Einschluss in der Provinz
Die Zahlen von Ansteckungen und Toten durch Coronavirus sinken deutlich. Medizinerinnen werden nicht müde, vor Exzessen und einer zweiten Welle zu warnen, die anderswo bereits Wirklichkeit geworden ist. Ab Montag 18. Mai 2020 gelten die Provinzgrenzen als Limit für die neue Bewegungsfreiheit. In Orten mit weniger als 10.000 Bewohnerinnen fallen die Zeitlimits für Ausgang weg. Ein regelrechter Boom auf die wenigen Plätze in den Straßencafés hat eingesetzt. Das erfordert warten wie vor dem Supermarkt.
Die Lockerungs-Maßnahmen der zwölften Woche der Coronavirus-Pandemie bedeuten für Euskadi-Baskenland, dass die Bewegungsfreiheit innerhalb der Provinzen wiederhergestellt wird. Aus Bilbao können wir nach Gernika oder Ondarrua reisen, nicht aber nach Gasteiz, Pamplona oder Donostia.
(2020-05-17)
64. Tag Alarm – 12. Woche C19
AUTO, ALSO BIN ICH
Bereits vergangene Woche durfte – zumindest im Stadtgebiet – wieder frei Autogefahren werden. Zum Einkaufen, zum Zigaretten holen, zum Musik hören, zum Protzen. Nun steigen wir eine Stufe weiter, um die alten Luftverschmutzungs-Werte wieder auf gewohnte Höhen zu treiben. Männer kehren zu ihrem alten Selbstwert zurück. Bewegung innerhalb der Provinz – geile Nummer! Weil viele Beamten ebenfalls wieder in die Büros müssen, ist ein regelrechter Autoboom zu erwarten. Pikant an der Sache ist, dass nicht alle fahrbaren Untersätze zwei Monate Stillstand aushalten, ohne dass sich Batterien entleeren oder sich Ratten im Motor einnisten – die Pannendienste sollen auch nicht leben wie Hunde! Auf die Piste, egal wohin! Und der Sprit ist so billig wie seit zwanzig Jahren nicht! Auch wenn der TÜV abgelaufen ist, Schonfrist wurde ausgerufen, weil die Prüfstätten bereits überfordert sind.
THEMAWECHSEL
Einschluss strengt an. Enorm. Weil wir das nicht gewohnt sind. Wir leben in Bewegung, manchmal in Überschall-Geschwindigkeit. Derart heruntergefahren zu werden hinterlässt Bremsspuren. Im Gefängnis wurde nicht abgebremst, hier wird dreifach eingeschlossen. Einmal per se. Dazu kommen die “Schutzmaßnahmen“ gegen das Coronavirus. Plus die Isolierung von Freundinnen und Angehörigen, die keine Besuche mehr machen dürfen. Einige Staaten haben alle Gefangenen, die vor der Entlassung standen, oder sich im Freigang befanden, vorzeitig freigelassen, um die “Gefängnis-Population“ zu reduzieren. Nicht so der spanische Staat.
Der Fall, der gestern Abend Tausende Personen in allen baskischen Provinzen auf die Straße trieb, ist – sofern dies überhaupt vorstellbar ist – noch gravierender. Patxi Ruiz wurde vor 18 Jahren verhaftet und fünf Tage lang gefoltert, so lange dauert im spanischen Staat die Kontaktsperre, ohne Kontakt zu Anwältinnen und zur Außenwelt, die von der Polizei genutzt wird. In diesen Jahren wurde er durch 10 verschiedene Gefängnisse geschleust, um in Murcia zu enden. Dort traf er auf einen besonders blutrünstigen Gefängnis-Direktor. Er wurde mehrfach angegriffen und verprügelt, von Wärtern und anderen Gefangenen (im Auftrag). Kann sich jemand eine solche Situation vorstellen, ohne eine Nacht lang schlaflos zu bleiben?
