 aktuell seinen Ausdruck findet.
Der Preis für den Pyrrhus-Sieg über die Pandemie bestand in einem zuvor nie erlebten gesellschaftlichen Einschluss. Weichen musste der Lockdown, weil weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft weiter aushalten konnten. Der Sommer und die Zukunft des Tourismus standen vor der Tür. Die Zahlen lassen keinen Zweifel: der Beginn der “neuen Normalität“ war der Beginn des neuerlichen Abstiegs in die Vorhölle.
Die Verantwortlichen in der Gesundheits-Behörde in Madrid waren sich mit großer Wahrscheinlichkeit darüber bewusst, dass alles, was danach kommen sollte, nichts anderes als die Verwaltung der Rebrotes nach bestem Wissen sein würde. Entsprechend der neuesten Zahlen, die nun wieder von kommunaler Ansteckung sprechen, liegt nunmehr erneut die Frage nach “absolutem Einschluss zu Hause“ auf der Hand, zumindest teilweise. Dafür wären neue Alarm-Dekrete nötig.
Bisher haben sich die vielen Neuansteckungen nicht in Einweisungen auf Intensivstationen im Gesundheits-System niedergeschlagen (täglich 20 anstatt der 500 vor zwei Monaten). Zum einen wegen des niedrigen Alters der Betroffenen, zum anderen, weil ein Großteil der Infizierten asymptomatisch, die Krankheit also nicht ausgebrochen ist. Vor dem dunklen Panorama sind dies die beiden einzigen positiven Daten. Auch wenn es weh tun sollte, konsequente Entscheidungen stehen an. Kontrollverlust ist katastrophal.
(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-07-19)