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Reise-Vermittler: Jean Vigné

Während der größten baskischen Auswanderungswelle nach Südamerika Ende des 19. Jahrhunderts waren viele Emigrations-Vermittler aktiv, sowohl in Iparralde (Nord-Baskenland), als auch in Hegoalde (Süd-Baskenland). In Soule (baskisch: Zuberoa, Xiberoa), der östlichsten Region von Iparralde und den anderen beiden Provinzen des baskischen Nordens standen diese Vermittler den Ausreisewilligen zur Seite, organisierten deren Überfahrt und vermittelten ihnen sogar Arbeit in Buenos Aires oder Montevideo.

Die Entdeckung einer Truhe voller Briefe in dem kleinen Ort Atharratze im französischen Baskenland erlaubte es, die Tätigkeit eines Auswanderungs-Vermittlers Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren, der Hunderten von Emigrationswilligen den Weg in die neue Heimat organisierte.

Das Nationalarchiv in Paris enthält Dokumente bezüglich der Tätigkeit von 108 Vermittlern, von denen 21 in Bordeaux, drei in Baiona (frz: Bayonne) und fünf im Inneren des nördlichen Baskenlandes ihren Sitz hatten. (1)

Der Vermittler Jean Vigné

Jean Vigné war einer von ihnen. Er arbeitete zunächst als Unter-Beauftragter einer Agentur, später als eigenständiger Vermittler in der Gegend um Atharratze (frz: Tardets) und Maule (frz: Mauléon) in Zuberoa. In dem Haus, in dem Vigné gelebt hatte, befand sich eine Truhe, die der aktuelle Hausbesitzer im Jahr 2015 loswerden wollte. Dank der Übergabe dieser Truhe ist der in Maule ansässige Verein “Ikerzaleak“ (Forscher*innen) heute im Besitz einer Sammlung von Dokumenten, die über Vigné’s Tätigkeit Auskunft geben und Einblick gewähren in die Organisierung der Auswanderung und die Entstehung einer baskischen Diaspora in Südamerika.

emig02Ziel des Ikerzaleak-Vereins ist es, die Geschichte Zuberoas zu erforschen, zu dokumentieren und ihre Aufarbeitung zu fördern. Vereins-Aktivist*innen hatten Zugang zu den 49 Verzeichnissen, die sich in der Truhe befanden. Denn Jean Vigné machte Kopien von allen Briefen, die er an seine Korrespondenten im Ausland schickte. Mit der Zeit gingen einige Aufzeichnungen verloren, aber es kann davon ausgegangen werden, dass die 24.500 vorhandenen Seiten mehr als zwei Drittel der gesamten Korrespondenz darstellen, die Vigné zwischen 1885 und 1925 geschrieben hat. Wie die meisten Migrationsvermittler hatte Vigné einen anderen Beruf erlernt: Er war Verkäufer von Reiseartikeln und Kleidung. Andere Vermittler waren Kaufleute, Geschäftsleute, Schiffskapitäne oder Verwalter von Reedereien.

Jean Vigné wurde 1857 geboren und starb 1927. Sein Vater, Pierre Vigné, führte in Atharratze ein Bekleidungsgeschäft mit Baretten, Hemden, Stoffen und Reiseartikeln. Jean arbeitete eng mit seinem Bruder Alexis zusammen, der in Buenos Aires eine Niederlassung hatte. Zwei Schwestern der beiden lebten bereits in Argentinien.

Wie wurde Jean Vermittler?

Aus den Unterlagen wird deutlich, dass Vigné mindestens seit 1885 in der Auswanderungs-Branche tätig war. Zu Beginn war er Unter-Beauftragter eines gewissen Charles Grison, der ebenfalls aus Atharratze stammte. Im August 1887 reichte er bei der französischen Regierung den Antrag ein, als eigenständiger Vermittler anerkannt zu werden.

