Im Süden nichts Neues
Dass Politikern Wahlen wichtiger sind als die Gesundheit der Bevölkerung, wundert wenig. Weil am 12. Juli 2020 baskische Regionalwahlen sein sollen, beginnt ab sofort der Wahlkampf, der ohnehin nie aufhörte. Erste Stimmen sprechen wieder von Tourismus, dabei hat Spanien die Grenzen zugemacht, wer von Frankreich kommt geht zwei Wochen ins Quarantäne-Lager. Denen die Exzesse bei den neu gewonnenen Viertel-Freiheiten nicht gefallen, müssen sich ab sofort den Vorwurf des Stockholm-Syndroms anhören.
Das Baskenland ist in Lockerungs-Phase Zwei. Das bedeutet wenig mehr als in der vorherigen Phase. Der Alarmzustand wurde verlängert bis 15. Juni. Behörden und Schulen sollen wieder öffnen, aber nur ein bisschen. Die Zentral-Regierung plant eine Minimal-Pension auf Lebenszeit.
(2020-05-24)
71. Tag Alarm – 13. Woche C19
UND EWIG GRÜSST DER SCHULBEGINN
Eigentlich wollte die baskische Regierung alle Oberstufen-Schülerinnen wieder in die Schulen schicken, doch der massive Widerspruch von Direktionen und Gewerkschaften hat zum Teil-Rückzug geführt. Nun sollen nur noch jene in den Instituten auflaufen, deren Prüfungsabschluss in Gefahr ist – die Not(wendigkeit) der Schülerinnen soll im Vordergrund stehen. Die Entscheidungen wurden in die Hände der Rektorate gelegt, sie entscheiden, wer kommen muss und wer nicht. Das gilt natürlich auch für die entsprechenden Lehrerinnen. Man rechne mit 20% aller öffentlichen und privaten Schulen, ist aus dem Erziehungs-Ministerium zu hören.
An den Schulen wird es also keinen Massenandrang geben, vor dem viele einen Horror haben. Bei den Berufsschulen allerdings schon. Weil der Praxisanteil über Internet schlecht zu vermitteln ist, soll die Berufsausbildung auf 100% hochgefahren werden. Werkstätten und Labore sollen sich wieder füllen. Unklar wie das mit Sicherheitsabstand funktionieren soll. Egunon! Olatz
FASCHISTEN MAL ACHT
Die altspanische und neofaschistische Vox-Partei mobilisiert gegen alles, was die Zentralregierung tut oder läßt. Allgemein bekannt ist, dass jene Instanz ihren Sitz in Madrid hat, also weshalb dann dezentrale Aktionen? Die Antwort ist einfach und bereits bei Franco nachzulesen. Die baskischen Lande sind “Verräter-Provinzen“ und müssen somit besonders bestraft werden. Provokation macht besonderen Spaß, weil hier die Reaktion am deutlichsten ausfällt: Polizei, Demonstrationen, Schlagstöcke, Polizeiprügel, Verhaftungen, Strafen. Das Problem: Im Baskenland haben derlei Gehirnamputierte so wenig Zulauf, dass sie gerade mal acht Autos voll bekamen, mit denen sie in strömendem Regen die bilbainische Prachtstraße entlanghupten. Jene Minderheit, die erstaunlicherweise das Verbot der rechten PNV fordert und Frauenhäuser auflösen will, erleidet hier so viel Verachtung, dass die Gesichter besser hinter Autoscheiben verborgen werden.
DAS KREUZ MIT DER KREUZFAHRT
Mit der Pandemie wurden Tausende von Kreuzfahrschiffen auf allen Teilen der Ozeane Anfang März auf Null gebremst. Die Passagiere durften von Bord, wenn die entsprechenden Regierungen ihren Heimflug sicherstellten. An Bord blieb in vielen Fällen das Bordpersonal. Die Küstenwache der USA schätzt die Zahl dieser Eingesperrten auf 60.000 auf 90 Schiffen. Sie hatten keine Chance, dem Lockdown zu entkommen und leiden isoliert von der Außenwelt auf den Schiffen. Es kam zu Suiziden und einem Hungerstreik. Viele erhalten keinen Lohn mehr, dafür müssen sie für Essen und Internet-Nutzung in ihren “Gefängnissen“ bezahlen. Kreuzfahrer sind die touristische Variante der Globalisierung des 21. Jahrhunderts, Bordbedienstete werden zu Sklaven, zu Ruderern der Tomas-Cook-Galeere. Schon vor tausend Jahren haben Kreuzfahrer die Welt mit religiös motivierten Kriegen überzogen.
