Tuberkulose in Bilbao vor 100 Jahren
Die Arbeiterklasse im 50 Jahre zuvor industrialisierten Bizkaia lebte um Anfang des 19. Jhs. in übelsten Verhältnissen. Lange Arbeitszeiten, schlechter Lohn, Unfallgefahr, schlechte Unterkünfte und miserable Hygiene waren die Bedingungen, die das Leben prägten. Die Lebenserwartung dieser Menschen war gering, ihre Gesundheit war schwer angeschlagen, insbesondere bei Kindern. Regierung und Ärzte mit sozialer Ader steuerten dem entgegen – es war die Geburtsstunde des Lungenheil-Sanatoriums in Gorliz.
Um das Jahr 1900 richtete die Tuberkulose in Bizkaia schwere Schäden an in der Bevölkerung, in allen Alterstufen und fast ausschließlich in den Klassen der Armen und der Arbeiterschaft. Unter Kindern und Jugendlichen über fünf Jahren war sie die häufigste Todesursache. Die chronischen Formen der Krankheit, die sich auf Gelenke und Knochen auswirkten, waren unter Kindern sehr verbreitet und führten häufig zu Verkrüppelung, Invalidität und zum Tod. Heil-Behandlungen waren nicht bekannt und die einzige Abhilfe war, den Organismus zu stärken, um auf diese Weise der Krankheit vorzubeugen. (2016-05-02)
Vor diesem dramatischen Hintergrund schlugen einige Mediziner aus Bilbao vor, Schritte zu unternehmen wie sie in anderen europäischen Städten bereits gemacht worden waren. Eine Maßnahme war die Gründung eines speziellen Zentrums für die Behandlung von Kindern. Einer der Ärzte, Luis Larrinaga Maurolagoitia (1), reichte bei der Regionalregierung Bizkaias eine Projektbeschreibung ein, die in detaillierter Form beschrieben, welche Charakteristika die Einrichtung haben musste. Das Gebäude sollte direkt an der Küste stehen, nach dem in Europa vorherrschenden Modell. Konkretes Vorbild für Bizkaia war das Zentrum am Strand von Berck in Calais, Frankreich. Die erste weltweit errichtete Lungenheilanstalt war 1855 im niederschlesischen Görbersdorf (heute Sokolowsko, Polen) eingeweiht worden (2).
Bau des Sanatoriums
Im Jahr 1909 akzeptierte die Provinzregierung Bizkaia den Vorschlag von Larrinaga und beauftragte drei Mediziner damit, die besten Lungenheilanstalten Europas zu besuchen: Felipe Llano, der gleichzeitig Abgeordneter war, Enrique Areilza und Luis Larrinaga. An den Kosten der Studienreise beteiligten sich u.a. die Rathäuser Bizkaias, im Gegenzug sollten die in ihren Gemeinden erkrankten mittellosen Kinder Aufnahme finden.
Die drei Ärzte empfohlen als Standort für das Sanatorium den Strand von Gorliz und standen dem ausführenden Architekten Mario Camiña beratend zur Seite. Die Grundsteinlegung wurde am 29. April 1911 mit großem Pomp gefeiert. Die Bauphase war allerdings von Zwischenfällen und Verzögerungen geprägt, erst acht Jahre später, am 29. Juni 1919, konnte die Einweihung stattfinden.
Die Baukosten beliefen sich auf 3,5 Millionen, für Inneneinrichtung und medizinische Ausstattung kam eine weitere halbe Million dazu. Medizinischer Direktor des Sanatoriums wurde Luis Larrinaga, sein Assistent war Luis Goiri, damals Arzt in Gorliz. Eine Gruppe von Nonnen des Ordens „Hijas de la Caridad“ (Töchter der Barmherzigkeit) stellte das Pflegeteam und betreute sowohl die Röntgenstation als auch das Labor. Ein Verwaltungschef, ein Gremium einflussreicher Damen mit weitreichender Kompetenz und eine Anstaltskommission der Provinzregierung stellten die Verwaltungs- und Leitungsorgane dar.
