Run zu Strand, Grill und Wahlurne
Lockerung in Zeiten von Coronavirus bedeutet, offiziell wieder mehr Bewegungs- und Versammlungsfreiheit zugestanden zu bekommen. Süchtig wie die baskische Bevölkerung nun mal ist, ist für viele Lockerung gleichbedeutend mit locker über die Stränge schlagen. Nach dem Lemmings-Motto “Alle in die Kneipe“ heißt es nun “Alle an den Strand“ oder “Alle an den Grill“. Eine simple Verlagerung der Massen-Ansammlungen, von urban nach rural. Die Ansteckungszahlen begleiten bisher. Tourismus ist ein Fremdwort.
(2020-05-31)
78. Tag Alarm – 14. Woche C19
DER RUN AUF STRAND UND GRILL
Bewegungsdrang, Freiheitsdrang und endlich mal wieder auf den Putz hauen – das sind die Schrittmacher, die derzeit die Mehrheit der baskischen Bevölkerung mit Adrenalin versorgen. Die Wieder-Eröffnung erster Kneipen vergangene Woche führte sofort zu Überfüllung, trotz 50%-Regelung. Nun war sogar wieder der Gang ins Innere der Gastro-Hallen erlaubt. Wer 11 Wochen auf etwas wartet, was normalerweise Tages- oder Wochenend-Brauch ist, kennt kein Halten mehr. Wer 11 Wochen auf das geliebte Gaspedal verzichten musste, hat vergessen, was ein Zebrastreifen ist. Kilometer dreißig im Stadtgebiet Bilbao existiert nur für die mediale Galerie und in der Wahlkampf-Strategie des rechten Bürgermeisters. Schlechte Zeiten für sensible Gemüter.
ALLE REDEN VON GEFANGENEN
Auffällig in den vergangenen Tagen, wie viele Institutionen und Initiativen sich mit Personen in Gefängnissen befassen. Die baskische Regierung hat hier keine Kompetenzen, alles wird aus Madrid dirigiert. Deshalb will der Ober-Baske Urkullu mit seinem Kabinett und Coronavirus als Bewegungsmotiv Gefangene ins Baskenland holen. Nicht nur die politischen Gefangenen, etwa 200 an der Zahl, deren Familien die Dispersion erleiden, die Verteilung auf verschiedenste weit entfernte Anstalten im ganzen Staat. Die Rede ist auch von sozialen Gefangenen, die ihren Lebensmittelpunkt im Baskenland haben, aber die Drogen vielleicht in der falschen Region verkauft haben. Gruppen, die sich kontinuierlich mit dem Knast-System auseinandersetzen, hatten bereits vor Wochen die Entlassung aller kranken Gefangenen gefordert, von jenen über 70 Jahren und denen, die ausreichend Zeit abgesessen haben. Was in Great Britain ging, war in Spain kein Thema.
Seit zwei Wochen mobilisiert die radikale Linke wegen des Hungerstreiks eines baskischen Gefangenen in Andalusien, dem übel mitgespielt wurde und wird, und der keinen anderen Ausweg sah, als nichts mehr zu essen und zu trinken. Wasser nimmt er wieder, führt den Hungerstreik aber weiter zur Erlangung von kollektiven Rechten von Gefangenen. Bei so viel Mobilisierung konnte auch die institutionelle baskische Linke nicht stillhalten und begann ihrerseits mit einer Kampagne, eine Mischung aus Vor-Wahlkampf und Themen-Rettung, denn die Frage der Gefangenen hat – es mag überraschen – nicht gerade erste Priorität. Dazu wurden alte Meinungs-Verschiedenheiten mit den Radikalen vertieft, was nicht gerade zu Schulterschluss und Sammlung von Kräften beiträgt. Auch nach der vernichtenden und von Verboten geprägten Corona-Situation haben viele ganz offenbar noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt. Die Ultrarechte holt zum Schlag aus, die neoliberale Rechte sucht nach Strategien, zu den alten Profiten zurückzukehren, die baskische Rechte will die Wahlen gewinnen, die Madrider Sozialliberalen wollen am Ruder bleiben und Zwietracht in der baskischen Linken. Ein Sammelsurium von Egoismen. Kein Grund besonders glücklich zu sein, dass wir wieder an den Strand dürfen.