Um dieser Brutalität zu entkommen und Aufmerksamkeit zu erregen, schlitzte er sich die Arme auf, um auf die Krankenstation zu kommen. Nun führt er einen Hunger- und Durststreik durch. Hunger geht ja noch, aber Durst. Ich bekomme Nierenschmerzen, wenn ich einen Tag zu wenig trinke. Der Mann ist sieben Tage im Streik ohne Flüssigkeit. Ohne ärztliche Beobachtung, der telefonische Kontakt zu Ärzten seines Vertrauens bleibt ihm verwehrt.
Zwei Angehörige haben sich am gestrigen Samstag auf den eigentlich unmöglichen Weg aus dem Baskenland nach Murcia gemacht, um einen Besuch zu erzwingen. Vormittags wurden sie nicht zugelassen, nachmittags konnten sie den Gefangenen sehen und sprechen, hinter dicken Glasscheiben, wie gewohnt. Der Gefangene teilte mit, er habe mehr als zehn Kilo Gewicht verloren, habe heftige Schmerzen in den Nieren, wolle aber seinen Streik weiterführen. Auf dem Gefängnis-Parkplatz wurden die Besucherinnen von der Guardia Civil angehalten und wegen eines Verstoßes gegen die Corona-Einschluss-Bestimmungen mit Bußgeldern bestraft. Gleichzeitig haben sich andere Gefangene solidarisiert und führen verschiedene Varianten von Streiks durch. Alle weit weg, in Andalusien. Es soll nach wie vor Leute geben, die im Baskenland von einem Friedensprozess sprechen. Haltet die Welt an!
(2020-05-18)
65. Tag Alarm – 12. Woche C19
RENTNERINNEN WIE DU UND ICH
Zwei lange Jahre hatten die Rentnerinnen und Rentner des Baskenlandes jeden Montag in vielen Orten Kundgebungen organisiert, um eine Erhöhung der Rentenbeträge auf ein Niveau von 1.080 Euro für alle zu fordern. Nirgendwo anders im Staat hielt die Bewegung so lange durch. Erst die Pandemie hat diese Kontinuität gebremst. Am heutigen Montag haben die “Jubiladas“ die erstbeste Gelegenheit wahrgenommen, ihre bisherige Protestform wieder aufzunehmen. Achtzig Personen versammelten sich unter brennender Sonne und forderten eine würdige Existenz für alle Rentnerinnen. Ohne den Hinweis zu vergessen, dass die Viruskrise zahlreiche Opfer gefordert hat in dieser Alters- und Bevölkerungsgruppe; dass nichts an einer öffentlichen Versorgung für Pensionärinnen vorbeigeht; dass Altersheime nicht – wie gerade auf tragische Weise erlebt – zu Spekulations- und Anlegeobjekten für Geierfonds werden dürfen. “Egal wer regiert, die Renten werden verteidigt!“ Um den Eindruck von Massen und Enge zu vermeiden, wurden die Kundgebungen auf die Stadtteile verteilt. So ist davon auszugehen, dass es an diesem Vormittag Dutzende, wenn nicht Hunderte von Renten-Kundgebungen gab. Pentsionistak aurrera!
ÜBERWACHUNGSSTAAT
Patxi lebt in Gernika und ist schon alt. Gerne hätte er Kartoffeln auf seinem Grundstück rund um das Haus angebaut. Aber er schafft es nicht mehr, den Boden umzustechen. So schreibt er seinem Sohn Urko, der in Barcelona studiert, eine Email. "Lieber Urko, ich bin so traurig, dass ich keine Kartoffeln anbauen kann, weil du in Barcelona bist und für mich den Grund nicht umstechen kannst." Kurz darauf antwortet Urko: "Lieber Aita, rühr ja keinen Spaten an und mach nichts auf dem Grundstück. Du weißt ja sicher noch, was da vergraben ist." Kurz darauf läutet beim alten Patxi die Hausklingel. Der spanische Geheimdienst und die Guardia Civil stehen mit Spaten vor der Türe, zeigen ihre Erkennungsmarken und einen Durchsuchungsbefehl, sie beginnen, den Garten komplett umzugraben. Nach zwei Stunden ist alles umgegraben, der Geheimdienst hat nichts gefunden und verlässt das Grundstück. Bald darauf erhält Patxi von seinem Sohn eine Email aus Barcelona: "Lieber Aita, ich nehme an, der Boden ist inzwischen umgegraben. Das ist alles, was ich von hier aus tun konnte. Viel Freude mit den Kartoffeln!"
