40 Jahre ohne Anerkennung als Opfer
Am 11. November 1979 schoss die Guardia Civil in einem kleinen navarrischen Ort im Sakana-Tal auf ein Fahrzeug mit fünf Insassen. Einer davon starb auf dem Weg ins Krankenhaus: Mikel Arregi. Er hatte auf einer linksnationalistischen Wahlliste kandidiert und war im Sakana-Dorf Lakuntza als Stadtrat gewählt worden. Die Guardia Civil behauptete damals, das Fahrzeug habe eine Polizeisperre ignoriert. Augenzeugen berichteten das genaue Gegenteil. Eine Aufklärung des Falles scheiterte an den Behörden.
Der linke Stadtrat Mikel Arregi wurde 1979 zu einem Opfer staatlicher Gewalt. Seither sind alle Versuche gescheitert, ihn als Opfer der Guardia Civil offiziell anzuerkennen. Dafür sorgen die post- und neo-franquistischen Kräfte in Navarra und im spanischen Staat.
Ein Kugelhagel, ein großes Getöse. Kaputte Fenster und ein zerstörtes Leben. Mikel Arregi war 32 Jahre alt, als er mit vier Freunden zusammen in einem Auto fuhr und plötzlich alles zu Ende war. Am 11. November 1979 – vor genau 40 Jahren – schossen Beamte der gefürchteten paramilitärischen Guardia-Civil-Polizei einen Hagel von Kugeln aus einer Maschinenpistole auf das Fahrzeug mit fünf Personen. Darunter Mikel Arregi, Stadtrat des Ortes Lakuntza über eine Wahlkoalition, die der linksnationalistischen Plattform Herri Batasuna nahestand (1).
“Ein gewaltvolles Wochenende” titelte in jenem Herbst 1979 die linke Wochenschrift “Punto y Hora“ (Punkt und Stunde). Ein gewisser Agustín Zubillaga schilderte die Ereignisse, bei den Mikel Arregi in der Nähe der Kleinstadt Etxarri-Aranatz durch eine Polizeikugel starb. Im Text wurde hervorgehoben, dass sich alle Augenzeugen darin einig waren, dass es zum Zeitpunkt der Schüsse keine Fahrzeugkontrolle der Guardia Civil gegeben hatte. Dies bestätigten auch die übrigen vier Wageninsassen, die mit Arregi im Auto fuhren, als der Kugelhagel im Fahrzeug einschlug. (2)
“Eine Kugel flog in die Küche eines Nachbarn, zwei weitere stoppten einen Lastwagen, der in der Nähe stand“, erinnert sich der Augenzeuge Josu Imaz. Er ist Mitglied der Erinnerungs-Plattform “Mikel Arregi Gogoan” (M.A. Erinnerung), die zum 40. Jahrestag des Polizeimords verschiedene Gedenk-Veranstaltungen organisiert.
Mit der offiziellen Version der Zivilregierung in Navarra sollten die Urheber der Schüsse verschont werden. In der offiziellen Verlautbarung, die nach der Erschießung bekannt gegeben wurde, heißt es, das Fahrzeug der fünf Personen habe den Befehl zum Anhalten ignoriert und sei weitergefahren. “Daraufhin hat einer der Polizisten zwei kurze Gewehrsalven in Richtung der Reifen abgefeuert. Weil das Auto immer noch weiterfuhr, haben zwei Guardia Civiles, die 30 Meter entfernt standen, erneut geschossen“.
“Nicht schießen, wir sind verletzt! Rufen Sie einen Rettungswagen!“ rief der Fahrer des beschossenen Fahrzeugs, Javier Andueza, als sich die Polizeibeamten näherten. Arregi wurde ins Krankenhaus gebracht, doch es war zu spät. Eine der Kugeln hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Es kam zu verschiedenen Mobilisierungen gegen die Polizei-Brutalität, die in jenen Jahren streikende Arbeiter ebenso betraf wie demonstrierende Personen. Mehr als zweihundert davon bezahlten die Rücksichtlosigkeit der franquistischen Polizei mit dem Leben. Denn auch wenn Franco schon vier Jahre tot war und im Staat mittlerweile eine demokratische Verfassung beschlossen war, hatte sich im Inneren der Guardia Civil überhaupt nichts geändert. Sie blieb die tragende Säule der Repression. Dazu gehörten Tote und Verletzte.
Verfahrens-Farce
Freunde und Familienangehörige von Mikel Arregi ließen dennoch nicht locker. Sie sorgten für die Bildung einer Untersuchungs-Kommission, die schließlich tatsächlich zu einem Verfahren gegen die Verantwortlichen für die Schüsse führten. Zwei Jahre später, im September 1981 (mittlerweile hatte sich in Spanien der Versuch eines Militärputsches abgespielt, an dem auch die Guardia Civil beteiligt war) verurteilte ein Gericht in Navarra den Guardia-Civil-Beamten Ginés Cecilia Rico als Todesschützen. Wegen “eines einfachen Delikts der Unvorsichtigkeit und Verstoßes gegen die Dienstvorschriften mit tödlichem Ausgang“, so der Wortlaut des haarsträubenden Urteils. Die Strafe bestand aus zwei Monaten Arrest, für das zerschossene Auto sollte der Polizist 55.449 Pesetas bezahlen. Dazu kam eine Entschädigung in Höhe von 2 Millionen Pesetas für die Familie des Opfers. “Wir haben nie erfahren, was aus dem verurteilten Guardia Civil geworden ist“, sagt Imaz, der das damalige Urteil als lachhaft bezeichnet.
