Im Unruhestand
Im Baskenland und in Teilen des spanischen Staates mobilisiert eine breite Basisbewegung von Rentner*innen gegen den Rückbau des öffentlichen Altersversorgungs-Systems. Immer mehr Menschen stehen vor der täglichen Herausforderung, mit einer Rente unter dem Existenzminimum über die Runden kommen zu müssen. Gefordert wird deshalb eine Mindestrente von 1.080 Euro, bzw. 1200 in Pflegefällen. Dafür sind die Euskal Herriko Pentsionistak seit 4 Jahren auf der Straße, zusammen mit anderen sozialen Bewegungen.
Euskal Herriko Pentsionistak nennt sich die Bewegung von Rentnerinnen und Rentners im Baskenland, die seit Jahren jede Woche auf der Straße sind, um würde Renten zu fordern. Vor allem für die immer benachteiligten Frauen.
Den Lebensabend im warmen Süden an der spanischen Costa del Sol zu verbringen, ist für viele Angehörige der Mittelklasse Mittel- und Nordeuropas mehr als eine schöne Idee. Ob eigene Finca oder Senioren-Wohngemeinschaft. In einschlägigen Foren und auf den Seiten von Immobilien-Vermittlern präsentiert sich ein lebhafter Markt rund um die Altersruhe an Spaniens Gestaden.
Der wärmende Anorak sei bereits weit mehr als zehn Jahre alt, berichtet die Rentnerin Josefa Serrano aus Madrid im Gespräch mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst. Strümpfe und Unterwäsche kaufe sie bei »Fliegenden Händlern« auf dem Wühltisch. Sie beziehe eine Rente von 800 Euro. Damit läge sie noch deutlich über dem Durchschnitt. Doch zur Deckung ihres täglichen Lebensbedarfs, so Serrano, reiche dies schon lange nicht mehr.
Altersarmut als Massenphänomen sei im spanischen Staat mittlerweile zur bitteren Realität geworden, berichtet Andrea Uña, eine der Sprecher*innen der Movimiento de Pensionistas Bizkaia (MPB) am Rande einer Konferenz der Baskischen Rentner*innen-Bewegung im November 2021. Dabei trage diese im spanischen Staat eindeutig ein weibliches Gesicht. Laut Uña liege dies nicht daran, dass Frauen nicht gearbeitet hätten. Im Gegenteil, viele Frauen hätten hart gearbeitet. Oft in prekären und schlecht bezahlten Jobs, zu denen viele von ihnen noch zusätzlich häusliche Sorgearbeit wie Kindererziehung und Pflege von Angehörigen geleistet hätten.
Frauenschicksale
Sie hätten ihre Arbeit deshalb – oft unfreiwillig – teilweise oder dauerhaft aufgeben müssen, was für diese Frauen heute zu einer Kürzung ihrer Rentenbezüge führe, so die MPB-Sprecherin weiter. Daher sei eine ihrer zentralen Forderungen eine zum Leben ausreichende Mindestrente von 1.080 Euro, was insbesondere eine erhebliche Verbesserung der “Witwenrenten“ darstellen würde. Allein in der Baskischen Autonomen Gemeinschaft (Region Euskadi) beziehen fast 100.000 verwitwete Frauen ein solches Renten-Einkommen. Ein Viertel von ihnen erhält weniger als 700 Euro. Zudem fordert die MPB eine grundlegende Veränderung des Rentenberechnungs-Systems bei der andere Faktoren wie beispielsweise häusliche Sorgearbeit anerkannt und mit in die Berechnung einbezogen werden.
Zugleich sehen viele Aktivist*innen das spanische Rentensystem kurz vor dem Kollaps. Einerseits hatten Regierungen verschiedener politischer Couleur im Zeitraum von mehreren Jahrzehnten über 500 Milliarden Euro aus der staatlichen Rentenkasse entnommen und “zweckentfremdet“. Im Jahr 2000 begann die damalige spanische Regierung mit Überschüssen aus der Sozialversicherung einen kapitalgedeckten Reservefonds aufzubauen. In 2012 verabschiedete die Regierung sogar ein Gesetz, das es ihr erlaubt, den Fond anzuzapfen.