Beginn der Arbeit in Gorliz
Die ersten 14 Patienten wurden bereits vor der offiziellen Einweihung aufgenommen, sie kamen direkt aus der Arztpraxis. Später kamen weitere Kranke dazu, allerdings langsam und schrittweise, weil sie vor der Aufnahme in die Krankensäle eine Woche lang im Lazarett bleiben mussten, wo sie gründlich untersucht wurden, wo ansteckende Krankheiten ausgeheilt wurden und wo vor allem sicher gestellt werden musste, dass sie nicht an Lungentuberkulose litten. Aufgenommen werden konnten nur Kinder, die älter als vier Jahre waren und ausdrücklich keine Lungentuberkulose hatten. Neben Erkrankten anderer Tuberkulosearten wurden auch Patienten aufgenommen, die an Rachitis oder Verletzungen des Stütz- und Bewegungsapparates litten. Im Oktober 1919, nur 4 Monate nach der Eröffnung, waren alle 300 Betten belegt.
Die Hälfte der eingewiesenen Kinder kam aus Bilbao, der Rest aus anderen Gemeinden der Provinz Bizkaia. Aufgenommen wurden ausschließlich Kinder, deren Familien mindestens seit fünf Jahren in Bizkaia registriert waren. Der Aufenthalt dauerte in der Regel lange, in der Mehrzahl der Fälle mehr als ein Jahr. Dies wiederum machte die Einrichtung einer Schule notwendig, um den Lernprozess der Kinder fortzusetzen. Was Gesundheit, Ernährung und Hygiene betraf kamen viele in erbärmlicher Verfassung an. Die meisten litten gleichzeitig an schulischem Rückstand und genau auf diesem Gebiet ereignete sich eines der „Wunder von Gorliz“. Denn obwohl nur 20% der Patienten bei der Aufnahme ein ihrem Alter adäquates Schulniveau hatte, stieg diese Zahl nach einem Jahr auf 60%. Die Mischung aus Ernährung, Hygiene und Unterricht brachte gute Ergebnisse.
Die Behandlungen, die die Kinder erhielten, waren begrenzt auf gesunde Ernährung, gezielte Lichttherapie, kurze Bäder auf dem Küstenstreifen sowie Sporteinheiten. Die jährlichen Kosten beliefen sich bis 1936 auf ca. eine halbe Million Peseten, der größte Anteil davon fiel auf die Ernährung. Im Durchschnitt wurden 200 Kinder pro Jahr aufgenommen, von denen im Schnitt sechs (dennoch) nicht überlebten. Die orthopädischen Behandlungen erreichten eine mehr als akzeptable Qualität und sorgten über die Provinzgrenzen hinaus für den guten Ruf der Einrichtung in Gorliz.
Im Jahr 1930 war das Sanatorium auf seinem Höhepunkt, drei weitere Ärzte waren im therapeutischen Team hinzugekommen: Tomás Corral als Laborchef für klinische Analyse, sowie die beiden Praktikumsärzte Enrique Ornilla Benito (3) und Rufino Legorburu Bilbao. Die erzielten Ergebnisse waren zufriedenstellend und vergleichbar mit den besten europäischen Einrichtungen, was die Behandlung der Tuberkulose bei Kindern betraf.
Diese positive Entwicklung wurde jedoch durch den Beginn des Spanischen Krieges von 1936 (üblicherweise Bürgerkrieg genannt) jäh unterbrochen, seine unheilvollen Auswirkungen legten sich wie eine Steinplatte auf die erzielten Erfolge. Der Krieg, der 1936 nach dem Militäraufstand Francos und anderer Generäle ausbrach, die harte Nachkriegszeit und die sich anschließende lange Diktatur führten zu einem bedeutenden Rückschritt.
Evakuierung nach Frankreich
Im Juni 1937 wurden aus Angst vor den Bombenangriffen der feindlichen Flugstaffeln (maßgeblich der nazistischen Legión Cóndor) Kinder, Personal und alles transportierbare Material evakuiert und ins Kurhaus von Saint Cristau im Aspe-Tal gebracht, in der Provinz Bearn in den französischen Pyrenäen. Dieser Transport war alles andere als einfach. Zum einen war es schwierig, einen geeigneten Aufnahmeort zu finden, zum anderen mussten Genehmigungen und entsprechende Mittel organisiert werden. Die Jacht Altuna-Mendi der baskischen Unternehmer-Familie Sota transportierte schließlich Kinder, Nonnen, zwei Mediziner und 14 Helferinnen, dazu das notwendige Material, klinische Instrumente und Ausstattungen, einschließlich des Röntgenapparats. Lediglich sechs Familien entschieden, ihre Kinder nicht mitzuschicken, woraufhin sie entweder nach Hause oder ins Krankenhaus Santa Marina in Bilbao gebracht wurden. Die erste Reisegruppe wurde begleitet von Alfredo Espinosa, dem damaligen Gesundheitssenator der baskischen Regierung, der auf einem Passagierschiff nach Bizkaia zurückkehrte. Nur wenige Tage später, nach der Rückkehr von einer weiteren Frankreichreise, wurde Espinosa vom Flugpiloten, der ihn zurück nach Bilbao brachte, verraten, woraufhin er von Francos Vasallen gefangen genommen und hingerichtet wurde.