(2020-06-01)
79. Tag Alarm – 14. Woche C19
WIE DER CORONA NACH VALENCIA KAM
Wundersam. Wie die Jungfrau zum Kind kam eine spanische Stadt zum Coronavirus. Nicht nur wegen der Verantwortungslosigkeit der staatlichen Behörden, auch mit äußerem Zutun und angesichts einer Blindheit vor der schlimmsten Droge des Erdballs. Die Geschichte spielt in Valencia an der Mittelmeer-Küste. Wir schreiben den 10. März 2020, ein Dienstag. Bereits jetzt deutet sich an, dass die spanische Regierung in Kürze den Alarmzustand ausrufen und ein Reiseverbot erlassen wird. In Italien wurde der gesundheitliche Alarmzustand bereits am 31. Januar (6 Wochen zuvor) verkündet, am 11. Februar (vier Wochen zuvor) wurde dort der Lockdown verkündet. Im “Stiefel“ wurden bis zum 10. März bereits Fußballspiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen oder ganz abgesagt. Alle beteiligten Fußball-Instanzen versuchten trotz allgegenwärtiger Todesdrohung die Spielbetriebe in den Ligen und in Europa mit allen Mitteln durchzuziehen. So viel Geld stand und steht zur Debatte.
Das Fußball-Heiligtum Champions-League hatte kurz zuvor die Spiele nach der Winterpause wieder aufgenommen, der italienische Club Atalanta Bergamo sollte beim FC Valencia das Rückspiel bestreiten. Böse Zungen warnten, das sei ein Harakiri, auch wenn die Ränge leer blieben. Zweieinhalb Monate später räumte der Trainer des italienischen Teams nun mit seinem schlechten Gewissen auf und gab zu, dass er einen Tag vor dem Spiel ziemlich krank gewesen sei, mit Corona-Symptomen. Am Spieltag selbst sei es kaum auszuhalten gewesen. Ein Test wurde nie gemacht, serologisch wurde der Virus bei ihm jedoch festgestellt. Bilanz: mehrere Ansteckungen von Spielern und Betreuern; wo Fußball und Millionen im Spiel sind, wird Gesundheit zur Nebensache. Seither vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwelche Macho-Funktionäre über die schnellstmögliche Wiederaufnahme von ich-wie-nicht-was schwadronieren. Geld und Fußball regieren die Welt. Ich hasse Fußball! Olatz
(2020-06-02)
80. Tag Alarm – 14. Woche C19
WER NIMMT HIER WEN ERNST?
Vor zehn Tagen posaunte der Bürgermeister in Bilbao lautstark, im ganzen Stadtgebiet sei nunmehr Kilometer-30 angesagt, das habe außer Bilbao (also ihm) noch niemand veranlasst. Bilbao ist einfach Weltspitze, das wussten wir bereits. Seither düsen die Macho-Deppen mit 90 durch die Straßen, vor den Augen der Polizei. Kein Wort, keine Kontrolle. KM-30 für die Galerie. Mann nimmt sich noch nicht einmal selbst ernst, außerdem ist Wahlkampf, da sollen alle überzeugt werden, das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen: die Ökologen mit dem High-Speed-Limit, die Raser mit der unbegrenzten Freiheit.
Die Lockerungsmaßnahmen nach dem Einschluss hatten zur Voraussetzung, dass die ersten Schritte in die “neue Normalität“ mit großer Vorsicht zu erfolgen haben. Die Expertinnen warnten vor der schlimmen zweiten Welle. Für wohlerzogene Bürger und Bürgerinnen sollte vornehme Zurückhaltung kein Problem sein. Erstes Phänomen war die Überfüllung von Straßencafés, zweite Folge die Rückkehr der Jugendbesäufnisse, in diesem Fall außerhalb der Stadtkerne, unsichtbar. Drittes Phänomen war der Run auf die Strände: alle machen alles gleichzeitig, ich muss mich wiederholen. Denn neulich habe ich am linken Flussufer eine 25 Kilometer-Wanderung durch weite Teile des Großraums Bilbao gemacht und war die meiste Zeit allein.