Andererseits zeichnen sich auch in Spanien massive demographische Veränderungen ab. Das Kippen der Bevölkerungspyramide und der bevorstehende Renteneintritt der sogenannten Baby-Boom-Generation belasten das Rentensystem. Hinzu kommt eine zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen in Folge der Arbeitsmarkt-Reformen der konservativen Rajoy-Administration in den 2010er Jahren. Das Lohnniveau sank und die nach Einkommen gestaffelten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung fielen entsprechend niedriger aus.
Nun steht die amtierende Minderheitsregierung aus PSOE und Podemos unter der Ägide von Ministerpräsident Sanchez seit Beginn ihrer Legislatur vor der Aufgabe, eine erneute Reform des Rentensystems durchzuführen. Dabei setzt der zuständige Minister José Luis Escrivá (parteilos) auf eine Erhöhung des Renten-Eintrittsalters, auf eine nochmalige Verringerung der Rentenbezüge sowie auf eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge. Bei ihren Reform-Bemühungen steht die amtierende Regierung unter massiven Druck von zwei Seiten. Der kommt einerseits vom internationalen Finanzkapital und ist mit der mit der Erfüllung der Auflagen verbunden, die an die Genehmigung der Gelder aus dem Wiederaufbau-Fonds der EU infolge der Corona-Pandemie geknüpft waren. Und andererseits kommt Druck von der Bewegung der Rentner*innen.
Von den Rathaus-Treppen nach Madrid
Was 2018 als lokaler politischer Proteste in Form wöchentlicher Montags-Kundgebungen vor dem Rathaus der baskischen Stadt Bilbao begann, hat sich mittlerweile zu einer Basisbewegung in vielen Orten des Staates ausgebreitet. Die lokalen Gruppen haben sich im Laufe der Zeit in einem Dachverband zusammengeschlossen, der Coordinadora Estatal por la Defensa del Sistema Público de Pensiones (COESPE), das Landesweite Koordinierungsbündnis zum Schutz des öffentlichen Rentensystems. Das Bündnis fordert die Verteidigung des öffentlichen Sicherungs-Systems gegen die zunehmende Privatisierung, eine zum Leben ausreichende Mindestrente von 1.080 Euro sowie die Überwindung geschlechtsspezifischer Unterschiede, sowohl bei den Renten als auch bei den Gehältern.
Seit ihrem Bestehen hat die Bewegung eine Vielzahl von lokalen und überregionalen Kampagnen organisiert. So mobilisierte das Bündnis Mitte November vergangenen Jahres in unzähligen Städten und Regionen des Landes mehrere zehntausend Menschen zum Protest gegen die Rentenpläne der Sanchez-Administration. Unterstützt wird die Bewegung durch eine große Breite von Arbeiter*innen-Organisationen, von der linkssozialistischen baskischen Gewerkschaft LAB (Langile Abertzaleen Batzordeak) über die ehemals kommunistisch geprägten CCOO (Comisiones Obreras) bis hin zur sozialdemokratischen UGT (Unión General de Trabajadores). Im Baskenland ist die Rentner*innen-Bewegung fester Bestandteil der linken Unabhängigkeits-Bewegung. So bezogen deren Organisationen die politischen Forderungen der “Pensionistas“ etwa in ihre Mobilisierung zu einem eintägigen Generalstreik der abertzalen Gewerkschaften LAB und ELA im Januar 2020 mit ein, sowie bei der Massendemonstration “Lortu Arte“ (Bis es erreicht ist): Für ein Baskenland der Freien und Gleichen“ im November 2021.
Mittlerweile hat die Bewegung ihre politischen Forderungen um weitere Aspekte der sozialen Daseinsvorsorge ergänzt. So riefen die baskischen Sektionen am 22. Januar mit vielen anderen Organisationen zu Demonstrationen gegen den drohenden Zusammenbruch des baskischen Gesundheitsdienstes “Osakidetza“ auf und unterstützen die Mobilisierungen gegen die geplante Arbeitsmarkt-Reform der PSOE-Podemos-Regierung. Im ländlichen Raum wurde gegen den Rückbau der sozialen Infrastruktur, wie etwa die Schließung von Bankfilialen und Lebensmittelmärkten, mobil gemacht.