DÉJÀ VU CAMUS (7)
“Il n’y a rien de plus ignoble que la maladie.“ - “Es gibt nichts Schändlicheres als die Krankheit.“ Durch die Hauptfigur, den Arzt Rieux, entdeckt Camus während des Schreibens am Roman eine neue Art des Humanismus, welche mit Solidarität gleichgesetzt werden kann. Dadurch spannt Camus den Bogen vom Absurden über die Revolte bis hin zum Humanismus.
(2020-05-19)
66. Tag Alarm – 12. Woche C19
ALARMZUSTAND AN DER WAHLURNE
Die Krankenpflegeschule in Gipuzkoa stellt fest, dass die baskische Regierung keinen Aktionsplan hat für eine zweite Pandemiewelle. Das Tragen von Masken wird ab sofort Pflicht in geschlossenen öffentlichen Räumen, auch im Freien, wenn der Mindestabstand von zwei Metern nicht eingehalten werden kann. Noch ist es nicht erlaubt, sich privat mit Freundinnen in Wohnungen zu treffen. In genau diesem Moment gibt der Ministerpräsident einen neuen Termin für Regionalwahlen bekannt. Wir erinnern uns: diese Wahlen wurden mit der Zustimmung zur letzten Alarm-Verlängerung erkauft. Wir erinnern uns: die für 4. April vorgesehenen Wahlen mussten wegen der Pandemie abgesagt werden. Wir erinnern uns auch, dass Wahlen mit Propaganda-Kampagnen verbunden sind, mit Massenveranstaltungen, Händeschütteln und Schulterklopfen. Wir erinnern uns, dass die Demonstration zum Internationalen Frauentag in Madrid einer der idealen Verbreitungswege des Coronavirus war. Wir erinnern uns, dass sich die Führungsriege der neofaschistischen Vox-Partei bei einer Propaganda-Massenveranstaltung kollektiv ansteckte. Wir erinnern uns zuletzt auch, dass die Kollektiv-Immunität in der Bevölkerung kaum mehr als 6% beträgt, während das Zehnfache notwendig wäre, um einen natürlichen Schutz zu erzeugen. Nun soll im Baskenland gewählt werden.
Die offizielle Begründung ist, man brauche eine stabile Regierung. Tatsache ist, dass das baskische Parlament aufgelöst ist. Die Opposition hätte einen Termin im Herbst bevorzugt. Das lehnt die christdemokratische PNV ab. Und man höre und staune bei der Begründung: im Herbst sei mit einem Wiederaufflammen der Pandemie zu rechnen, deshalb sei Juli ein besserer Termin! Oppositionelle Kreise vermuten, dass die PNV einem Abnutzungseffekt aus dem Weg gehen will. Das Management während der Coronakrise war derart von Versagen geprägt, die Krankenhäuser erlebten einen Kollaps, in Altersheimen starben die Menschen wie Fliegen, das Pflegepersonal erhielt keine Schutzkleidung und erkrankte massiv, die Zahlen wurden frisiert und noch sind nicht alle Lügen auf dem Tisch. Dafür wäre bis Herbst viel Zeit. Wir können also feststellen, dass die PNV es vorzieht, Wahlen auszurufen, die ein Risiko für die Bevölkerung darstellen, anstatt sich auf einen vernünftigen Plan für einen möglichen Rückfall in die Pandemie vorzubereiten.