(2020-05-25)
72. Tag Alarm – 13. Woche C19
UNSERE TÄGLICHE VERWIRRUNG
Anstatt uns unsere Fehler einzugestehen, kehren wir den Müll unter den Teppich. Distopien sind erfundene Geschichten, die die Zukunft entfremden, sie finster und feindlich darstellen. Sie laden dazu ein, die Gegenwart als schmerzliches Bindeglied zwischen einer fiktiven Vergangenheit voller Glück und einer fatalen Zukunft zu betrachten.
Diese Neuerfindung des Erlebten findet Eingang in Erzählungen, sickert auch in politische Sphären, in denen sich Nostalgie in einen Lockruf nach den Wahlstimmen der Unglücklichen verwandelt. Scheinbar erzählen sie den Menschen: wir haben die Zeitmaschine erfunden und wir bringen dich an den Ort zurück, den du verdienst. Doch Reife besteht darin, die Epoche zu akzeptieren, in die du geboren wurdest. Deshalb sind die erfundenen Geschichten nur interessant, wenn sie wie Spiegel die Realität bearbeiten, hin zu einer Form des Anstands und nicht zum Wegschauen, zu dem wir uns viel zu häufig hinreißen lassen. Dass also jede Science Fiction, jede historische Erzählung, jeder Teil einer Epoche, von dem die Rede ist, die jeweilige Zeit nachzeichnet, in der sie sich ereignete.
Stellen Sie sich vor, die Ansteckung mit Coronavirus breitet sich auf unkontrollierte Art über Europa aus, während der afrikanische Kontinent aufgrund seiner klimatischen Verhältnisse verschont bleibt. Verzweifelt würden europäische Familien versuchen, der Krankheit auf hysterische Weise zu entfliehen und sich auf den Weg zur afrikanischen Grenze machen. Sie würden versuchen, das Meer an der Meerenge zu überqueren, würden sich von den griechischen Inseln und an der türkischen Küste in prekäre Boote werfen. Verfolgt vom Schatten einer neuen tödlichen Pest würden sie versuchen, sich von purer Notwendigkeit angetrieben in Sicherheit zu bringen. Doch bei der Ankunft an der afrikanischen Küste würden sie gebremst von den Zäunen, die sie selbst errichtet hatten, von den brutalen Kontrollen und von den unüberwindbarsten Grenzen. Die nordafrikanischen Ordnungskräfte würden erbarmungslos auf die Europäer schießen und ihnen zurufen: geht nach Hause, lasst uns in Frieden, wir wollen eure Krankheit nicht, euer Elend, eure Bedürftigkeit. Um die Brutalität zu steigern, könnten die Drehbuchschreiber einigen Europäern zugestehen, dass sie mithilfe einer ausbeuterischen Mafia afrikanische Ziele erreichen, um dort in feindlich organisierten Quarantäne-Stationen eingesperrt zu werden, wo ihnen ihre Habseligkeiten, ihre Gefühle, ihre Würde genommen werden.
Dies wird als umgedrehte Tragödie bezeichnet. Sie besteht ganz einfach darin, sich die Schuhe des Nächsten anzuziehen, des Leidenden, des Flüchtenden, von denen die nichts besitzen, weil Kriege und Elend ihnen die Erde geraubt haben, auf der sie einst aufwuchsen. Alle Welt weiß, dass die Gesundheits-Krise in Europa in keinem Zusammenhang steht mit dem Migrations-Drama. Dennoch bringt der Gemütszustand der Europäer beide Dinge zusammen. Deshalb tolerieren wir die harte Vorgehensweise und den Verlust menschlicher Werte in der Flüchtlingskrise an der griechisch-türkischen Grenze.