Viertes Phänomen: Nachdem die Strände wieder geschlossen oder die Zugänge limitiert wurden, strömten Jugendliche und Familienclans in Grillparks. “Darauf waren wir nicht vorbereitet, wir haben das erst hinterher mitbekommen“, kommentierte eine ratlose Bürgermeisterin, als sie am nächsten Morgen Putztrupps in die total versauten Anlagen schicken musste, die mit Tonnen von Müll gefüllt waren. Hier nimmt sich niemand ernst, alle sind wieder “Ich“ und müssen nachholen, was sie scheinbar verpasst haben. Koste es was es wolle.
EUSKADI RAUS AUS SPANIEN
Dieser Tage wurde ein kleiner Traum der Befürworterinnen der baskischen Unabhängigkeit wahr. Wenn auch nur scheinbar und infolge des typischen Coronavirus-Zahlenchaos. Die spanische Regierung meldete Null Tote für den Tag, die baskischen Behörden zählten immerhin fünf. Rückschluss: wenn baskische Tote nicht in die spanische Statistik einfließen, kann Euskadi nicht zu jenem Staat gehören. Dasselbe galt für Katalonien, denn auch dort wurden Tote registriert. Die baskische Gesundheits-Nekane (Ministerin) erklärte das Ganze so: Es könne schon sein, dass in Madrid 1.600 Kurierte plötzlich aus der Statistik genommen werden. Oder, dass Tote als Kurierte gezählt wurden, weil sie ja auf der Intensivstation nicht mehr zu finden waren. Und dass viele Tote noch gar nicht statistisch erfasst seien. Auch sei denkbar, dass manche Covid-Geheilten dreimal gezählt worden seien: einmal nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, das zweite Mal nach einem negativen Folge-Test und das dritte Mal bei der Rückkehr ins normale Gesundheits-System. Deshalb sei die Zahl der baskischen Covid-Kranken von einem Tag auf den anderen von 263 auf 1.865 gestiegen. Alle Klarheiten beseitigt. Was haben wir gelacht. Nicht einmal die politische Klasse nimmt sich ernst, das Gefühl für Lächerlichkeit ist vollends verloren gegangen. Wir haben es mit einem Polit-Kabarett dritter oder vierter Klasse zu tun. (Olatz)
(2020-06-03)
81. Tag Alarm – 14. Woche C19
GUTSCHEINE FÜR ARME
Rührend wie sich die öffentlichen Verwaltungen, die Stadt-, Provinz-, Regional- und Zentral-Regierungen um die Verfluchten der Pandemie kümmern. Um jene, die am meisten unter den Folgen des Covid zu leiden hatten. Täglich werden Millionen-Programme verkündet, die die Not lindern sollen. Wessen Not? Doch wohl die der Verfluchten dieser Erde!
Als der Fond für die unabhängigen Kleinunternehmer (im Baskenland: Autonomos) online ging, war der Topf in 30 Minuten leer. Die vorübergehend in die Kündigung Geschickten sehen frühestens im Juli Eingänge auf ihren Konten. Die freiberufliche Musik-, Theater-, Kino- oder generell Kultur-Szene sieht sich einem harten Fünf-Jahres-Todeslauf gegenüber. Überleben unwahrscheinlich, Kultur ist identitär aber verzichtbar. Im Bereich der tausenden von traditionellen gastronomischen Kleinbetrieben (Minibars) ist ohne großen Pessimismus Massensterben angesagt. Die gerade beschlossene Minimal-Rente auf Lebenszeit ist an Bedingungen gebunden und muss erst in Gang kommen. Und was heißt schon auf Lebenszeit, wenn die nächste Regierung eine after-franquistische PP-VOX-Koalition sein sollte, die den “sozialdemokratischen Rotz“ wieder weghaut.