Nach mehreren Briefwechseln mit verschiedenen Ministerien und lokalen Behörden erhielt er vier Monate später die endgültige Genehmigung. Kaum anderthalb Jahre später, am 6. Mai 1889, verzichtete er auf seine Lizenz. Es ist nicht genau bekannt, was der Hauptgrund dafür war. Bekannt ist, dass der französische Staat eine drastische Erhöhung der Kaution für die Auswanderungs-Vermittler beschlossen hatte, von 15.000 auf 40.000 Francs. Möglicherweise verfügte Jean Vigné nicht über die notwendigen zusätzlichen 25.000 Francs, die von ihm verlangt wurden.

Ein weiterer Grund könnte sein, dass er entschieden hatte, nach Argentinien zu gehen. Nach seiner Lizenzrückgabe arbeitete er weiterhin als Unter-Beauftragter eines Haupt-Bevollmächtigten, von dem er eine notariell beglaubigte Vollmacht hatte. So konnte er in dessen Namen weiterhin Ausreisewilligen die Auswanderung organisieren. Im Oktober desselben Jahres reiste Jean tatsächlich nach Buenos Aires ab, und lebte dort bis 1895. Während seines Aufenthalts in Argentinien ersetzte ihn sein Bruder Alexis auf dem Posten in Atharratze.

emig03Inhalt der Briefe

Obwohl bisher längst nicht alle dieser 24.500 Seiten an Aufzeichnungen von Vigné gelesen werden konnten, wurde bereits deutlich, dass einige Briefe mit der kommerziellen Tätigkeit von Vigné zu tun haben: Bestellungen von Waren, Produktmuster, Bezahlung von Rechnungen. Ein weiterer bedeutender Teil besteht aus familiärer Korrespondenz zwischen dem Baskenland und Argentinien. Die Briefe geben Einblick in viele Einzelheiten des damaligen Lebens in Atharratze und Umgebung, sowie in das gesellschaftliche Leben der baskischen Disapora-Gemeinschaft in Buenos Aires.

Die meisten der Briefe stehen jedoch im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Auswanderungs-Vermittler. In einigen davon gibt er Ausreisewilligen auf deren Nachfrage praktische Informationen. In anderen Fällen bucht er Schiffspassagen oder Hotelzimmer in Bordeaux. Manchmal wendet er sich auch an andere Emigrationsvertreter im Baskenland oder in Bordeaux. In einigen Briefen wendet er sich an seine Partner in Buenos Aires oder an französische oder argentinische Freunde, um von ihnen Rat einzuholen oder ihnen Ratschläge zu geben. Die meisten der Briefe sind an seinen Bruder und Partner Alexis adressiert. Beide Brüder waren fast immer verteilt auf beiden Seiten des Atlantiks, entweder in Atharratze oder in Buenos Aires. Jean Vigné schrieb sowohl auf Französisch als auch auf Spanisch in gutem Niveau. Weniger als 1% der Briefe sind auf Baskisch geschrieben, das er also ebenfalls beherrschte.

Anzahl und Altersgruppen

In den von Vigné geführten Listen finden sich rund 2.000 Personen, von denen 14% aus dem spanischen Staat stammten, zu gleichen Teilen aus Navarra und Aragon. Nach Altersgruppen differenziert handelte es sich bei der größten Gruppe um junge Menschen zwischen 16 und 19 Jahren. Danach folgt die Gruppe der 20 bis 24-Jährigen und schließlich diejenigen zwischen 25 und 29 Jahren. Natürlich wanderten auch Menschen über 30 Jahre mit Kindern aus, allerdings in geringerer Zahl. Fünfzig Prozent der Auswandernden waren Männer, 38 Prozent Frauen und 12 Prozent Kinder unter 16 Jahren.

Aufgaben des Vermittlers

Vigné stand in regelmäßigem Austausch mit seinen Berufskollegen. Alles deutet darauf hin, dass seine Zusammenarbeit mit Charles Grison im April 1885 begann. Aus den Aufzeichnungen eines anderen baskischen Vermittlers, Guillaume Aphéça, geht hervor, dass die Zahl der von ihm vermittelten Passagiere in diesem Jahr 1885 stark zurückgegangen war. Grund für diesen Rückgang könnte sein, dass Vigné und Grison in jenem Jahr dasselbe Gewerbe in der gleichen Gegend aufgenommen hatten. Der Wettbewerb zwischen den Vermittlern war heftig.