Die Privatisierung der Grenzkontrollen mittels der Zahlung von Millionen von Euros, damit die Türkei als vorgezogene Grenze fungiert, richtet sich nun gegen uns. Wir sind Geiseln einer Mafia, die immer mehr Geld von uns fordert und uns erpresst mit der Drohung, die hungrigen Massen hereinzulassen, mitten in einer Eindämmungskrise und einer Kontrolle aller Bewegungen.
Während die öffentlichen Gesundheitsdienste einen anstrengenden Kampf führen, um die Ansteckungswelle zu bremsen, zeigt die Privatisierung von Krankenhäusern, Labors und Gesundheitshygiene den riesigen Fehler, den wir bei unseren Kalküls zum Konzept der öffentlichen Gesundheitsversorgung begingen. Anstatt die Wahrheit unserer Fehler zu verstehen, kehren wir den Müll unter den Teppich. (David Trueba – El País)
(2020-05-26)
73. Tag Alarm – 13. Woche C19
DÉJÀ VU CAMUS (9)
Rieux kämpft als Arzt gleich dem Sisyphos gegen die Krankheit an und gerät mit Pater Paneloux, welcher die Pest als Strafe Gottes zur Züchtigung des Menschen deutet, in einen Disput. Das Absurde bleibt stetiger Begleiter. Unschuldige Kinder sterben genauso wie Menschen, die es verdient haben, obwohl sich insgesamt das Prinzip erkennen lässt, dass die Pest nur Menschen ohne Solidarität tötet.
HEINRICH HEINE NEUAUFLAGE
Was, du kennst Krähwinkel nicht? Krähwinkel ist ein fiktiver Ort, der zum ersten Mal in einer Satire von Jean Paul im Jahr 1801 auftauchte. Auch August von Kotzebue verwendete diesen Ort in zwei seiner Werke. Krähwinkel gilt als zutiefst spießbürgerlicher Ort und wird als Vergleich für langweilige, spießige und rückständige Provinz herangezogen. Heine verdeutlichte in seinem Gedicht, dass Deutschland (oder Bilbao oder das Baskenland) in seinen Augen genau wie Krähwinkel ein verschlafenes Nest ist, das sich bereitwillig alles von den Herrschenden diktieren lässt. Ähnlichkeiten mit den Alarm-Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie liegen auf der Hand – Heine und Krähwinkel sind aktueller denn je:
Wir Bürgermeister und Senat / Wir haben folgendes Mandat
Stadtväterlichst an alle Klassen / Der treuen Bürgerschaft erlassen.
Ausländer, Fremde, sind es meist / Die unter uns gesät den Geist
Der Rebellion. Dergleichen Sünder / Gottlob! sind selten Landeskinder.
Auch Gottesleugner sind es meist / Wer sich von seinem Gotte reißt,
Wird endlich auch abtrünnig werden / Von seinen irdischen Behörden.
Der Obrigkeit gehorchen, ist / Die erste Pflicht für Jud und Christ.
Es schließe jeder seine Bude / Sobald es dunkelt, Christ und Jude.
Wo ihrer drei beisammen stehn / Da soll man auseinander gehn.
Des Nachts soll niemand auf den Gassen / Sich ohne Leuchte sehen lassen.
Es liefre seine Waffen aus / Ein jeder in dem Gildenhaus;
Auch Munition von jeder Sorte / Wird deponiert am selben Orte.
Wer auf der Straße räsoniert / Wird unverzüglich füsiliert;
Das Räsonieren durch Gebärden / Soll gleichfalls hart bestrafet werden.
Vertrauet Eurem Magistrat / Der fromm und liebend schützt den Staat
Durch huldreich hochwohlweises Walten / Euch ziemt es, stets das Maul zu halten.