Mit 150-Euro-Gutscheinen, hieß es aus dem Rathaus Bilbao, solle den Ärmsten unter die Arme gegriffen werden, um Armut und Hunger zu lindern. Die Aktion stellte sich als dreifache Lüge heraus: erstens pure Propaganda ohne jegliche Breitenwirkung; zweitens stand dahinter nicht die Verwaltung, sondern eine Konsum-Kooperative; drittens waren die Gutscheine verteilt, bevor die Kinder Franz Fanons davon mitbekamen. Parteiliche Verteilung im nahen Wahlvolk. Das Leben ist schon die Hölle, die Pandemie die nächste Stufe.
In der Hierarchie stehen schon die Nächsten Schlange, um an Staatsgelder zu kommen. In diesem Fall handelt es sich nicht um hunderte von Euros, die verteilt werden, sondern um Millionen. Der französische Staat will die privatisierte Fluggesellschaft mit 7 Milliarden “retten“. Um dem Tourismus wieder Leben einzuhauchen sollen ebenfalls Reisebeschränkungen verkürzt und Unternehmen gerettet werden. Italien hat heute die Grenzen wieder geöffnet. In diese geifernde Warteschlange haben sich auch die Anbieterinnen von lukrativen privaten Tourismus-Unterkünften eingereiht. Jene, die einfache und notwendige Mietwohnungen auf den Tourismusmarkt verschieben. Jene, die den Markt an Mietwohnungen an Fokuspunkten des Tourismus zum Erliegen gebracht haben. Jene, die – ob sie das nun hören wollen oder nicht – dafür sorgen, dass Menschen aus ihren angestammten Vierteln vertrieben werden, weil die Preise derart steigen, dass sie nicht mehr bezahlbar sind.
Sie sehen sich als Steigbügelhalter des 6%- Tourismus-Anteils am baskischen Inlandsprodukt (in Spain sind das 15%). Zu den verheerenden sozialen Nebenfolgen geben sie sich wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts dazu sagen. Ausfallgeld für die gesellschaftliche Erosion wollen sie allerdings lautstark kassieren. Dagegen haben Basis-Initiativen in vielen von Tourismus vergifteten Städten reagiert. Auch in Bilbao.
Ähnliches gilt für traditionelle Kleinbetriebe, die sich – in der Altstadt Bilbaos zum Beispiel – wir Sardinen im Haifischbecken vorkommen müssen. An dieser Rettung, sagen die Aufruferinnen, können alle teilnehmen. Wenn sich die Nachbarinnen und Konsumentinnen nur bewusst werden über ihre eigenen Kaufgewohnheiten. Nicht immer zum Supermarkt rennen, sondern zur Kenntnis nehmen, dass der Rioja-Wein beim Bäcker genauso gut und billig ist wie bei den Ketten. Dass das Gemüse besser beim kleinen Shop um die Ecke gekauft wird, anstatt in der Makromeile. Und dass es kurz-, mittel- und langfristig besser ist, 50 Cent mehr für die Tomaten zu bezahlen, wenn sie aus dem Null-Kilometer-Umfeld kommen. Wir haben viel zu lernen, zu bewahren und zu erreichen. Packen wir es an. Gegen die Großen, gegen die Trittbrettfahrer, Ketten und Absahner. Gesundheit, Würde, Solidarität, Nähe. Olatz
(2020-06-04)
82. Tag Alarm – 14. Woche C19
LORBEEREN VON KRANKENPERSONAL ABGELEHNT
Asturien gilt als die Brutstätte Kastiliens. Unter dem Namen Prinz-von-Asturien-Preise werden seit 1981 jährlich Ehrenpreise für besondere Leistungen verteilt. Im Namen des vielgescholtenen und Skandal- wie Korruptions-verdächtigen spanischen Königshauses. Preisträger können Einzelpersonen, Institutionen oder Gruppen aus der ganzen Welt sein, die sich durch ihren Lebenslauf (ähnlich den Nobelpreisen) in einer der folgenden Kategorien ausgezeichnet haben: Kunst, Literatur, Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften, Eintracht, internationale Zusammenarbeit, Wissenschaft und Sport. Auch Steffi Graf und der nordamerikanische Dopingkönig Armstrong befinden sich unter den “Gekrönten“.
