straffrei1Erstes Folter-Verfahren 2023

Mit dem Amnestie-Gesetz von 1977 wurden nicht nur die politischen Gefangenen der Diktatur aus dem Gefängnis entlassen, gleichzeitig wurden alle faschistischen Verbrechen in Krieg und Diktatur unter Straflosigkeit gestellt. Im September ließ ein Gericht in Madrid zum ersten Mal eine Klage gegen Folter zu, die sich 1975 ereignet hatte. Bisher wurden ähnliche Klagen unter Hinweis auf die General-Amnestie von 1977 abgelehnt, nun durfte ein Folteropfer im Beisein von Staatsanwälten seinen Fall schildern.

Mit dem Amnestie-Gesetz von 1977 wurde es unmöglich gemacht, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Franquismus zu verfolgen. Das Gesetz der Demokratischen Erinnerung der sozialliberalen Regierung eröffnet einen Schimmer der Hoffnung auf Änderung.

Julio Pacheco war richtig glücklich, nachdem er in einem Madrider Gericht von der Folter sprechen durfte, die er 1975 erlitten hatte, und damit seine Klage gegen die damaligen Folterknechte untermauern konnte. Solche Klagen waren bisher unmöglich, weil sie an einem Amnestie-Gesetz abprallten, von dem die UNO sagt, dass es gegen die Allgemeine Menschenrechts-Erklärung verstößt, die der spanische Staat eigentlich ratifiziert hatte. In lateinamerikanischen Ländern wie Argentinien, Paraguay oder Uruguay wurden nach den Diktaturen ähnliche Amnestie-Gesetze gekippt, in Argentinien wird bis heute gegen staatliche Mörder, Folterer und Verschwindenlasser prozessiert.

straffrei2Hintergrund des Hoffnungsschimmers, dass sich im spanischen Staat etwas ändern könnte, ist das Gesetz zur Demokratischen Erinnerung, im Original-Titel “Ley de Memoria Democrática“ von 2022, mit dem die Aufarbeitung des Franquismus erleichtert werden soll – von ermöglicht zu sprechen wäre noch zu viel gesagt, denn die Widerstände im Staat sind enorm. Vor allem die postfranquistische Rechte (PP) und die neofaschistische Ultrarechte (VOX) tun alles, was in ihren Händen liegt, diese Aufarbeitung zu be- oder verhindern. Beide Parteien haben bereits hoch und heilig versprochen, das Gesetz sofort zu Fall zu bringen, wenn sie eines Tages wieder die Regierung übernehmen.

Dass es zu der Verabschiedung dieses Memoria-Gesetzes kam, das vielen linken und republikanischen Kräften noch lange nicht weit genug geht, ist weniger der sozialdemokratischen Mehrheitspartei PSOE in der Koalitions-Regierung zu verdanken als vielmehr ihrem Partner von der ehemaligen Protestpartei Podemos (1). Vor allem aber jenen linken und rechten Parteien aus Katalonien und dem Baskenland, die als Mehrheits-Beschafferinnen diese Minderheits-Regierung überhaupt vier Jahre lang am Leben gehalten und nie einen Zweifel daran gelassen haben, dass die Aufarbeitung des spanischen Faschismus unverzichtbar ist.

Diese Voraussetzungen machen aus der gerichtlichen Aussage von Julio Pacheco einen Sonderfall. "Wir fangen an, die Mauer der Straflosigkeit zu durchbrechen", sagte er nach dem Auftritt vor Gericht. Julio Pacheco war Aktivist einer Kommunistischen Partei (PCE-ML) und der FRAP, einer bewaffneten Organisation, die im Spät-Franquismus für einen Bruch mit dem spanischen Faschismus kämpfte (Frente Revolucionaria Antifascista y Patriota – Revolutionäre Antifaschistische und Patriotische Front) (2). Während seiner Aussage im ersten in Spanien eröffneten Verfahren wegen Folterungen während des Franco-Regimes hatten Freund*innen und Sympathisant*innen vor dem Gerichtsgebäude an der Plaza de Castilla in Madrid eine Kundgebung gegen die Straflosigkeit der franquistischen Verbrechen organisiert.