AUSSTIEG AUS DER CORONA-HÖLLE
Die wenigsten werden es für möglich halten: in Bilbao sind Spaziergänge von 15 Kilometern möglich, ohne das Stadtgebiet zu verlassen und ohne den Massen auf die Füße zu treten. Lange Enthaltsamkeit und Entzugs-Erscheinungen führen seit einer Woche zu neuen Massen-Ansammlungen: in den wenigen Straßencafés, auf den Hauptarterien der Stadt, der Promenade entlang des Flusses, der Kommerz-Allee. Daneben weist jedes Barrio eine Kale Nagusia auf, eine Zentralstraße, die zum massenhaften Austausch von Viren einlädt. Nach neun Wochen Einschluss ist mir nicht nach Menschen-Massen zumute, eher nach einem langsamen Wiederaufbau der sozialen Kontakte in kleiner Dosis. Die Abwesenheit von Lohnarbeit und anderen Verpflichtungen eröffnet die Möglichkeit zu stundenlangen Wanderungen.
Gestern, als es im Kampf um Sitzplätze in Straßencafés die ersten Handgemenge gab, zog es mich in den äußersten Südosten des Bilbao-Territoriums. Bolintxu ist der Name eines Tals mit fast dschungelartigem Bewuchs, durch das vom Pagasarri-Berg ein Bach in die Tiefe plätschert, zugänglich über Trampelpfade. So ganz und gar nichts für die Massen, bei denen es schließlich und endlich auch um Sehen und Gesehen-Werden geht. Von den vergangenen Regentagen sind die schmalen Wege noch schlammig, auf halber Höhe findet sich ein etwa zehn Meter hoher Wasserfall, der über eine vor langer Zeit gebaute Mauer fällt.
Bis vor zwei Jahren wusste ich nichts von diesem Mini-Dschungel, der Name war mir fremd, wie sicher vielen anderen ebenfalls. Nun läuft ein Countdown, dieses kleine Stück Paradies noch einmal zu besuchen, zu sehen, zu bewandern, erinnernde Fotos zu machen. All jene Gesten der Nostalgie. Denn die Beton-Fraktion der baskischen Regierung hat beschlossen, die Stadt-Umgehungs-Autobahn südlich von Bilbao direkt zu verbinden mit jener, die Richtung Hauptstadt Gasteiz führt. Diese Verbindung erspart maximal fünf Kilometer Weg, führt aber direkt durch das Bolintxu-Gebiet. Im Nebental werden bereits riesige Erdbewegungen vollzogen, der Tunneleingang ist vorgezeichnet. Noch in diesem Jahr wird der Berg durchgraben. Agur Bolintxu!
(2020-05-20)
67. Tag Alarm – 12. Woche C19
HUNGER UND DURST
Die Verweigerung der Aufnahme jeglicher Lebensmittel als einzige Möglichkeit zur Änderung seiner Situation im Murcia-Gefängnis hat den baskischen politischen Gefangenen Patxi Ruiz in eine absolut bedrohliche Lage gebracht. Inmitten einer behördlich verordneten Schutzlosigkeit gegenüber dem Coronavirus. Nach zehn Tagen ohne Essen und Trinken hat er deutlich an Gewicht verloren, seine Nieren schmerzen, langsam verliert er die Sehfähigkeit, nachts wacht er vor Schmerzen kontinuierlich auf.
Die Gefängnis-Leitung, verantwortlich für die Situation, handelt weiterhin völlig unverfroren. Erst nach neun Tagen wurde die Kontrollkammer der Audiencia Nacional (politisches Sondergericht in Madrid) offiziell von dem doppelten Streik informiert. Nicht vom Gefängnis selbst, sondern von den Anwälten des Gefangenen. Der Knastarzt ist eine Marionette der Gefängnisleitung und besucht den Gefangenen nicht, bei den Protesten auf der Straße wird er als “Mengele“ bezeichnet. Lediglich eine Krankenschwester wird geschickt.