Vigné erzählt, dass seine Partner in Buenos Aires – sein Bruder Alexis und ein gewisser Sardoy – “von verschiedener Seite“ Angebote für Schiffspassagen erhielten, die weit unter den üblichen Preisen lagen. Dies zwang sie, ihre eigenen Preise auf 200 Francs zu senken, so dass ihnen nur 10 Francs Gewinn blieben, “sehr wenig für so viel Arbeit“. Damals beschloss Vigné, seine Vereinbarung mit Grison aufzulösen und eine eigene Genehmigung zu beantragen. Auf diese Weise würde er nur eine Kommission bezahlen müssen und nicht zwei. In einem der Briefe beschreibt Vigné, dass die Monate September bis November besonders gefragt waren. Für diese Monate musste die Reservierung früher als für den Rest des Jahres vorgenommen werden, das Verhandeln der Preise war weit verbreitet.

Lokale Beziehungen

Jean Vigné war regelmäßig auf dem Wochenmarkt in Maule präsent. Dort beriet er die Ausreisewilligen hinsichtlich der nötigen Dokumente. Für die unter 21-Jährigen reichte eine schriftliche Genehmigung der Eltern, oder des Bürgermeisters des Dorfes, wenn die Eltern bereits weggezogen oder verstorben waren. Für Männer unter 26 Jahren war ein Dokument erforderlich, das nachwies, dass sie ihren Militärdienst geleistet hatten. Manchmal dienten Ausreisende als Kuriere, die Briefe und Pakete für Freunde und Familie transportierten.

emig04Vigné war dafür zuständig, die erste Etappe der Reise zu organisieren, bis zum Hafen von Bordeaux. Diese Anreise begann mit einer Fahrt in einer Pferdekutsche, gefolgt von einer mehrstündigen Zugfahrt, bevor ein Bus die Emigrierenden vom Bahnhof Bordeaux zum Hotel brachte, in dem sie ihre letzte Nacht vor dem Besteigen des Schiffes verbrachten.

In Vigné’s Briefen werden nur wenig Einzelheiten über die transatlantische Reise genannt, als ob es sich um eine einfache Routine handelte. Die einzige Überfahrt, die er in einem Brief an einen Freund beschreibt, endete in einer Quarantäne im Lazarett der Insel Martin Garcia in der Bucht des Rio de la Plata. Dort musste er 20 Tage verbringen, weil sich an Bord ein Mann befand, der an Gelbfieber erkrankt war. Da er ein Ticket erster Klasse besaß, musste er für seine Unterkunft und Verpflegung während der Quarantäne bezahlen, während Reisende zweiter und dritter Klasse nichts bezahlen mussten.

Unterstützung in Argentinien

In Argentinien angekommen, half er Neuankömmlingen dabei, wie sie ihr Geld am besten anlegen sollten. Er legte ihnen nahe, ihre Familien in der Heimat auf dem Laufenden zu halten, vermittelte Einreisende in die Unternehmen seiner beiden Schwager oder anderer Basken, die in Argentinien bereits Fuß gefasst hatten. Außerdem half er ihnen bei der Verwaltung des Erbes ihrer in Frankreich verstorbenen Eltern.

Jean Vigné half auch Kriegsdienst-Verweigerern, wenn sie Probleme mit der französischen Armee hatten und unterstützte Migrant*innen bei ihrer Rückführung in ihr Ursprungsland. In jenen Fällen wurden die Reisegebühren von der französischen Regierung bezahlt.

Verwaltung und Finanzierung

Eine weitere Aufgabe von Jean Vigné war die Verwaltung der Finanzen zwischen beiden Seiten des Atlantiks. Oft zahlten die bereits in Argentinien ansässigen Eingewanderten die Kosten der Überfahrt eines Verwandten oder Freundes direkt an seinen Bruder Alexis in Buenos Aires, während Jean die Passage in Bordeaux bezahlen musste. In anderen Fällen gewährte Jean den Auswandernden einen Kredit, der pünktlich zurückgezahlt werden musste.