Julio Pacheco wurde somit zur ersten Person, die die erlittene Folter unter dem Franco-Regime offiziell anklagen und vor einem spanischen Gericht aussagen konnte. In seiner Aussage bestätigte er, was er Anfang des Jahres bereits in der von ihm eingereichten Klage geschildert hatte: dass er nach seiner Verhaftung im Jahr 1975 von Mitgliedern der Politisch-Sozialen Brigade (Brigada Político Social), Francos politische Geheimpolizei, gefoltert wurde. Im Anschluss versicherte er optimistisch, dass dies ein Schritt sei, um "die Mauer des Schweigens und der Straflosigkeit, die wir mit dem Franco-Regime haben, zu durchbrechen". (3)

Fatale Amnestie 1977

Nach dem Tod Francos und in Aussicht einer grundsätzlichen Änderung der politischen Verhältnisse forderte eine breite Amnestie-Bewegung die Freilassung aller politischen Gefangenen aus den franquistischen Verließen. Dieser Kampf dauerte zwei Jahre und forderte bei Demonstrationen hundert Tote, meist Opfer von Polizeischüssen. Als die Übergangsregierung schließlich bereit war, das Amnestie-Gesetz zu verabschieden, wurde in letzter Minute noch eine Amnestie für alle Verbrechen während des Franquismus draufgepackt.

In der Euphorie des Erfolges waren sich viele Antifranquisten in jenem Moment nicht bewusst, was das für die Zukunft der spanischen Gesellschaft bedeuten würde. Tatsache ist, dass bis heute – 2023, 48 Jahre nach dem Tod des Diktators, 46 Jahre nach dem Amnestie-Gesetz – kein einziges Franquismus-Verbrechen vor Gericht aufgearbeitet wurde. Ein klarer Verstoß gegen die internationale Menschenrechts-Gesetze, die ein Verbot solcherart von Amnestien vorsehen. In dieser Hinsicht und nach Menschenrechts-Kriterien gemessen fällt der gerühmte spanische Staat weit hinter die lateinamerikanischen Staaten zurück, die ebenfalls Diktaturen erlitten und diese aufgearbeitet haben.

straffrei3Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes in Madrid sagte Pacheco gegenüber den Medien, er sei "sehr glücklich", dass zum ersten Mal einer derjenigen, die während des Franco-Regimes Folter erlitten hatten, vor Gericht erscheinen durfte, um persönlich eine Aussage zu machen. Bisher waren bereits etwa vergleichbare 100 Klagen wegen Folter eingereicht worden. "Es ist das erste Mal, dass ein Richter uns ernst nimmt und zuhört", sagte er. Dies könnte bedeuten, "dass es noch mehr solche Anhörungen geben könnte und dass sich die Angelegenheit in gewisser Weise zu öffnen beginnt und dass wir hier in Spanien endlich Gerechtigkeit erlangen können".

Als Pacheco um 9.30 Uhr auf der Plaza de Castilla in Madrid eintraf, wurde er von etwa fünfzig Personen empfangen, die Transparente trugen mit Slogans wie "Die Opfer des Franquismus fordern Gerechtigkeit", "Brechen wir die Mauer der Straflosigkeit" und "Der erste von hundert", in Anspielung auf die erste zugelassene Klage.

