Gelockerte Ausgangssperre
Die Maßnahmen innerhalb der Coronavirus-Pandemie sind im Baskenland wie im Zentralstaat in eine weitere Lockerungs-Phase getreten. Nach den Arbeiterinnen und den Kindern dürfen nun auch alle anderen nicht-aktiven Bevölkerungs-Gruppen wieder auf die Straße, alles geordnet, nach Altersgruppen und in Zeitfenstern. Die Ansteckungs- und Todeszahlen gehen langsam zurück, Wissenschaftlerinnen warnen vor der zweiten Welle, die angesichts der Entschärfung der Vorsichts-Maßnahmen wahrscheinlicher wird.
Die zehnte Woche der Coronavirus-Pandemie im Baskenland steht unter dem Zeichen weiterer Lockerungs-Maßnahmen. Der Alarm-Zustand bleibt bestehen, die Bevölkerung darf unter genau definierten Bedingungen nach Zeitzonen wieder auf die Straße.
(2020-05-03)
50. Tag Alarm – 10. Woche C19
ABRÜSTUNG TROTZ COVID
Schönen guten Morgen zu einer neuen Woche mit dem Coronavirus, die zehnte, wenn meine Rechnungsfähigkeiten nicht allzu stark gelitten haben. Ich gebe zu, dass ich mich manchmal in den Wochentagen irre, alles ist so gleich. 50 Tage kommen mir im Rückblick endlos lang vor, dennoch waren sie enorm kurz, unterhaltsam, voller Arbeit. Seit gestern werden die Tage kürzer, zumindest die Zeit, die wir in unseren vier Wänden verbringen müssen. Denn Abrüstung ist angesagt. Wahrscheinlich nennt das außer mir niemand Abrüstung, eher Lockerung, Entspannung, Entwarnung, was-weiß-ich. Für mich ist es Abrüstung. Erst wurden wir von einem aggressiven Virus angegriffen; dann wurden aus Altersheimen Konzentrations- und Vernichtungslager; wir wurden mit Polizei und Militär überschüttet, kontrolliert, geschlagen, bis wir auf der Straße ein schlechtes Gewissen bekamen, aus dem schlichten Grund, überhaupt auf der Straße zu sein.
Nun kommt die Abrüstung. Wir dürfen wieder raus. Nicht wie wir vielleicht gerne wollten, aber immerhin eine Stunde mehr als bisher. Ohne Alibi, ohne Hunde, Einkäufe oder Kinder. Einfach so. Mit Körper-Abstand, nicht mehr als einen Kilometer von zu Hause entfernt. Und nicht alle auf einmal. Morgens von 6 bis 10 und von 20 bis 23 Uhr sind die Joggerinnen und Spaziergängerinnen dran. Die Stunden von 10 bis 12 und von 19 bis 20 Uhr gelten den Über-70-Jährigen, dazwischen der “Streifen“ für Kinder mit einem Elternteil, von 12 bis 19 Uhr. Wir nähern uns somit der NN. In diesem Fall keine Höhenangabe wie anno dazumal, sondern die “Neue Normalität“, einer dieser modernen Euphemismen, die mehr verschleiern, als sie denn aussagen.