Nun hat sich die linke Wahlkoalition EH Bildu eingeschaltet, eine Senatorin will den Gefangenen besuchen. Auch EHB macht die Behörden für die Situation von Ruiz verantwortlich und kritisiert scharf, dass der Staat nicht bereit war, baskische Gefangene aus dem Fokus des Coronavirus zu entlassen: weder schwer kranke Gefangene, noch solche über siebzig Jahre, noch jene die zwei Drittel oder drei Viertel ihrer Strafe verbüßt haben, wurden entlassen. Manche nennen das Rachejustiz und Vernichtungshaft. Ich schließe mich dieser Meinung an.
EHB beklagt die unmenschliche Situation, in der die Gefangenen gehalten werden, ohne Besuche, ohne Schutzmaßnahmen gegen C19, hunderte oder tausende von Kilometern vom Baskenland entfernt. Fortgesetzte Folter. Das Umfeld des Streikenden ist dazu übergegangen, Gebäude von politischen Parteien mit Parolen zu beschriften, was die politische Klasse energisch ablehnt. Gleichzeitig ist aus dieser Richtung kein Wort zur lebensbedrohlichen und menschenverachtenden Situation des Gefangenen zu vernehmen. Ich erinnere mich, dass vergleichbare Situationen zu Zwangsernährung und Tod geführt haben.
Mir bleibt nichts anderes, als jeden Abend meine neugewonnene “Freiheit“ wahrzunehmen und zur Protest-Kundgebung in der Altstadt zu gehen, um durch physische Anwesenheit meine Ablehnung dieser Gefängnis-Politik deutlich zu machen. In diesen Momenten vergesse ich meine eigenen Limitierungen. Olatz
(2020-05-21)
68. Tag Alarm – 12. Woche C19
ARITZ SAGT TSCHÜSS
Dass ich Anhängerin von Fußball wäre kann ich mit dem besten Willen nicht behaupten. Meine Freundinnen bescheinigen mir das jederzeit. Fußball ist Männersport, Männerdomäne, zeichnet sich durch Erznationalismus, Rassismus und viel Dummheit der Beteiligten aus. Opium fürs Volk sagen viele nicht von ungefähr. Insofern muss ich eine Ausnahme machen, wenn es um die Nachricht des Tages (in Bilbao) geht. Da hat sich einer verabschiedet. Nicht mit den üblichen Machotönen, sondern mit etwas Grips, den er bereits an anderer Stelle unter Beweis gestellt hat. Aritza bedeutet auf Baskisch Eiche und Aritz ist einer der beliebtesten Namen für Jungs. Aritz Aduriz wurde zwar in San Sebastian geboren, glücklich wurde er aber in der Industrie-Metropole Bilbao. Dafür wurde er geliebt wie wenige. Beachtenswert seine Worte zum Abschied – mitten in der Corona-Scheiße.
“Der Moment ist gekommen. Ich habe es mehrfach gesagt: der Fußball verlässt dich, bevor du ihn verlassen kannst. Gestern empfohlen mir Ärzte, mich besser heute als morgen an der Hüfte operieren zu lassen, um danach ein vernünftiges Leben führen zu können. Leider hat mein Körper Nein gesagt. Meinen Kollegen kann ich nicht mehr helfen, wie sie es verdienen, das ist das Leben eines Profisportlers. Einfach, ganz einfach. Traurigerweise erleben wir derzeit weit schlimmere und schmerzlichere Situationen. Die Pandemie, die wir mitmachen, hat nicht reparable Schäden hinterlassen, wir alle müssen weiter dagegen kämpfen. Macht euch deshalb keine Sorgen um mich, ich bin nur eine Anekdote. Lasst uns die erträumten Finale vergessen, wir haben noch genug Zeit, uns zu verabschieden. Es ist die Stunde, Tschüss zu sagen, dieser Weg ist zu Ende, unvergesslich und schön, von Anfang bis Ende. Von Herzen! Agur!“ – Wenn nur alle Kicker so viel Verstand hätten …
Déjà vu Camus (8)
Albert schildert den Verlauf der Pestseuche in der Stadt Oran an der algerischen Küste aus Sicht des Protagonisten, des Arztes Bernard Rieux. Einige tote Ratten und ein paar harmlose Fälle einer unbekannten Krankheit sind die Anfänge einer schrecklichen Pestepidemie, welche die Stadt in den Ausnahmezustand bringt, sie von der Außenwelt abschottet und mehrere tausend Todesopfer fordert. Die Pest bedroht das menschliche Dasein der Bevölkerung und wird somit zu ihrem gemeinsamen Gegner. Jeder nimmt diesen fast ausweglosen Kampf gegen den Schwarzen Tod auf seine Weise auf. Die einen erfolgreich, die andern gehen unter.