(2020-05-27)
74. Tag Alarm – 13. Woche C19
IM TIEFSTEN INNEREN
Die Pandemie existiert real, das verdeutlichen nicht nur die Toten. Die Bekämpfungs-Strategien sind ziemlich unterschiedlich, von Laissez-Faire in Schweden bis hart-autoritär in China oder Südkorea. Im kapitalistischen Westen wurde deutlich, dass die staatlichen Gesundheits-Systeme komplett überfordert waren von der plötzlichen gigantischen Herausforderung, falls (wie in USA) überhaupt relevant vorhanden. Sozialkürzungen und Privatisierungen hatten das G-System ausgedünnt und handlungsunfähig gemacht. Obwohl die Welt in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Herausforderungen erlebt hat – AIDS, Rinderwahn, Schweinepest, Eboli – und eigentlich hätte vorbereitet sein müssen auf eine neue Qualität von Bedrohung … das Corona schlug ein wie eine Bombe (Sorry für den militaristischen Begriff, aber tatsächlich war es kriegsähnlich, was danach geschah).
Kein Wunder, dass die Reaktionen der betroffenen Regierungen eher schwach und chaotisch ausfielen, zögerlich und inkonsequent. Nichts war einfacher als die Kritik an deren Krisen-Management. Dabei ist zu unterscheiden zwischen sachlicher Kritik und interessierter Strategie. Die falschen Zahlen, fehlenden Masken und Tests der baskischen Regierung, zum Beispiel, sind Faktoren für berechtigte Kritik, ebenso die Tatsache, dass mitten in der C19-Krise das Team von Seuchen- und Epidemie-Expertinnen ohne Begründung entlassen wurde.
Doch gleichzeitig wuchern Verschwörungs-Theorien – abwechslungsweise sind die USA, China oder Bill Gates für die Pandemie verantwortlich. In Deutschland haben sich Ultrarechte (“Wir sind ein Volk“) an die Spitze der außerparlamentarischen Opposition gestellt, kritisieren den Lockdown und husten sich maskenfrei an. Eine vernünftige Argumentation war aus dem Verschwörungslager – links oder rechts – bislang allerdings noch nicht zu vernehmen.
Gegenwind der ganz besonderen Art erlebt derzeit die links-liberale spanische Regierung. Nicht, dass ausgerechnet sie alles richtig gemacht hätte, im Gegenteil. Zumindest gab es einen glaubwürdigen Frontmann, dem wir – im Gegensatz zur baskischen Nullnummer – den Experten abnehmen konnten. Die Zentralregierung agierte zentral (!!!) und ließ es an Dialog mit den doch sehr unterschiedlich geprägten autonomen Regionen (vgl. Bundesländer ohne Bund) weitgehend fehlen. Aber nicht deshalb rutscht sie in einen Sumpf von Kloakenpolitik und Lobbyismus.
Denn im Staate macht die Ultrarechte mobil. Zur Erinnerung: Kurz vor dem Lockdown bestand die neofaschistische Vox-Partei auf einer Großveranstaltung in Madrid, bei der sich folgerichtig fast die ganze Parteispitze komplett ansteckte. Es folgte die Demonstration zum internationalen Frauentag, die ebenfalls zu Covid-Opfern in der politischen Klasse führte. Nun schlägt die Ultrarechte zurück. Mit aller Polemik und versteckten Waffen. Eine Richterin in Madrid – stramm rechts, versteht sich – hat die Guardia Civil mit einem Gutachten beauftragt, um zu prüfen, ob der sozialdemokratische Gesundheits-Minister und sein Pandemie-Experte möglicherweise für die Ausmaße der Pandemie im Staate verantwortlich gemacht werden können. Weil sie den Alarm-Zustand zu spät erklärt haben, trotz besseren Wissens, dass die Seuche bereits weit fortgeschritten war.
Weil das Ganze hinter dem Rücken des (für die Guardia Civil zuständigen) Innen-Ministeriums stattfand und bei der politischen Gesinnung der Autoren des Berichts von einer für die Regierung negativen Schilderung auszugehen ist, hat der Innen-Minister (ein ehemaliger Richter, der Folter systematisch gedeckt hat) den Chef der Guardia Civil (einen verurteilten Folterer) aus dem Amt entlassen. Dessen Stellvertreter ging anschließend freiwillig. Vor der Presse stellte der Minister den Vorgang als natürliche Ablösung innerhalb von Institutionen dar, seinem Gesicht und seinem Stottern war zu entnehmen, dass er log. Als befriedende Maßnahme schob er eine allgemeine Gehaltserhöhung für alle GC-Beamten nach. Auffallend transparent, oder nicht?