Der erste Ausgang war – wie zu erwarten – typisch baskisch: Alle zu gleicher Zeit und am selben Ort. Weil wir uns in einer Stadt befinden waren es die immergleichen Lieblingsorte. In Regierungskreisen schrillten sofort die Alarmglocken, denn Mindestabstand war ein Fremdwort. Es ging zu wie bei einem Volksfest. Aber alles legal. Die Polizei hatte (in diesem Fall) die Anweisung, nur hinzuweisen und nicht zu sanktionieren, das wäre ohnehin in einer kompletten Überforderung ausgeartet. Taktisch wäre der Montag als Premiere schlauer gewesen, so bekam der Corona nochmal eine Chance, mit biblischen Anspielungen: Du sollst deine Feinde lieben. So wurde der Premieren-Spaziergang zum Spiegelbild des baskischen Krisen-Managements: katastrophal. Weil ich das ohne allzu viel Hellseherei bereits vorher wusste, wählte ich eine besonders harte Strategie: erstens ging ich bergauf; zweitens über eine Schnellstraßen-Brücke, die erst vor Kurzem für Fußgänger geöffnet wurde, von der also wenige wussten; drittens über einen “konfliktiven Armen-Stadtteil“ wieder zurück, auch da hatte ich wenig Konkurrenz zu erwarten. Sechs Richtige! Wir freuen uns über das neue Leben, auf die neue Normalität und auf die zweite Welle! Olatz
(2020-05-04)
51. Tag Alarm – 10. Woche C19
SOZIALE KONTROLLE
Für soziale Kontrolle sind Polizei und Überwachungskameras nicht notwendig. Das können wir schon selbst. Jeder für sich und Gott gegen alle. Es soll Leute geben, die in Zeiten des Coronavirus im Einfamilienhaus mit Terrasse, Garten und vielleicht noch kleinem Swimmingpool leben. Ich schätze, dass in einem Kilometer Entfernung von meiner Wohnung niemand in solchem Luxus schwelgt. Schicksal der Arbeiterviertel. Wir leben in Blocks, mit acht, zehn, zwölf oder mehr Parteien. Lärmstörungen gab es immer, dennoch war der Zeitrhythmus der Einzelnen entzerrt. Nun sind wir alle zu gleicher Zeit zu Hause, die Pensionärinnen, die Arbeitslosen, die Kleinselbständigen und die arbeitslos Gewordenen. Das Tür-an-Tür-Leben erfordert allerhöchste Rücksicht, Reduzierung der Lebensklänge. Empathie. Dazu sind nicht alle in der Lage.
Das Fenster meines Arbeitszimmers geht auf eine Sackgasse, gegenüber liegt der Eingang zum Nachbarhaus, zwölf Wohnungen mit Familien und Einzelpersonen. Trotz häufigen Wechsels kenne ich elf davon, zu fünf pflege ich freundschaftliche Beziehungen – interessanterweise kriege ich nicht mit, was bei mir im Haus passiert (außer links, rechts und oben), weil ich keinen optischen Kontakt habe. Meine bevorzugte Aussicht wird zur perfekten sozialen Kontrolle. Ich sehe die Lieferanten, die von Pizza, über Lebensmittel bis zu Kleinmöbeln alles anliefern, an manchen Tagen sind es zehn Lieferungen (abgesehen, von denen, die ich verpasse). Amazon, Glovo, Just Eat und Telepizza machen das Geschäft ihres Lebens, die Rider sicher nicht.
Das Fernsehprogramm der Nachbarin mit Hund und Freund entgeht mir nicht. Tagsüber steht der Köter auf dem Sofa und bellt mich durchs Fenster an, wenn er mich sieht. Ich verfolge die Hundeausgänge und die Mengen Müll, die der Latino-Nachbar mit Familie produziert, täglich ein gefüllter Sack in die gelbe Tonne, Flaschen und Biomüll sind Fehlanzeige. Ich nehme zur Kenntnis, wenn die Senegalesen aus dem Dritten zur Moschee gehen, bisher lebten sie vom illegalen Verkauf von Regenschirmen und Klamotten auf der Straße. Wäre interessant, wie sie den Verlust meistern, aber sie scheuen den Kontakt. Die Nachbarn von nebenan kennen die Straße besser als ihr Wohnzimmer, rauchen, trinken, reden, kleine Deals. Gegen solche Gewohnheiten kommt kein Coronavirus an. Sie stellen sich auf der Straße neben einen Emma-Laden, als würden sie Schlange stehen. Rauchen, trinken, reden, kleine Deals. Den halben Tag. Bis die Polizei kam. Danach trafen sie sich vor der Haustür. Bis die Polizei kam.