(2020-05-22)
69. Tag Alarm – 12. Woche C19
DEKADENT, DEGENERIERT
In Spanien (wie im Baskenland, oder umgekehrt) herrscht andauernd Wahlkampf. Immer ist das Eigene super und das der andern völlig daneben. Wie es dabei zu einer vernünftigen Krisenpolitik kommen soll, ist völlig schleierhaft. Die Protagonisten denken ganz offenbar nicht an die Eindämmung der Pandemie, sondern an ihre kommenden Wahlstimmen. Deshalb haben sich die baskischen Christdemokraten bei der letzten Verlängerung des Alarmzustands mit ihrer Zustimmung Regionalwahlen erkauft.
Jetzt ging es in eine neue Verlängerungsrunde. Dabei standen – erneut – nicht medizinische und gesundheitliche Kriterien zur Diskussion, sondern wieder das Geschachere “Was-gibst-du-mir-was-willst du-dafür“. Dabei spielen alle mit gezinkten Karten, sind beleidigt oder verlassen die Kammern, in die sie gewählt wurden, um Verantwortung auszuüben. Nichts davon. Keine Ausnahme. Alle gleich. Um eine Mehrheit zu erhalten, verteilt Pedro Sanchez immer neue Geschenke und Versprechen. Mal wird mit der Rechten gebandelt, mal mit der Linken.
Gestern gelang ihm eine geniale Rochade – die ihn jedoch teuer zustehen kommen könnte. Zum zweiten Mal gewann er die rechte Partei Ciudadanos zur Zustimmung. Mit ein paar Miniparteien reichte es zur absoluten Mehrheit. Enthaltungen gab es diesmal nicht, der Rest, Postfranquisten wie linke Republikaner stimmten dagegen. Frappierende Konstellationen. Todfeinde in einem Boot. Wenn auch aus verschiedenen Gründen.
Den “Bürgern“ von Ciudadanos ist ihre eigene Zustimmung zur Verlängerung bitter aufgestoßen. Denn kurz nach der Abstimmung wurde ein Abkommen bekannt zwischen Podemos, den Sozis und den Baskinnen von EH Bildu, mit dem die neoliberale und arbeiterfeindliche Arbeitsreform der Rajoy-Regierung rückgängig gemacht werden soll – die Gewerkschaften jubeln! Dabei geht es ans Eingemachte (des Kapitals). Schwerpunkt dieser euphemistisch Reform genannten Maßnahme war es, Kündigungen zu erleichtern, Abfindungen zu reduzieren und prekäre Müll-Arbeitsplätze zu schaffen. Plan gelungen, sagt eine Studie der baskischen Universität. Nun laufen die spanisch-baskischen Arbeitgeber Amok, sie sehen ihre Ausbeutungs-Margen dahinschwimmen.