Die Leiterin des 50. Madrider Gerichtshofs, Ana María Iguácel, hat sowohl Pacheco als Kläger, wie auch seine Lebensgefährtin Rosa María García Alcón als Zeugin vernommen, nachdem die Vorladung im Juli aufgrund eines Wechsels im Gericht ausgesetzt worden war. Pachecos Aussage dauerte etwa eine Stunde, Rosa María Garcías Aussage etwa 30 Minuten. Die “Coordinadora Estatal de Apoyo a la Querella Argentina“ (Staatsweite Unterstützungs-Koordination der Argentinischen Klage, Ceaqua) betonte, dass dies "das erste Mal ist, dass ein Kläger, der ein Folterverbrechen während des Franco-Regimes im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeprangert hat, im Rahmen eines Strafverfahrens gehört wird". (4)

Staatsanwalt für Demokratisches Gedächtnis

Es ist auch das erste Mal, dass eine Staatsanwältin aus der Abteilung für Menschenrechte und demokratisches Gedenken, an einem Verfahren teilnimmt. Diese Abteilung der Staatsanwaltschaft wurde von der ehemaligen General-Staatsanwältin und jetzigen Staatsanwältin im Obersten Gericht, Dolores Delgado, im laufenden Jahr eingerichtet. Eine Vertreterin dieser Abteilung des Ministeriums für Öffentlichkeit (Ministerio Público) begleitete den designierten Staatsanwalt der Provinz Madrid. Jacinto Lara, der Anwalt des Beschwerdeführers, bezeichnete es gegenüber der Presse als positives Zeichen, dass die Staatsanwältin für Demokratisches Gedenken bei der Anhörung anwesend gewesen sei.

Pacheco berichtete, er habe in seiner Aussage die in seiner Beschwerde enthaltenen Anschuldigungen bestätigt: dass er im Alter von 19 Jahren in seiner Wohnung im Madrider Stadtteil Lavapiés verhaftet wurde, und dass ein Aktivist der PCE-ML und Mitglied der “Frente Revolucionario Antifascista y Patriota“ (FRAP) gewesen war. In seiner Anzeige hatte er erklärt, dass seine Verhaftung mit einem Attentat in Zusammenhang stand, das einige Tage zuvor auf einen Leutnant verübt worden war. Er sei ins Polizeipräsidium gebracht worden, wo er sieben Tage lang festgehalten und während der Verhöre gefoltert wurde.

"Sie wollten, dass ich mich selbst belaste und zugebe, dass ich zu dem Kommando gehörte, sie beschuldigten mich des Terrorismus und dann wurde ich im November zum Gerichtshof für öffentliche Ordnung überstellt". Im Gerichtshof “Tribunal de Orden Público“ wurden die politischen Gegner*innen des Regimes prozessiert und verurteilt, dabei gab es auch Todesurteile. Mit Pacheco stellten drei weitere Folteropfer im Februar 2023 Strafanzeige gegen etwa dreißig Beamte der staatlichen Polizeikräfte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Repressalien, Mord und Folter während der Franco-Diktatur.

Dankbar für Aufmerksamkeit

straffrei4Pacheco versicherte, er habe sich vor Gericht ruhig gefühlt, weil die Richterin "sehr aufgeschlossen" gewesen sei. "Und das gibt einem, ob man will oder nicht, viel Ruhe und Sicherheit, wenn man sich an diese Ereignisse erinnert", sagte er und betonte, dass er davon ausgehe, dass das Verfahren "weitergehen wird", weil er "sowohl den Staatsanwalt als auch die Richterin sehr engagiert und interessiert“ wahrgenommen hat, in der Sache voranzukommen. Seiner Ansicht nach besteht der nächste Schritt in dem Fall darin, dass die Ermittlerin die Polizeibeamten, die er in seiner Klage genannt hat, als Zeugen vorlädt: Álvaro Valdemoro, José Luis Montero Muñoz, José María González Reglero und José Manuel Villarejo.

Bereits im vergangenen Mai 2023, als die Klage zur Bearbeitung zugelassen wurde, stimmte die Richterin zu, das Nationale Geschichts-Archiv zu bitten, das Material zum dokumentarischen Hintergrund des Falles an das Gericht zu übermitteln. Gleichzeitig sollte die Generaldirektion der Polizei die vollständige Polizeiakte des Klägers und die Angaben zu den vier genannten Polizeibeamten übermitteln.