Die Blocks, in denen wir leben, egal ob 110 oder 12 Jahre alt, haben eines gemeinsam: Wenn die Nachbarin kräftig hustet, fällst du aus dem Bett. Wände existieren nur optisch, akustisch stehst du immer im Wohnzimmer der Nachbarin. Die hässlichen modernen Blocks haben zumindest den Vorteil, dass die Ursache von Lärm zuzuordnen ist, man weiß, woher er kommt und wer dafür verantwortlich ist. In den verwinkelten Arbeiterhäusern, die nicht am Stück, sondern nach Bedarf und Einkommensstand ausgebaut wurden, bei denen sich ein Innenhof an den nächsten Patio anschließt, hier ein Vordach und dort eine Wand, hinter der es zehn Meter hinab geht. “Wenn ich das Küchenfenster aufmache, liegt der Lärm aus zehn Wohnungen über mir: der Junge von nebenan mit seiner Musik, die Nachbarin über mir mit ihrem Radio, Hundegebell von irgendwo, lauter Streit von Unbekannten, Afrikaner, die ihre Körner im Mörser zerkleinern, dazu Geschrei, das auch drei Blocks entfernt seinen Ursprung haben könnte.“ Meine Freundin trifft es besonders hart, wie sie mir am Telefon erzählt. “Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten soll. Neulich ging ich raus auf den ummauerten Patio (Innenhof), weil dort gerade ein Sonnenstrahl ankam. In dem Moment fängt die Nachbarin von oben an, ihre Wäschespinne von Taubendreck zu säubern. Ich musste mich duschen, Rücksicht gibt es hier nicht!“
Tatsächlich wollte ich nicht mit ihr tauschen. Obwohl auch ich in keiner Friedensgemeinde lebe. Seit Beginn des Corona-Einschlusses feiert der Youngster über mir jeden Tag mit Freunden eine Party, mit Alkohol und Musik, die ich nicht besonders mag, vier bis sechs Kumpels laufen auf, die Balkontür geöffnet, im Haus gegenüber kommen alle entsetzt an die Fenster. Ich kann nicht behaupten, dass ich im Laufe meiner Existenz nie Lärmbelästigung verursacht habe. Einmal im Jahr, aus gegebenem Anlass. Aber nicht sechs, sieben Wochen am Stück. “An deiner Stelle hätte ich längst die Polizei angerufen, das überlege ich mir auch schon“, sagte die Freundin. “Tu es nicht“, sagte ich ihr und erzählte von der Kampagne des Solidaritätsnetzes, keine Anzeigen zu machen. Gerade hier im Viertel, wo es laufend zu Polizeiübergriffen kommt, wäre das ein Widerspruch. Tatsächlich habe ich mich bereits über die endlose Geduld von wenigsten zehn Nachbarinnen gewundert, die das Tag für Tag und Woche für Woche aushalten.
Dass in Armen- und Arbeitervierteln mehr Solidarität existiert, habe ich mir in den letzten zehn Wochen abgeschminkt. Wo Drogen, Alkohol, Dealerei im Spiel sind, oder alles zusammen, steigt der Egoismus wie im Kapitalismus. Lumpenproletariat. Ein Begriff von Karl Marx. Er bezeichnet jene Vielfalt an Menschen mit unterschiedlicher Klassenherkunft, insbesondere jedoch Proletarier, die am untersten Ende der Gesellschaft angekommen sind (oder aus ihm stammen) und keiner typischen Lohnarbeit nachgehen. Politisch sind sie für Marx aufgrund ihrer Lebenslage oftmals unzuverlässig, passiv und reaktionär. Oder alles zusammen. Also Lumpen – na wenn Marx das sagt … Olatz
(2020-05-05)
52. Tag Alarm – 10. Woche C19
HILFS-NETZE
In der Altstadt Bilbaos wurde vor zehn Wochen ein solidarisches Hilfsnetz aufgebaut, das alten und bedürftigen Personen bei Erledigungen helfen sollte. Gemeldet haben sich mehr als 160 Freiwillige für diesen Solidardienst, erzählte mir ein Freund, den ich auf dem Weg zum Einkauf auf der Brücke traf. Wenn schon diese Zahl überraschen mag, dann noch viel mehr die Zahl der Anfragen: zwei. Was lernen wird daraus? Die Bedürftigen haben andere Wege gefunden, ihre Erledigungen in Auftrag zu geben. Es liegt auf der Hand, dass dies die direkten Nachbarschaften sind. Die Mitbewohnerinnen desselben Portals, die sich auch vorher schon Mal geholfen haben, die sich kennen und wissen, wo der Schuh drückt.