In den damaligen Jahren der Transición, des sogenannten “demokratischen Übergangs“ von der franquistischen Diktatur zu einer verfassungsmäßigen Demokratie starben viele Menschen beim Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Staat grundlegend zu ändern und die vorausgegangene faschistische Diktatur aufzuarbeiten und zu überwinden. In Vitoria-Gasteiz, der späteren Hauptstadt der Autonomen Region Baskenland schoss die Nationalpolizei am 3. März 1976 vor einer Kirche in eine Arbeiterversammlung und tötete fünf Personen. In Madrid-Atocha ermordete ein Kommando aus Polizisten und Neonazis am 24. Januar 1977 sechs Gewerkschafts-Anwälte in ihrem Büro.
Ein deutsches Opfer
Auch eine Deutsche wurde Opfer des Polizeiterrors: Maria Alexandra Lecket starb am 27. April 1975 auf der Autobahn bei Donostia (San Sebastián) bei einer Polizeikontrolle, an der sie angeblich nicht angehalten hatte. Detaillierte Auskunft über diese Todes- oder Mordfälle gibt eine Webseite mit dem Titel “Archivo de la Transición“ unter dem Stichwort “Muertos en la transición española“ (Tote in der spanischen Transition) (3). Die meisten der Polizeitäter wurden nie belangt. Geschweige denn die verantwortlichen Politiker wie Fraga Iribarne oder der noch lebende Martín Villa. Und wenn sie verurteilt wurden, konnten sie (wie Barrionuevo oder Galindo) mit einer schnellen Begnadigung und/oder Beförderung rechnen. Dazu kamen Hunderte von grundlos Festgenommenen, die gefoltert und anschließend wieder freigelassen wurden.
Erinnerungs-Denkmal
Die Geschichte von Mikel Arregi ist noch nicht zu Ende. “In Etxarri-Aranatz wurde ihm zu Ehren ein Denkmal aufgestellt. Bereits im Februar 1981, noch vor dem Prozess gegen den Todesschützen, wurde das Fundament dieses Monuments mit 100 Gramm Flüssigsprengstoff zerstört. Im Oktober desselben Jahres (nach dem Prozess) wurde das Denkmal mit einer kräftigen Zugmaschine komplett aus dem Boden gerissen. Im Mai 1983 wurde es wieder aufgestellt und zwei Wochen später mit 1,5 Kilo Goma-2-Sprengstoff erneut gesprengt“, erinnert sich Imaz. Bei diesem letzten Anschlag gingen an den anliegenden Häusern jede Menge Fenster kaputt.
Den Bombenanschlägen folgte ein institutionelles Vergessen. Während der langen Regierungs-Etappe der ultrakonservativen UPN (rechte spanisch-orientierte Regionalisten) in der Region Navarra tauchte der Name Arregi nie auf, wenn es um Ehrungen oder öffentliche Würdigung ging. In den 40 Jahren nach dem Tod Mikel Arregis sind alle Versuche gescheitert, ihm als Opfer von staatlicher Gewalt eine Anerkennung zukommen zu lassen. Dafür haben neben den navarrischen Regionalisten die postfranquistische PP von Aznar und Rajoy und die neoliberale Partei Ciudadanos gesorgt. Mit der neuen neofranquistischen Abspaltung Vox hat das ultranationalistische spanische Lager eine neue Dynamik erlebt.
Regierungswechsel
Erst der Regierungswechsel im Jahr 2015 ermöglichte den Versuch, auch bei Opfern von ultrarechten Gruppen und Polizeibeamten für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu sorgen. Eine sozial-liberale Vier-Parteien-Regierung mit der Präsidentin Uxue Barkos an der Spitze sorgte für diverse Änderungen in der navarrischen Politik, angefangen bei der Euskara-Förderung bis hin zu einer Neuorientierung bei der Aufarbeitung des Franquismus (4). Die neue Navarra-Regierung verabschiedete (wie zwei Jahre vorher die baskische Regierung) ein Gesetz, das den eben genannten Opfern eine Wiedergutmachung zukommen lassen sollte. Der Fall von Mikel Arregi war darin enthalten.