Nach dem Einmarsch der franquistischen Truppen (19. Juni 1937) wurden der Direktor Larrinaga und der Vize-Direktor Goiri aus politischen Gründen ihres Amtes enthoben. Vorübergehender Leiter der Klinik wurde Ornilla. In großer Eile wurde die Rückkehr der Kinder und des Pflegepersonals organisiert, drei Helferinnen und 165 Kinder lehnten dies jedoch ab, sie wurden ins Sanatorium in Nordfrankreich nach Berck-Plage bei Calais gebracht.
Die Nachkriegszeit
Der Rausschmiss von Ärzten, der Verlust von Material und medizinischen Instrumenten, die spät und in schlechtem Zustand aus Frankreich zurückkamen, behinderten die weitere Arbeit in Gorliz. Dazu kamen die extremen Versorgungsmängel der baskischen Nachkriegszeit, die eine Normalität im Sanatorium verhinderten.
Die Einrichtung sah sich gezwungen, die Bettenzahl zu reduzieren und sowohl Quantität als auch Qualität der Lebensmittel für die Versorgung der Kinder zu senken. Die frei werdenden Bereiche wurden für Sommerfreizeiten für Schulkinder zur Verfügung gestellt, genauso wie das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Sanatorium am Strand von Plentzia, das 1923 als privates Sanatorium von Luis Larrinaga aufgebaut worden war und Kinder im Alter von zweieinhalb bis fünfzehn Jahren aufgenommen hatte.
All das in einer Zeit, in der die Tuberkulose wieder zunahm und gleichzeitig die Zahl der Kinder wuchs, die um Einweisung anfragten. Die Wartelisten wuchsen über die Maßen, viele hatten keine Chance auf Aufnahme. Gleichzeitig wurden Kinder aufgenommen, deren Familien den Aufenthalt selbst finanzieren konnten, was eine weitere Verdrängung der Kinder aus armen Verhältnissen bedeutete.
Die medizinischen Aufzeichnungen des Sanatoriums aus jener Nachkriegszeit dokumentieren all das und informieren auch über den Anstieg anderer ansteckender Krankheiten innerhalb des Anstaltslebens: Typhus, Diphtherie, Mumps, Masern, Keuchhusten, usw. Es wird beschrieben, in welch bedauernswerten Zustand sich viele Kinder befanden, die vor der Aufnahme in der Heilanstalt ins Lazarett eingeliefert wurden: Unterernährung, Rachitis, Parasitose und andere Krankheiten, die sich in jener Zeit direkt von den elenden Lebensbedingungen der armen und arbeitenden Klasse ableiteten. Die Lehrerinnen des Sanatoriums beschrieben in ihren Aufzeichnungen auch den Rückgang des Bildungsniveaus der aufgenommenen Kinder –ebenfalls dem Elend zuzuschreiben.
Die Mangelerscheinungen hielten sich bis Ende der vieriger Jahre: Lebensmittel-Knappheit, Mangel an Medikamenten, Instrumenten, Material für Röntgenstrahlen und Laborzubehör, Kohle für Küche und Heizung, Stromversorgung. Viele Kranke, keine Mittel. Das Pflegepersonal musste sich ins Zeug legen, um die Mängel auszugleichen, die Ärzte mussten die Röntgenuntersuchungen auf ein Niveau heruntersetzen, das mit einer guten medizinischen Betreuung gerade noch unvereinbar war. Sie entwickelten allerlei Erfindungsgeist, um neue Materialien zur Erstellung von orthopädischen Apparaten zu entwickeln. Bis zum Bericht über das Jahr 1952 wiederholten sich jährlich die Forderungen der Ärzte nach Mitteln für die adequate Betreuung der Patienten.
Der Sieg über die Tuberkulose
Ab 1950 war ein Rückgang der Tuberkulose in Bilbao und in ganz Bizkaia zu verzeichnen, zum einen, weil sich der Ernährungszustand der Bevölkerung deutlich verbesserte und zum zweiten, weil eine wirksame medikamentöse Behandlung gefunden worden war, die die Krankheit heilen konnte.