Das entspricht meiner eigenen Erfahrung, auch ich bin (in einem anderen Stadtteil) Freiwilliger eines dieser Netze. In zehn Wochen Einschluss wurde ich einmal angerufen. Dafür rief meine Nachbarin aus dem dritten Stock jeden Tag an. Sie lebt mit ihrer Kusine, die zumindest die Einkäufe macht, raus kann sie nicht, weil sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Mal sollte ich im Badezimmer die Lampe reparieren, mal am Balkon eine Fahne anbringen. Vor allem aber wurde ich gerufen, wenn sie gefallen war und nicht mehr hoch kam.
Die Lockerung der Ausgangssperre eröffnete neue Möglichkeiten, weil der Ausgangsplan eine Phase für über 70-jährige vorsah. Im Fernsehen wurde berichtet, das Rote Kreuz biete Begleitung an. Ich gab der Nachbarin die Telefon-Nummer, sie rief sofort an. Ungeduldiges Warten. Nach zwei Tagen hatte sich noch niemand zurückgemeldet. Wahrscheinlich stand der Service wegen großer Nachfrage vor dem Kollaps. Bei einer Polizeistreife fragte ich, ob auch ich einen solchen Ausgang begleiten könnte. Nein, nur offizielle Betreuerinnen oder Familienangehörige. Die Nachbarin wurde nervös. Ich ließ nicht locker und fragte beim Hilfsnetz nach. Im offiziellen Regierungs-Bulletin lautete die Formulierung: Angehörige oder Personen, die üblicherweise die Begleitung durchführen. “Üblich“ war ich allemal, vor der Viruskrise hatte ich sie regelmäßig auf Ausfahrten begleitet. Zur Sicherheit fragte ich erneut bei der Polizei nach. Bestätigung.
Gestern war es soweit. Wir verabredeten uns für 19 Uhr. Sie war aufgeregt. Wir fuhren eine Stunde lang kreuz und quer durch die Altstadt, wo alles flach ist und es keine Rollstuhl-Hindernisse gibt. Sie erzählte mir Schwanks aus ihrem Leben und war hochzufrieden, als wir zurückkamen. Nun folgte meine eigene Ausgangsstunde. Kaum war ich gegen neun Uhr zurück, klopfte es an der Tür. Ein Hirnschlag, sagte die Kusine. Tatsächlich war es ein epileptischer Anfall, die Nachbarin saß zusammengesunken am Küchentisch und zappelte am ganzen Körper. Telefonverbindung mit dem Notarzt. Auf die Seite legen. Beschreiben, was passiert. Rettungswagen muss kommen. Vierzig Minuten später sah ich, wie sie auf einer Bahre abtransportiert wurde.