(2020-05-28)
75. Tag Alarm – 13. Woche C19
BESUCH IN STOCKHOLM
Wieder sind die Straßen der Altstadt voll mit Lieferwägen und Passantinnen. Am ersten Tag der Aufhebung des Einschlusses. Bis auf die Kneipen haben alle Läden wieder auf, es herrscht ein Gewusel, das mich ziemlich irritiert. Überall lange Warteschlangen, vor Banken, Tabakläden, Gemüsegeschäften, Lotteriebüros, Metro. Keine Chance, auch nur den geringsten Abstand zu halten. Dieser wichtige Abstand. “Dabei fehlen sogar die Touristen!“, kommentierte eine Freundin, als ich ihr von meinen Wahrnehmungen berichtete. Ich kann es mir gar nicht ausmalen, dieses Bild. Fast 11 Wochen sind es her, als die Stadt von jetzt auf nachher einen ruhigen und friedlichen Eindruck zu machen, ohne Lärm, Autos, aggressive Fahrer und Gestank. Nur die stillen Menschenschlangen vor den Supermärkten. Das ist wieder vorbei. Ich beginne, die Stadt zu hassen. Voller Neid hatte ich die Geschichten gehört von Freundinnen, die auf dem Land leben. “Für uns hat sich der Alltag praktisch nicht verändert“, hört ich mehr als einmal. Kein Virus, keine Gefahr, keine Kontrolle, der Abstand zwischen den Lebenseinheiten musste nicht organisiert werden, es gab ihn bereits vorher, weil da niemand zusammengepfercht lebt. So steigt in mir Widerwillen und Ablehnung auf, gegenüber diesem kreischenden atemraubenden Leben in der Stadt, das mir die Ruhe und die Distanz nimmt.
Wie sich der Wunsch zu Körperabstand doch breit gemacht hat in meiner Alltags-Vorstellung. Nähe ist bedrohlich geworden. Während sich das Äußere verändert, geht das Innere einen anderen Weg. Zwei Wochen war ich nicht im Supermarkt. Als der Ausgang stundenweise wieder erlaubt war, kam Freude auf über neu gewonnene Freiheit. Es folgte der Dämpfer, weil sich die frei gewordenen Massen sofort zu konzentrieren und sammeln begannen. Herdentiere. Nur in der Natur, im Wald fühle ich mich wohl, die Stadt macht mir Angst.
Eine Freundin sagt, ich hätte Anzeichen des Stockholm-Syndroms. Das Internet klärte mich auf: DAs Stockholm-Syndrom ist ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert. Der Begriff des Stockholm-Syndroms geht auf einen Banküberfall mit Geiselnahme 1973 in Stockholm zurück. Vier Angestellte wurden als Geiseln genommen. Es folgten mehr als fünf Tage, in denen die Medien auch die Angst der Geiseln bei einer Geiselnahme illustrierten. Dabei zeigte sich, dass die Geiseln eine größere Angst vor der Polizei als vor ihren Geiselnehmern entwickelten. Trotz ihrer Angst empfanden die Geiseln auch nach Beendigung der Geiselnahme keinen Hass auf die Geiselnehmer. Sie waren ihnen sogar dankbar dafür, freigelassen worden zu sein. Zudem baten die Geiseln um Gnade für die Täter und besuchten sie im Gefängnis.
(2020-05-29)
76. Tag Alarm – 13. Woche C19
SCHALL UND RAUCH
Diesen Bericht hatte ich seit 11 Wochen erwartet! Coronavirus ist eine schwere Grippe und Lungenentzündung – was liegt da näher, als Rauchen als schädliche Zugabe zu betrachten. Bereits in den ersten Tagen des Lockdown-Einschlusses überkam mich ein tiefes Ekelgefühl, wenn ich unter den wenigen auf der Straße befindlichen Personen welche rauchen sah. Mein Gefühl sagte mir, dass Rauchen derzeit genauso schädlich ist wie angestecktes Husten oder Nießen. Elf Wochen lang wurde das Thema nicht aufgegriffen, vielleicht nicht ohne Grund: zum Schutz der Tabakindustrie? Zum Schutz der Steuereinnahmen? Tabakgeschäfte waren jedenfalls nie vom Einschluss betroffen.