Die Anzahl der um Aufnahme bittenden Kinder ging allmählich zurück und die Wartelisten wurden deutlich kürzer. Zu diesem Zeitpunkt entschieden die medizinische Leitung, das Gremium der Mäzeninnen und die Provinzregierung zusammen, die Bestimmung des Sanatoriums zu ändern und daraus ein Kinderkrankenhaus zu machen, das sich der Rehabilitierung chronischer Krankheitsprozesse widmete.
Die Ausstattungen des Sanatoriums wurden nun ausgerichtet auf die Behandlung der Folgeerscheinungen von Kinderlähmung, schwerer Rückgratverkrümmung, usw. Hierfür war die Mitarbeit der Nonnen und des Hilfspersonals entscheidend, für die das Sanatorium Fortbildungskurse organisierte. Das Sanatorium bekam in diesem Zusammenhang den neuen Namen „Institut für orthopädische Chirurgie und Rehabilitation“ und behielt diese Bestimmung unter der Verwaltung der Provinzregierung von 1969 bis 1985 bei.
In den 80er Jahren des 20. Jhs. war die Anzahl eingewiesener Kinder weit zurückgegangen und als die Provinzregierung das Gebäude mit seiner gesamten Ausstattung an den neu gegründeten Baskischen Gesundheitsdienst Osakidetza übergab wurden sowohl der Name als auch die Bestimmung der Einrichtung erneut geändert. Das heutige „Hospital de Gorliz“ ist ein Krankenhaus für chronisch Kranke.
ANMERKUNGEN:
(1) Der Arzt Luis Larrinaga Maurolagoitia (1878 – 1953) stammte aus einer bilbainischen Arztfamilie. Er studierte in Santiago de Compostela und in Paris (1901-1903). Bei seiner Niederlassung in Bilbao arbeitet er eng mit Dr. Areilza zusammen. Aus dieser Zusammenarbeit erwächst die Schaffung eines Sanatoriums für Kinder mit Tuberkulose. Von 1905 bis zur Einweihung im Jahr 1918 besucht er viele therapeutische Zentren Europas und präsentiert sein Projekt 1911/1912 in Rom bei der Internationalen Ausstellung zur Sozialhygiene. Schließlich erreicht er, dass sich die Provinzregierung Bizkaias der Umsetzung seines Projektes widmet und wird zum medizinischen Leiter vom Beginn an bis zum Einmarsch der franquistischen Truppen in Bilbao im Juni 1937. Nach seiner Absetzung lässt er sich als Arzt in Mungia nieder.
(2) Bei diesem Artikel handelt es sich zu großen Teilen um eine Übersetzung von „El Sanatorio Marítimo de Gorliz“, Artikel in zwei Teilen von Juan Gondra, veröffentlicht in der Monatszeitung „Bilbao“, Dezember 2014 und Januar 2015
(3) Enrique Ornilla Benito war Nachfolger Larrinagas als medizinischer Direktor des Sanatoriums von Juni 1937 bis zu seinem Tod im Jahr 1974. Über eine mögliche politische Verbindung mit dem Franco-Regime ist nichts bekannt. Er begann seine Arbeit im Sanatorium von Gorliz im Jahr 1931 als Arzt im Praktikum und promovierte im Jahr 1933 in Madrid über die Tuberkulose. Außerhalb seiner medizinischen Tätigkeit war er ein großer Sportler, er spielte Pelota, war ein guter Schwimmer und spielte Fußball beim Athletic-Club. Außerdem war er von 1963 bis 1970 Präsident der Chorvereinigung Bilbaos.
ABBILDUNGEN:
(1) Sanatorium-Krankenhaus Gorliz/Bizkaia. (Foto Archiv Txeng – FAT)
(2) Sanatorium-Krankenhaus Gorliz/Bizkaia. Alte Luftaufnahme. (Euskonews.org)
(3) Denkmal für den Sanatoriums-Gründer Enrique Areiltza. (Foto Archiv Txeng – FAT)
(4) Promenade vor dem heutigen Krankenhaus Gorliz. (Foto Archiv Txeng – FAT)
(5) Sanatorium-Krankenhaus Gorliz/Bizkaia, alte Luftaufnahme. (EITB)
(6) Strandszene vor dem Krankenhaus Gorliz. (Foto Archiv Txeng – FAT)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2016-05-02)