Nicht die einzige Erfahrung aus meinem persönlichen Hilfsnetz. Schon seit drei Monaten, also vor dem Covid, lebte ein Afrikaner im überdachten Hintereingang der benachbarten Kunstschule. Wegen seiner Dreadlocks nannten wir ihn Rasta. Vom Fenster aus sah ich verschiedene Nachbarinnen wie sie ihm Essen und Getränke brachten. Ich schloss mich an. Brot, eine Dose Sardinen, ein Pott heißer Kaffee. Den Tag verbrachte er meist auf einem nicht einsehbaren Plätzchen zwischen den Hausblocks. Er kam aus Guinea-Conakry, sprach sehr schlechtes Spanisch. Er hatte sechs Jahre in Frankreich gelebt, war krank geworden und konnte nicht mehr arbeiten. Nun Spanien, vier Jahre. Er war Mohammedaner, befolgte aber nicht den Ramadan. Alkohol trank er keinen. Einmal wollte er Geld, um Zigaretten zu kaufen, ich rückte nichts raus, nicht dafür, Lebensmittel ja, aber Geld versaut den Kontakt. Ins Rote-Kreuz-Asyl wollte er nicht. Warum verstand ich nicht, die Polizei kontrollierte ihn, ließ ihn aber auf der Straße. Bis vor drei Tagen. Ich brachte Brot, Apfel und Sardinen, aber er war nicht da. Sein “Bett“ sah durchwühlt aus, nicht ordentlich zugedeckt wie üblich. Auch am nächsten Tag bewegte sich nichts, ich machte mich daran, den Müll von seinem Schlafplatz zu entfernen, Matratze und Schlafsack zu ordnen. Damit nicht die Stadtreinigung einschreitet. Er bleibt verschwunden.
(2020-05-06)
53. Tag Alarm – 10. Woche C19
MONOGAMIE UND AUTISMUS
Ich gebe zu, dass es verrückt klingt: ich habe begonnen, mir selbst jeden Tag einen Brief oder eine Postkarte zu schicken. Ohne Inhalt. Nicht, um den Service der Post in Zeiten von Coronavirus zu prüfen. Die Ausgangssperre hat mich dazu gezwungen. Obwohl ich jeden Tag eine halbe Stunde Gymnastik mache, habe ich einen Bewegungsdrang, der mich förmlich auf die Straße treibt. Eine Zeit lang habe ich mich mit dem Alibi Einkauf zufrieden gegeben. Doch der nächste Laden ist viel zu nah, um wirklich von Bewegung sprechen zu können. So kam mir die Idee mit der Post. Sie ist ausreichend weit weg. Und die Briefkästen wurden (erst Pech, jetzt Glück) in den letzten Jahren derart reduziert, dass tatsächlich nur das Postamt zum Einwurf bleibt.
Die Auswirkungen der eingeschränkten Bewegungs-Freiheit sind offenbar. Weniger klar sind die Folgen der eingeschränkten Berührungs-Freiheit. Bei Kleinkindern, heißt es, führe mangelnde Berührung zu mentalen Schäden. Von Erwachsenen ist nicht die Rede. Glücklich schätzen dürfen sich derzeit jene, die Kinder haben – da gibt es keine Zärtlichkeits-Verbote. Aber zehn Wochen ohne Berührung auf der Straße, maximal mit der Freundin, oder dem Handschuh-Gummikontakt beim Bezahlen. Wir sind zu wandelnden Kondomen geworden. Und werden zur Monogamie umerzogen. Die Kirche darf sich freuen. Was ihre Gehirnwäsche nicht erreicht hat, schafft das Coronavirus in zwei Monaten. Wahrscheinlich ist es das, was uns als “neue Normalität“ versprochen und angedroht wird. Monogamie und Autismus. Um wenigstens meine Beine zu bewegen und frische Luft zu atmen schreibe ich mir selbst Briefe. Mit Durchhalteparolen. Olatz grüßt Olatz
(2020-05-07)
54. Tag Alarm – 10. Woche C19
UNWÜRDIGE POLEMIK UM DEN ALARM-ZUSTAND
Das spanische Parlament, bzw. die übrig gebliebenen Reste davon, haben zum dritten Mal den Alarm-Zustand (AZ) verlängert, in diesem Fall um zwei Wochen bis zum 24. Mai. Alarm-Zustand bedeutet weiterhin Ausgangssperre mit Ausnahmen. Gleichzeitig haben Lockerungs-Maßnahmen in Richtung gewisser alter und neuer Freiheiten begonnen. Die Abstimmung im Parlament und ihre kurze Vorgeschichte waren polemisch und unsachlich, seltsame Koalitionen traten in Erscheinung.