Die Baskinnen von Bildu wiederum haben sich ihre Zustimmung mit der Zusicherung erkauft, dass der Beschluss noch während des Alarms umgesetzt wird. Der Preis: Enthaltung bei der Abstimmung und Sicherung der Mehrheit. Ich befürchte: wenn das mal kein Pyrrhos-Sieg wird – dem absehbaren Druck der Kapitalisten zu widerstehen, wird Sanchez enorm viel Energie kosten. Falls es nicht ebenfalls eine falsche Karte war. Mein Tipp: mit irgendwelchen taktischen Ausreden wird doch nicht die ganze neoliberale Reform gekippt, sondern nur ein ausgewählter Teil. Jedenfalls erleben wir Zustände wie am Spieltisch, wo du in zwei Minuten Millionärin werden kannst oder alles verlierst.
Um den Wahlkampf im Krisen-Management perfekt zu machen: Die rechtsregierte Region Madrid klagt vor einem hohen Gericht gegen die Zentral-Regierung. Weil die pandemische und hospitalarische Situation nach wie vor katastrophal ist, ist die Region bisher nicht über die Nuller-Phase hinausgekommen. Als Ergebnis von einem Jahrzehnt der Gesundheits-Kürzungen und Privatisierungen. Dabei hat Madrid prominente Kollegen, denn auch Barcelona ist noch nicht weiter in der Seuchenbearbeitung. Mit dem Unterschied, dass die vernünftigen Katalaninnen genau das gefordert haben: wir wollen nicht in Phase Eins! So wird der Coronakrieg – wie im Fall der baskischen Pflegekräfte – erneut vor Gericht ausgetragen. Dabei frage ich mich, welches medizinische Vorwissen Richterinnen eigentlich haben (müssten) …
NORMALITÄT
Um den wiedereröffneten Geschäften und Straßencafés keinen allzu großen Vorsprung zu geben, hat die politische Szene ihre Drehzahl ebenfalls von Null auf Achtzig erhöht. Gestern war die Pro-Flüchtlings-Bewegung Ongi Etorri Errefuxiatuak (Herzlich willkommen Flüchtlinge) an der Reihe: Papiere für alle – Niemand ist illegal. Für den im Hunger- und Durststreik befindlichen politischen Gefangenen Patxi Ruiz gehen täglich hunderte in ebenso vielen Orten auf die Straße. Auch die neofaschistische Vox-Partei geht auf die Straße. Allerdings nicht zu Fuß, sondern in Form einer Auto-Karawane. Besonders gerne im Baskenland, weil dort die Unterstützung am schwächsten ist, die Gegenreaktion jedoch am ausgeprägtesten. Das Motto: Für Spanien und seine Freiheit. Dümmer geht’s nicht.
(2020-05-23)
70. Tag Alarm – 12. Woche C19
SIEBZIG, SEVENTY, HIRUROGEITAMAR
Es sagt oder schreibt sich schnell und easy: siebzig Tage Einschluss, Lockdown, Alarm, Einschränkung, Bevormundung und ich weiß nicht was – und wir leben noch. Von Corona verschont haben wir uns – wie Münchhausen – selbst am Schopf aus dem Schlamm gezogen. Manchmal erscheint das Licht am Ende des Tunnels, vielleicht ein Irrlicht. Denn trotz dem Aufstieg in Phase Zwei wird der Alarm-Zyklus verlängert, die Prognosen stehen auf zweite Welle, auf der Straße, am Strand und in den Kneipen wird bereits kräftig daran gearbeitet. Fehlen eigentlich nur die Touristinnen zu unserer Glückseligkeit. Zum Abschluss der zehnten Woche zu Hause. Olatz
KNEIPIERS AUF KRAWALL GEBÜRSTET
Mehr als tausend Personen mobilisierten die Kneipiers aus dem ganzen Großraum Bilbao gestern für eine Demonstration, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Was im Herbst ein Peanut an Beteiligung gewesen wäre (nur 1.000), verwandelte sich in die größte Demonstration seit dem Internationalen Frauentag am 8. März vor zehn Wochen. Die Plattform “Kneipen auf Kriegsfuß“ machte deutlich, dass es bei vielen um die nackte Existenz geht. Neben Kulturräumen sind die Gaststätten die letzten, die noch nicht öffnen durften, das Personal bleibt temporär entlassen. Erlaubt sind die Öffnung der Küche und der Ausschank auf Terrassen (die nicht alle haben), der Eintritt in die Bars ist verboten. Deshalb haben viele, die theoretisch schon öffnen dürften, dies nicht getan, weil es sich schlicht nicht lohnt. Vielen Einrichtungen fehlt natürlich der Ansturm der Touristinnen, der in dieser Jahreszeit in vollem Gang wäre. “Den Bankern habt ihr geholfen, helft jetzt den Kneipen“, steht auf einem Transparent. “Ohne Bars kein Leben in den Barrios“ auf einem andern. Der Eintritt in die Lockerungs-Phase Zwei ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Normalisierung. Die vielen kleinen Kneipen ohne Küche, Terrasse und Stühle bleiben zwangsgeschlossen. Deshalb sind die Kneipiers auf dem Kriegsfuß.