Ein Ereignis, das Schule machen soll

Nach der gerichtlichen Zeugenaussage gaben die Menschenrechts-Organisationen Ceaqua, Amnesty International, Iridia und Sira eine Erklärung ab, in der "die Justiz, die Legislative und die Exekutive sowie die Staatsanwaltschaft aufgefordert wurden, alle notwendigen und unerlässlichen Maßnahmen zu ergreifen, damit sich dieses außergewöhnliche Ereignis einen alltäglichen Charakter haben kann. Kurz gesagt, die bisherige Politik der franquistischen Straflosigkeit ein für alle Mal zu beenden".

Darüber wurden die politischen Parteien darauf hingewiesen, dass "die bisher verabschiedeten gesetzlichen Maßnahmen das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und die Garantie der Nicht-Wiederholung für die Opfer der Franco-Verbrechen nicht vollständig und wirksam gewährleisten. Es bedürfe strenger, rigoroser und weitaus ehrgeizigerer gesetzgeberischer Maßnahmen, die stets im Einklang mit den Forderungen des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen stehen sollten, um die Politik des Vergessens und der Straflosigkeit umzukehren, die seit der Verkündung der spanischen Verfassung vor fast 45 Jahren aufrechterhalten wird".

Abschließend kündigen die Menschenrechts-Organisationen an, dass "wir weiterhin Beschwerden bei den spanischen Gerichten und Tribunalen einreichen und das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantien der Nichtwiederholung einfordern werden, bis wir die Mauer der Straflosigkeit durchbrechen, die die Untersuchung der Verbrechen Francos verhindert".

ANMERKUNGEN:

(1) Podemos: “Zehn Jahre Podemos – Spaltung, Verrat und Polit-Machos“, Baskultur.info, 2022-03-26 (LINK)

(2) FRAP: Die Frente Revolucionario Antifascista y Patriota (FRAP) war eine bewaffnete Organisation von kommunistischem, antifranquistischem und republikanischem Charakter, von einer mehrheitlich marxistisch-leninistischen Ideologie getragen. Sie entstand Anfang der 1970er Jahre, am Ende der Franco-Diktatur. Ihre Hauptziele waren die Niederlage der Diktatur durch einen Bruch mit derselben, die Vertreibung des US-Imperialismus aus dem spanischen Staat und die Errichtung einer sozialistischen und föderalen Volksrepublik durch eine Aufstandsbewegung. Sie wurde gegründet bei einer Versammlung im Jahr 1971, kurz nach dem Burgos-Prozess, obwohl sie erst 1973 formell organisiert wurde. In jenem Jahr, nach der Ermordung eines Inspektors der Geheimpolizei bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, erklärte das Pro-FRAP-Komitee, dass gewaltsame Aktionen Teil seiner Strategie des Widerstands und der Antwort auf die Diktatur seien. (Wikipedia)

(3) “Primera causa de torturas en el franquismo: Empezamos a romper el muro de la impunidad” (Erstes Verfahren gegen Folter im Franquismus: Wir beginnen die Mauer der Straflosigkeit zu durchbrechen), Tageszeitung Gara, 2023-09-15 (LINK)

(4) Die “Argentinischer Klage“ ist ein Versuch von Franquismus-Opfern und Menschenrechts-Organisationen, mit einer Klage in Argentinien den spanischen Staat zur Aufgabe seiner Aufarbeitungs-Blockade zu zwingen, und – wie die UNO dies vorschlägt – Verfahren wegen Kriegsverbrechen, Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzulassen. Hintergrund ist, dass Menschenrechts-Verbrechen nicht nur in dem Land eingeklagt werden können, in dem sie begangen wurden, sondern in jedem Land, das diese Rechte anerkennt.

ABBILDUNGEN:

(1) Aufarbeitung (twitter)

(2) Aufarbeitung (twitter)

(3) Aufarbeitung (ceaqua)

(4) Aufarbeitung (iridia)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-09-16)

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