Alarm-Zustand bedeutet nach wie vor Einschränkung bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten und Limitierung der individuellen Bewegungs-Freiheit. Das bedeutet Polizeistaat, weil die Einhaltung von Verboten kontrolliert werden muss. Was wäre die Alternative? Die baskische PNV-Regierung hat im Vorfeld damit gedroht, gegen die Verlängerung des AZ zu stimmen. Man habe auch ohne diese Maßnahme ausreichend Möglichkeiten, die C19-Krise zu bewältigen. Das war eine glatte Lüge. Ohne AZ hat keine Regierung die Kompetenz, Bewegungen einzuschränken oder Gaststätten zu schließen. Ohne AZ wären die neu eingeführten Arbeitslosen-Unterstützungen und Subventionen für Kleinunternehmer oder Arme hinfällig, weil sie auf dem AZ basieren. Wir mögen über die Details der Subventionspolitik gespalten sein, die Alternative wäre eine Politik a la Trump oder Johnson.
Die PNV hat Recht, die Zentralregierung für ihre Alleingänge zu kritisieren, gleichzeitig hat sie mehrfach deutlich gemacht, dass ihre eigene Krisenstrategien unzureichend und lächerlich waren: falsche Zahlen, fehlerhafte Masken, Hospital-Chaos. Vor diesem Hintergrund wurde die Diskussion um den AZ zu einer schmutzigen Partei-Polemik, die angesichts einer bedrohlichen Situation wie der Pandemie absolut unwürdig war. Am Ende machte Sanchez der PNV Zugeständnisse in der Frage der Zusammenarbeit bei den Lockerungs-Phasen und holte die Basken auf diesem Weg ins Regierungsboot. Dort fanden sich neben Koalitionspartner Podemos auch noch die rechten von Ciudadanos. Auf Frontalkurs blieb eine Koalition aus linken katalanischen Republikanerinnen und der neofaschistischen Vox-Partei, die ab sofort beginnen will, mit Autokorsos gegen die Regierungs-Politik zu demonstrieren. In der Enthaltungsloge fanden sich die baskische Linke und die postfranquistische PP zusammen.
Was ändert sich nun? Alle Regional-Regierungen müssen Zahlen und Pläne vorlegen, die sie berechtigen, von der Phase 0 in die Phase 1 überzugehen. In Regionen wie Madrid wütet das Coronavirus noch derart, dass dies unmöglich werden könnte. Die Basken haben erreicht, dass für die künftige Bewegungs-Freiheit nicht die unsinnigen Provinzgrenzen relevant sind, sondern natürliche territoriale Einheiten. Beispiele: Die Stadt Urduña gehört zu Bizkaia liegt aber von Araba umschlossen; Villaverde gehört zu Kantabrien, liegt aber von Bizkaia umschlossen; Treviño gehört zu Burgos, ist aber von Araba umschlossen; Petilla de Aragon gehört zu Navarra liegt aber in Aragon. Diese kleinen Orte wären nach dem Provinz-System isoliert geblieben. Ein kleiner Fortschritt.
Bereits nach wenigen Tagen minimaler Freizügigkeit (1 Stunde Ausgang pro Tag) zeigt sich, dass es in Orten wie Bilbao sofort wieder zu Massen-Ansammlungen kommt, beim Spazieren auf der Flusspromenade zum Beispiel. Weil die Polizei bei ihren Kontrollen weniger streng vorgeht beginnen viele wieder mit ihren alten Gewohnheiten und verzichten auf individuellen Abstand. Die warnenden Wissenschaftlerinnen werden wieder zu Rufern in der Wüste.