Er wickelte auch größere Transaktionen mit Banken ab, bis zu mehr als 10.000 damalige Francs, etwa die Summe für 50 Überfahrten zweiter Klasse. Vigné verstand es gut, mit den Wechselwerten der jeweiligen Währungen zu jonglieren.

Einhunderttausend Ausgewanderte

In den letzten Jahren sind die Aufzeichnungen mehrerer Migrations-Vermittler aus Iparralde und der kleinen Nachbar-Provinz Bearn bekannt geworden. Über Dokumente des Vermittlers Aphéça (15.000 Migrantinnen und Migranten), der Gruppe “Laplace“ (8.000) und schließlich über Vigné (2.000) ist greifbar geworden, wie die Migrations-Vermittler im westlichen Teil der französischen Pyrenäen arbeiteten. Allein diese drei Agenturen stellten einen bedeutenden Teil der Gesamtzahl (100.000) baskischer Migrant*innen aus Iparralde nach Argentinien dar.

emig05Was Jean Vigné betrifft, so ist nicht bekannt, aus welchen Gründen er als Auswanderungs-Vermittler begann. Aus Interesse? Aus reinem Altruismus? Aus Opportunismus? Oder um mehr von seinen Waren - Hüte, Hemden, Reiseartikel - zu verkaufen? Es scheint in jedem Fall, dass er ein ehrlicher Mann war - kein Wunder, denn die hohen Summen, die bei der Emigration im Spiel waren, erforderten ein großes Maß an Vertrauen.

In Bezug auf die Anzahl der von ihm betreuten Migrant*innen oder deren Herkunftsvielfalt kann er nicht mit anderen Vermittlern mithalten. Immerhin 77% seiner Kund*innen kamen aus dem Tal, aus dem er selbst stammte. Aber seine Korrespondenz ist angesichts der Fülle an Informationen, die er liefert, von wesentlicher Bedeutung. Jean Vigné stand im Zentrum verschiedener sozialer Netzwerke: das der zukünftigen Migrant*innen; das der bereits in Argentinien Angesiedelten; und das der auf beiden Seiten des Atlantiks verstreuten Familien, die miteinander kommunizieren wollten, auch wenn sie oft nicht schreiben konnten, was jedoch mit Jean Vigné’s Hilfe möglich wurde. Mit dem Studium all dieser Briefe hofft der Verein Ikerzaleak, mehr Informationen über die Bedingungen der Emigration von Iparralde nach Argentinien zu erhalten, Informationen, die aufgrund der Ähnlichkeit des Migrations-Phänomens im Norden und im Süden des Baskenlandes auch Kenntnisse bezüglich der Migrationsbewegung in Hegoalde liefern kann.

“Der Dank des Autors dieses Artikels gilt Jean Hocquet, der Fotos seines Großvaters Jean Vigné zur Verfügung stellte, und Robert Elissondo von Ikerzaleak, der den Zugang zu Vignés Aufzeichnungen ermöglicht hat. - Autor: Pascal Chastín, Grundschullehrer im Zentrum der französischen Pyrenäen. Seit Jahren an der Auswanderung der Pyrenäen an den Rio de la Plata interessiert, begann er 2017 an der Universität Toulouse Jean-Jaurès zu promovieren. Forschungsgruppe ‘Baskenland, Europa und Amerika. Verbindungen und atlantische Beziehungen‘.

ANMERKUNGEN:

(1) ”Un agente vasco de emigración: Jean Vigné” (Ein baskischer Emigrations-Vermittler: Jean Vigné), Pascal Chastín in der baskischen Tageszeitung Deia vom 20. Juni2020 (LINK)

ABBLIDUNGEN:

(1) Passage-Schiff (ministerio)

(2) Jean Vigné (deia)

(3) Vignés Schreiben (deia)

(4) Migrations-Plakat (ministerio)

(5) Überfahrt (deia)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-07-10)

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