Europa
Eine Lösung der Rentenfrage, so die Überzeugung vieler Bewegungs-Aktivist*innen, könne nur auf europäischer Ebene Erfolg haben. So organisierte das Bündnis im Herbst letzten Jahres unter Pandemie-Bedingungen eine Mobilisierung nach Brüssel, um sich dort einerseits Gehör von politischen Entscheidungsträger*innen zu verschaffen und andererseits eine internationale Vernetzung von Rentner*innen zu initiieren. "Es ist ein symbolischer Akt, zum Europäischen Parlament zu gehen, um zu zeigen, dass wir die Gesetzgebung der Europäischen Kommission zu den paneuropäischen Pensionsplänen ablehnen. Diese zielen darauf ab, öffentliche Pensionen in private umzuwandeln und somit europäische Banken zu begünstigen, ohne die öffentlichen Pensionen zu garantieren", sagte Ramón Franquesa, Sprecher von COESPE in Katalonien und Professor für Wirtschafts-Wissenschaften an der Universität von Barcelona in den Sozialen Medien.
Nach vier Jahren ihres Bestehens hat die Bewegung der Rentner*innen erreicht, dass eine Debatte über die Verteidigung des öffentlichen Rentensystems aus dem politischen und medialen Alltagsdiskurs nicht mehr wegzudenken ist. Sie konnte die Politik dazu bringen, ein öffentliches Eingeständnis über die unzulässige Verwendung von Geldern aus dem Pensionsfonds zu machen und sich symbolisch dazu zu verpflichten, derlei Veruntreuung in Zukunft zu verhindern. Schließlich konnte die Bewegung den Druck so weit erhöhen, dass die spanische Regierung gesetzliche Regelungen zurücknehmen musste bzw. erst gar nicht der Umsetzung in Erwägung ziehen konnte, wie zum Beispiel gewisse Faktoren bei der Rentenberechnung.
Zudem ist eine breite Bewegung entstanden, die sich als Teil eines emanzipatorischen, solidarischen und generationen-übergreifenden Projekts begreift. Eine Bewegung, von deren Perspektiven die Linke im deutschsprachigen Raum lernen kann, denn die hiesige Gesellschaft wird mit Blick auf den geplanten Umbau des Rentensystems (Stichwort Aktienrente) vor Herausforderungen stehen.
Nicht nur im spanischen Staat
Auch in der Bundesrepublik verfolgten unterschiedliche Regierungen in den letzten Jahrzehnten ähnliche Pläne wie die spanischen Regierungen. Aus Geldern der öffentlichen Rentenkasse wurden Gelder unter anderem zur Finanzierung der sogenannten “deutschen Wiedervereinigung“ entnommen, die Lebensarbeitszeit wurde angehoben und die Privatisierung des Rentensystems spätestens seit der Ära Schröder vorangetrieben. Eine Abkehr von diesem Paradigma wird es auch unter der neu gewählten Scholz-Administration nicht geben.
So wissen immer mehr Rentner*innen auch in der BRD nicht mehr, wie sie von ihren Altersbezügen die explodierenden Wohn- und Energiekosten finanzieren sollen. Im ländlichen Raum ist der Rückbau der (sozialen) Infrastruktur in vollem Gange. Durch die Schließung von immer mehr Arztpraxen werden die Wege nicht nur für ältere Menschen immer weiter und beschwerlicher. Ein Diskurs über die öffentliche Altersvorsorge scheint in der BRD ausschließlich in den Strukturen von Sozialverbänden und Gewerkschaften sowie in der Partei “Die Linke“ eine größere Rolle zu spielen. In den sozialen Bewegungen spielt dieses Thema derzeit jedoch kaum eine Rolle. Ein Blick auf die iberische Halbinsel würde lohnen.
ANMERKUNGEN:
(1) “Im Unruhezustand – Im spanischen Staat mobilisiert eine breite Basisbewegung von Rentner*innen gegen den Rückbau des öffentlichen Altersversorgungs-Systems“, Analyse und Kritik, Jan Tillmanns, 2022-Februar.
ABBILDUNGEN:
(*) Rentner*innen (FAT)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-03-04)