Eine Studie hat nun ergeben, dass der Tabak-Verkauf im Einschluss-Monat April um 26% sank. Seltsamerweise ist dabei von Verkauf die Rede und nicht von Konsum. Dass dieser Rückgang in Gipuzkoa (54%), Nafarroa (50%) und dem katalanischen Girona (62%) regional sogar deftiger ausfiel, hat geografisch Gründe: alle drei Provinzen haben eine gemeinsame Grenze mit dem französischen Staat. Dort ist der Tabak weit höher besteuert, also teurer, und die Süchtigen ließen sich die europäische Grenzenlosigkeit nicht entgehen, um sich auf der südlichen Seite mit dem beruhigenden Gift zu versorgen. Bis Corona kam und die Grenzen schloss.
Im April wurden 136 Millionen Schachteln verkauft, 2019 waren es 185 Millionen. In der ersten vier Monaten ging der spanische Konsum um 5,9% zurück auf sage und schreibe 649 Millionen Schachteln (was ist eigentlich mit den Tabakdrehern?). Aber nicht nur die Gift-Industrie verdient. Auch der Staat steht in der Warteschlange. In vier Monaten waren es 2,3 Milliarden Steuer-Einkünfte aus dem Angriff auf die Volksgesundheit – die sicher nicht zur Einrichtung von Lungen-Heilanstalten ausgegeben werden. Die üblichen Jahres-Einnahmen belaufen sich auf 9 Milliarden.
Die Leute hätten weniger geraucht, heißt es. Wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit angesichts der Pandemie, drohender Arbeitslosigkeit … und weil die Osterwoche in den April fiel, denn auch Touristen rauchen kräftig. Wegen Anti-Rauch-Kampagnen und dem Rauch-Verbot in öffentlichen Einrichtungen und Gastronomie fiel die Zahl der Konsument*innen elf Jahr lang, bis sie sich 2019 stabilisierte. 2008 wurden 4,5 Milliarden Schachteln verkauft, 2019 nur noch die Hälfte: 2,2 Milliarden.
Am kommenden Sonntag “feiert” die zuletzt so viel gescholtene Welt-Gesundheits-Organisation WHO den üblichen “Globalen Tag ohne Tabak“. Dabei werden die Strategien der Tabak-Industrie angegriffen, die auf der Suche ist nach neuen Klient*innen. Attraktive Geschmacksrichtungen, Tabak-Werbung in Serie und Filmen, Anwesenheit in den sozialen Medien über bezahlte Influencer … so soll der Profit gesichert werden. Die WHO erinnert an die 8 Millionen Raucher*innen, die ihre Sucht jährlich mit dem Leben bezahlen – das schafft nicht einmal das Coronavirus. Um die Klientel bei der Stange zu halten gibt die Tabak-Industrie jedes Jahr 8 Milliarden für Marketing aus: das macht tausend Euro pro Tabak-Toten.
Dass Rauchen schädlich ist, hat nun auch die baskische Gesundheits-Nekane entdeckt. Rauchen verschlimmere die Situation von Covid-Infizierten. Der Tod könne so schneller eintreten. Hört, hört, Nekane! In ganzen zwölf Wochen ist diese Schlussfolgerung gereift! 93.629 Raucher*innen hat Nekane auf ihrer schwarzen Liste, 57% sind Männer. Besonders gut vertreten ist die Altersgruppe zwischen 45 und 64 Jahren. Bei der Altersgruppe 16 bis 25 überwiegen die Mädchen und jungen Frauen. 2.742 Raucher*innen versuchten 2019 über die Hilfsprogramme der baskischen Regierung das Rauchen sein zu lassen. In Navarra ist der Anteil der Konsument*innen von 31,5% (2000) auf 19,5% (2017) zurückgegangen. Da ist noch viel zu tun. Mein Traum ist, einmal quer durch Bilbao zu gehen ohne Rauch zu sehen oder zu riechen! Olatz
(2020-05-30)
77. Tag Alarm – 13. Woche C19
AUSGEBUCHT
Ich gönne es ihnen. Allen. Ohne Einschränkung. Auch denen, in deren Speiseraum ich nie selbst Essen gehen würde. Sie waren ausgebucht. Zum ersten Mal seit 12 Wochen ausgebucht: die Gaststätten Bilbaos. Wenn es sich nicht um große Ketten handelt, kämpfen sie ums Überleben, die Mehrheit. Ich gönne es all jenen, die sich das abendliche Mahl leisten können. Auch wenn sie im Moment der vorübergehenden Glückseligkeit möglicherweise-wahrscheinlich jene vergessen, die sich das nicht leisten können. Oder nie konnten. Die Gastronomie im Baskenland ist das ultimative Kriterium der Normalität, oder der Rückkehr zu ihr. Heute Abend sind die Menschen glücklicher als nach dem Kauf des letzten Autos oder nach der Geburt des Zweitgeborenen.