(2020-05-08)
55. Tag Alarm – 10. Woche C19
BLUTSPENDE
In Zeiten des akuten Coronavirus zur Blutspende gerufen zu werden, hat verschiedene Lesarten. Zuerst die Überraschung, dass der weiß-rote Bus überhaupt noch durch die Lande düst. Dann die Freude über die Gelegenheit, an einen Platz zu kommen, der mir wegen des Alarms acht Wochen lang untersagt war. Drittens die Neugier, wie die Blutabnahme im engen Gehäuse überhaupt möglich sein sollte. Als Alibi gegenüber Polizeikontrollen druckte ich die Spenden-Aufforderung vorsorglich auf Papier und traf den Bus dort, wo er immer stand, Bilbao, Abando, Plaza Circular. Als wäre nichts geschehen. Ich zog mir die Maske über das Hirn und die Handschuhe bis zu den Ellenbogen.
Wer in einem solchen Moment mit zerbrechlichem Spanisch aufläuft, wird selbstverständlich sofort als verkrachte und übrig gebliebene Touristin ausgemacht und auf der Verdächtigen-Liste vermerkt. Mit Deutlichkeit und Selbstbewusstsein meisterte ich diesen Anfangsstress und begann die untersuchende Ärztin zu interviewen. Ob die Zahl der Spenderinnen zurück gegangen sei? Nein, im Gegenteil, alle Üblichen und dazu ehemalige Kundinnen hätten sich daran erinnert und gemeldet (vielleicht wie ich aus purer Neugier). Ich setzte meine Verhöre bei der blutzapfenden Osakidetza-Frau fort. Ob der Spendenbus gerade jetzt in der Lockerungsphase wieder angefangen hätte? Nein, was glaubst du, Ersatz-Blut wird doch immer gebraucht, der Spende-Dienst ging immer weiter. Als Highlight traf ich auch noch meinen verehrten Osteopathen. Insgesamt wurde dieses Vampirismus-Erlebnis zu einer Erfahrung a la Wolfgang Ambros: Zwickts mi, i glaub i dram (“zwicken Sie mich bitte, ich glaube ich träume“). Gezwickt wurde ich nicht, aber angestochen. Mit Stolz trug ich das große Pflaster am Ellbogen einen Tag lang spazieren. Alibi erster Klasse mit goldenem Bändchen. Surrealistisch.
BLUTZOLL (1)
Weil ich schon in entfernte Weiten der bilbainischen Innenstadt vorgedrungen war und mich mit dem roten Kreuz in der Tasche als Heldin des Tages fühlte, wagte ich mich weiter in die Tiefen des hiesigen Großbürgertums. Gran Vía Lope de Haro heißt die Prachtallee, in der sich der europäische Mode-Kapitalismus ein Stelldichein gibt. Viele Geschäfte waren noch geschlossen. Nicht so die Compro-Oro-Geschäfte (Wir kaufen Gold), drei an der Zahl, sie alle hatten geöffnet und nicht nur das. Vor jedem Geschäft stand eine kleine Schlange von Menschen. Solche, die nicht in der Gran Vía leben. Keine Ahnung, ob ich diesen Umstand der Verständlichkeit halber weiter erklären muss …
BLUTZOLL (2)
Vor einigen Monaten lernte ich einen neuen Begriff, einen dieser lateinischen Neukreationen, die die alten Römer mit großer Wahrscheinlichkeit nicht kannten: Aporophobia! Fällt der Groschen? Oder befinden Sie sich gerade im selben Zweifelzustand wie ich selbst vor drei Monaten? Aporophobia ist der Hass gegen Arme. Nicht jene, die unterhalb der Schulter beginnen, vielmehr jene, die nicht genug Mittel haben, um ihre Miete zu zahlen und am Ende auf der Straße enden. Aporophobia – Armenfeindlichkeit. Wie viele psychologische Fehlzündungen müssen sich in einem menschlichen Hirn ereignen, bis der Hass auf Arme gedankliche Formen annehmen kann?! In Barcelona hat die Armenfeindlichkeit vier Todesopfer gefordert. Ein Namenloser hat in den vergangenen Wochen vier Obdachlose umgebracht. Auf diesem Weg erhält Aporophobia eine gewisse Fassbarkeit. Wir nehmen zur Kenntnis: neben Faschisten, Vergewaltigern, Rassisten, Xenophoben, Homophoben und Lesbophoben hat die moderne Gesellschaft eine weitere verachtenswerte Spezies hervorgebracht: die Armenfeinde (an dieser Stelle erspare ich mir ausdrücklich die geschlechtsneutrale Form).