Doch wurde dieses Gesetz, das im Rahmen der Aufarbeitungs- und Versöhnungsinitiativen nach dem Ende von ETA beschlossen worden war, auf Klage der spanischen Rechten vom spanischen Verfassungsgericht im Juli 2018 für nicht verfassungs-konform erklärt und annulliert. Ein Fall von hunderten, der deutlich machte, wie wenig reale Gesetzes-Kompetenzen die vielgerühmten spanischen Autonomie-Statute wirklich beinhalten (5). Die nach einer langen Phase von korrupter und reaktionärer antibaskischer Politik “Regierung des Wechsels“ genannte Koalition versuchte es im März 2019 ein zweites Mal. Erneut wurde das Gesetzprojekt mit dem Widerstand der Ultranationalen aus Madrid – PP, Ciudadanos und Vox – konfrontiert. Wieder zogen sie vor das Verfassungsgericht, dessen Richter sich bisher nicht geäußert haben.
”Anerkennung und Wiedergutmachung”
Vor dem Hintergrund der Geschichte des Mordes an Mikel Arregi, der Geschichte des ihm gewidmeten Monuments und der parlamentarischen Initiativen der Koalitionsregierung hat der Stadtrat der kleinen Gemeinde Lakuntza im November 2017 eine Erklärung verabschiedet mit folgendem Wortlaut: “Bis heute hat Mikel Arregi als Opfer (von Polizeigewalt) keine offizielle Anerkennung erhalten. Aus diesem Grund wird die Gemeindeverwaltung Maßnahmen beschließen, die der Versöhnung und der Wiedergutmachung dienen“. Dies war auch Leitmotiv der Gedenkveranstaltung am 40. Jahrestag des Mordes an Mikel Arregi. Am Monument zu seiner Erinnerung wurden Blumen niedergelegt. Es ist derselbe Gedenkstein, dem weder Vergessen noch Sprengstoff etwas anhaben konnten.
ANMERKUNGEN:
(1) Herri Batasuna (Volkseinheit) war seit den späten 1970er Jahren eine linksnationalistische “abertzale“ (patriotische) Wahlkoalition, die ETA nahestand. Sie wurde 2001 ersetzt durch Batasuna, welche 2003 mittels eines extra dafür verabschiedeten spanischen Parteiengesetzes illegalisiert wurde. Durch diese Illegalisierung verloren zwischen 20 und 30% der baskischen Bevölkerung ihre Wahlalternative.
(2) Information aus dem Artikel “Cuarenta años del asesinato de Mikel Arregi, la víctima que PP, Ciudadanos y Vox no quieren que sea reconocida” (40 Jahre nach dem Mord an Mikel Arregi, ein Opfer, das weder PP, noch Ciudadanos und Vox anerkennen wollen), Internet-Tageszeitung Publico vom 2019-11-10 (LINK
https://www.publico.es/politica/navarra-cuarenta-anos-asesinato-mikel-arregi-victima-pp-ciudadanos-vox-no-quieren-sea-reconocida.html
(3) Die deutsch-stämmige Maria Alexandra Lecket wurde 1975 in der Nähe von San Sebastián Opfer von Kugeln der Guardia Civil, die sie an einer Zahlstelle der Autobahn möglicherweise mit einem ETA-Kommando verwechselt hatte. (LINK)
https://archivodelatransicion.es/muertos-en-la-transicion-espanola/victimas-policiales
(4) Uxue Barkos war die Ministerpräsidentin einer sozial-liberalen Vierer-Koalition in der Region Navarra, die nach 35 Jahren Autonomie zum ersten Mal eine politische Annäherung an die Region Baskenland praktizierte. Die Koalition bestand aus nationalistischen Christdemokraten, der Podemos-Partei und der baskischen Linksvereinigung EH Bildu. Vorausgegangen waren mehr als 30 Jahre lang Regierungen von spanisch-orientierten, reaktionären und korrupten Kräften, die von navarrischen Sozialdemokraten (PSN) und postfranquistischen Regionalisten (UPN) gestellt worden waren. Einer der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten endete wegen Korruption im Gefängnis.
(5) Autonomie-Statut: Nach dem Tod des Massenmörders und Staatschefs Franco wurde in Spanien eine Verfassung ausgehandelt. Teil davon waren Autonomie-Statute für die sogenannten “Historischen Nationen“ innerhalb des Staates: Baskenland, Galizien, Katalonien. Diese Statute waren ein Kompromiss, um den jeweiligen regionalen Unabhängigkeits-Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Baskenland gelang dies wegen der fortwährenden Aktivität von ETA nie. In Katalonien gelingt es seit der gescheiterten Erneuerung des Autonomie-Statuts vor 10 Jahren nicht mehr. Wie ernst die spanischen Regierungen diese von der Verfassung abgedeckten Verträge mit den Regionen nehmen, zeigt die Tatsache, dass 33 Artikel des baskischen Autonomie-Statuts auch 40 Jahre nach seiner Ratifikation nicht erfüllt sind, das heißt, 33 der baskischen Regierung versprochene Kompetenzen wurden nie übertragen.
ABBILDUNGEN:
(1) Gedenken an Mikel Arregi (Noticias de Navarra)
(2) Gedenken an Mikel Arregi (Naiz)
(3) Denkmal Mikel Arregi (Noticias de Navarra)
(4) Mikel Arregi
(5) Beerdigung Mikel Arregi (Euskal Memoria Stiftung)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2019-11-14)