SCHNELL NOCH WÄHLEN
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fällt mit der Tür ins Haus: “Schnell noch wählen vor der zweiten Welle“. Dieser Titel könnte als unangemessener Sarkasmus aufgefasst werden, in diesem Fall ist es jedoch die schlichte Beschreibung der Realität in den Regionen Galicien und Baskenland. Mit menschenverachtendem Hintergrund, der Partei-Interessen vor Gesundheits-Interessen stellt. So gesehen ist nicht die Überschrift zynisch, sondern der Sachverhalt, der zu ihr geführt hat.
“Das Baskenland und Galicien wollen Mitte Juli trotz der Pandemie Regionalwahlen abhalten. Die Regionalpräsidenten fürchten eine zweite Corona-Welle im Herbst und hoffen auf einen satten Regierungsbonus in der Krise.“ Diese Herrschaften wissen genau, dass es eine zweite Welle geben wird (aufgrund ihrer verhängnisvollen Krisen-Politik). Anstatt sich ins Zeug zu legen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, setzen sie auf den nächst-besten Moment, sich erneut ihre Pfründe, Einnahmen und Einfluss-Möglichkeiten zu sichern. Wir hier unten sind Spielbälle: “Alte Welle, neue Welle, mach nen Euro auf die Schnelle“. Das Establishment hat genug Masken und Plätze auf der Intensivstation gebucht. Der Rest ist egal. Dass sich das Lumpenproletariat und die Jugend auf den Straßen bereits wieder den Kragen absaufen, spielt nicht die geringste Rolle. Dafür wird sogar mal die Polizei-Repression gelockert.
“Statt wie ursprünglich vorgesehen am 5. April sollen die Regionalwahlen in Galicien und im Baskenland nun am 12. Juli stattfinden.“ Aus gutem Grund hatten sich die rechten Basken um Urkullu diese Wahlen durch einen Abstimmungs-Deal in Madrid erkauft. “Urkullu befürchtet eine zweite Corona-Welle im Herbst. Es gibt Überlegungen, den Wählern bestimmte Zeitfenster für die Stimmabgabe zuzuweisen, um zu große Menschen-Ansammlungen zu vermeiden. Eine reine Briefwahl ist nicht geplant. Unklar ist, wie die Wahlkampf-Veranstaltungen ablaufen werden. Aber das schreckt beide Regierungschefs nicht ab – im Gegenteil, sie setzen darauf, dass die Wähler angesichts der Pandemie keine Experimente wollen und ihr (blamables) Krisenmanagement durch eine Wiederwahl honorieren“.
(23-05-2020 – Letzter Eintrag der zwölften Coronavirus-Woche im Baskenland, zum Abschluss der zehnten Alarm-Woche mit relativer Ausgangssperre. Am morgigen Sonntag erscheint an gleicher Stelle ein Beitrag, der weiterhin Tages-Ereignisse kommentiert.)
(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-05-17)