(2020-05-09)
56. Tag Alarm – 10. Woche C19
DAS LEBEN PULST
Gesellschaftlicher Reichtum ist in den von Kolonialismus, Kapitalismus und Neoliberalismus geprägten Ländern äußerst ungleich verteilt. In Krisensituationen wird diese Ungleichheit zum tödlichen Ausschluss. Wo das Gemeinwesen Staat bei existenzieller Not nicht mehr intervenieren kann oder will (weil zu viel Geld für die Militärmaschinerie ausgegeben wird) kann nur das Gemeinwesen Nachbarschaft noch helfen. Tatsächlich haben sich die Behörden und Regierungen in den vergangenen Wochen unfähig gezeigt, auf die Auswirkungen der Pandemie-Krise in ihrer Gesamtheit adäquat zu reagieren und ALLE Betroffenen würdig zu versorgen. Essenzielle Betreuungs-Leistungen mussten von Basis-Initiativen und Solidar-Netzen übernommen werden, weil die Bürokratie – wie so oft – komplett den Boden unter den Füßen verloren hat und nur noch die Mitte der Gesellschaft versorgt (die oberen Zehntausend versorgen sich selbst).
Auf dieses Versagen des Gesellschafts- und Wirtschafts-Systems reagiert nun eine baskische Initiative unter dem Namen BiziHotsa – Puls des Lebens. BiziHotsa ist Widerstands-Kasse und Solidaritäts-Fonds. Wenn es um sozialen Ausschluss geht, um Armut, um Hunger, dann geht es um Geld. Für jene, die es am notwendigsten haben. Und für soziale und politische Projekte, die von der Pandemie frontal getroffen wurden und vom Verschwinden bedroht sind, weil die öffentliche Hand weder Schutz noch Unterstützung bietet (oder an deren Arbeit kein Interesse hat).
Armut und Ausgrenzung haben immer das Gesicht von Frauen und Migrantinnen, entsprechend waren es Gruppen aus diesen Arbeitsbereichen, die sich zusammengetan haben, um einen Solidaritäts-Fonds zu gründen. BiziHotsa. Geholfen werden soll Migrationsfrauen, Hausangestellten, die Arbeit und Unterkunft verloren haben, Roma-Frauen, Gruppen aus Afrika, die Stadtteil-Projekte begonnen haben und Leute alphabetisieren, ausbilden und für ein eigenständiges Leben schulen. Um einen paternalistischen Hilfsansatz zu vermeiden, sollen die Menschen in die Lage versetzt werden, aus eigener Initiative zu überleben.
“BiziHotsa ist ein politisches und ethisches Projekt, das die Selbstorganisierung der Menschen und die Selbstverwaltung von nachbarschaftlichen Netzen fördern will. Es handelt sich um ein Projekt von anti-rassistischem, anti-patriarchalem und anti-neoliberalem Charakter. Wir legen Wert auf Transparenz, damit alle Beteiligten die Vorgänge bei BiziHotsa verfolgen können.“ So formuliert es die Initiative selbst. Es ist traurig, dass solche Notmaßnahmen überhaupt notwendig sind. Eine wirklich demokratische Gesellschaft sollte deutlich mehr Vorkehrungen treffen, Armut und Elend ebenso zu vermeiden wie Ausbeutung. Und die Verteilung des Reichtums anders organisieren. Olatz
(09-05-2020 – Letzter Eintrag der zehnten Coronavirus-Woche im Baskenland, zum Abschluss der achten Alarm-Woche mit relativer Ausgangssperre. Am morgigen Sonntag erscheint an gleicher Stelle ein Beitrag, der erneut Tages-Ereignisse kommentiert.)
(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-05-03)