Während in Mitteleuropa das Leben sowieso in den eigenen vier Wänden stattfindet, brauchen die Südeuropäerinnen die Straße und Bars wie die Luft zum Leben. Insofern haben sie eine Phase hinter sich, in denen das Leben verboten war. Somera, Pozas, Ledesma, Barrenkale sind in Bilbo Synonyme für Poteo, wie die Baskinnen ihre Trinkgewohnheiten nennen. Momentan ist Trinken eingeschränkt und Dinieren auf 50% reduziert. Egal. Gefeiert wird, was geht, die übrigen 50% müssen eben Schlange stehen, wenn sie sich nicht rechtzeitig über die Covid-App angemeldet haben.
Auch die Kids ziehen nach. Mit ihren Botellón-Runden. Die darin bestehen, sich im Kreis zu setzen und Billiggetränke zu mischen, Bier, Wein, Whisky – was auch immer. Das war schon vor dem Lockdown verboten, und jetzt nicht weniger. Aber die Wächter der Ordnung scheinen ihre freien Tage genommen zu haben. Es ist Wahlkampfzeit. Das können ordnende Hände zu Stimmverlusten führen. Ab jetzt werden keine Schutzmaßnahmen mehr kontrolliert, ab herrscht Populismus pur.
Ich gönne es auch jenen, die neue Terrassenplätze in den Straßencafés zugesprochen bekamen. Auch wenn die Sympathie für diese Maßnahme ihre Grenzen hat. Zugegeben, nur 50% der Straßenplätze bedienen zu dürfen, ist eine wirtschaftliche Einschränkung der leidgeprüften Gastronominnen. Zugegeben, eine Erweiterung der Platzzahlen ist eine Maßnahme, dieses Leid zu lindern. Doch gilt meine Sympathie ausdrücklich nur bis zur Rückkehr des Tourismus. Denn Straßencafés, so lieb sie den Touris auch sein mögen, sind eine Besetzung von öffentlichem Raum für private Zwecke. Bei denen Interessen der Anwohnerinnen in der Regel ausgeschlossen sind.
Vor allem gönne ich den Abend den – meist schlecht bezahlten – Gastro-Bediensteten, die nach zwölf Wochen wieder etwas Münz-Gewicht im Geldbeutel spüren. Denn auf die Zahlung des Ausfallgeldes wegen vorübergehender Arbeitslosigkeit müssen sie seit März bis in den Juli warten. Im Schlechten liegt das Gute, im Guten liegt das Schlechte, hätte Adorno dazu gesagt, dass die Kellnerinnen vielleicht zum ersten Mal in ihrer Karriere froh sind über den wie-auch-immer bezahlten Neubeginn. Denn andere warten selbst darauf noch, vielleicht umsonst. Die Kneipe, in der ich selbst gearbeitet habe, ist der Prototyp alter Tabernas in Bilbo: lange Theke aber klein, tisch- und stuhlfrei, ohne Terrasse in der engen Straße. Beim Stehen gelten keine 50%. Keine Chance zur Öffnung. Nur die Miete läuft weiter. Agur für diese Woche! Olatz
(30-05-2020 – Letzter Eintrag der dreizehnten Coronavirus-Woche im Baskenland, zum Abschluss der elften Alarm-Woche mit relativer Ausgangssperre. Am morgigen Sonntag erscheint an gleicher Stelle ein Beitrag, der weiter Tages-Ereignisse kommentiert.)
(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-05-24)