In Sterbezeiten mit Coronavirus lag es nahe, dass dieser Einschnitt in der Menschheitsgeschichte nicht spurlos an der Preisvergabe vorbeigehen konnte. Die rechte Presse jubelte, als bekannt wurde, dass ein diesjähriger Preis dem Krankenpflege-Personal generell verliehen werden sollte, also all jenen, die “an vorderster Front für die Gesundheit des Vaterlandes kämpfen“.
Einige der “Betroffenen“ fanden das gar nicht lustig. Denn erst wurden sie von Politik und Verwaltung bei ihrer Mammutaufgabe im Stich gelassen. Und nun sollte ihnen, propagandistisch-populistisch in rosa Farben untermalt, Honig ums Maul geschmiert werden, wie der Volksmund in germanischen Breiten zu sagen pflegt. Mit dem Hashtag #Ich-will-keine-Preise-von-Dieben (No-Quiero-Premios-De-Ladrones) haben viele Krankenpflegerinnen den Preis der Krone abgelehnt und fordern stattdessen mehr Haushaltsmittel und mehr Personal für ihren Arbeitsbereich. Gleichzeitig haben sie das Könighaus dazu aufgefordert, “den geraubten Reichtum zurückzugeben“. Das Thema ist nicht neu und brandaktuell. Denn allgemein bekannt ist, dass der abgetretene König mit Öl und Waffen Millionengeschäfte machte und von Null zu einem der reichsten Spanier aufstieg. “Die Borbonen sind korrupt“: jeden Tag ein neues Kapitel in der Teleserie.
Auch der andere Anteil des Preisvergabe-Skandals ist weitläufig bekannt. Nach Kürzungen und Privatisierungen blieb das Pflegepersonal in vielen Orten von der Obrigkeit verlassen, hatte keine Schutzkleidung, musste seine Rechte vor Gericht einklagen und war dem Virus ausgesetzt wie keine andere Berufs- oder Bevölkerungsgruppe. Mehr als 60 Ärztinnen und Pflegerinnen starben selbst am Virus. In einigen Krankenhäusern führte der Mangel an gesundem Personal zum Kollaps. Und nun der Ehrenpreis. “Danke, dass ihr uns uneigennützig den Arsch freigehalten habt. Danke, dass ihr euch für unser Patria-Vaterland aufgerieben habt. Danke auch dafür, dass die neoliberale Maschinerie so schnell wie möglich wieder in Betrieb gesetzt werden kann. Nach dem Preis werden wir selbstverständlich mit den Privatisierungen weiter machen“. Spain is different, hieß es auf Tourismus-Werbe-Plakaten. Ganz so different nun auch wieder nicht. Auch im Baskenland wurde das Pflegepersonal verheizt, mit Zahlen gelogen. Der Unterschied: 80% der Bevölkerung lehnt das korrupte Könighaus ab. Agur Borbonolandia. Löst euch selbst auf, bevor wir es tun. Olatz
(2020-06-05)
83. Tag Alarm – 14. Woche C19
GESUNDHEIT REBELLIERT GEGEN PREKARITÄT
In spanischen Städten sind Beschäftigte des Gesundheitswesens gegen ihre Arbeitsbedingungen, miserable Löhne und Privatisierungen auf die Straße gegangen. Nach einem improvisierten Aufruf der "Notwendigen Gesundheitsarbeiter" (sanitarios necesarios) ordnet sich der Protest nun. Die Bevölkerung wird zur Beteiligung an den Protesten aufgefordert.
Besonders stark ist die Bewegung in der Hauptstadtregion Madrid. Bewaffnet mit Schutzmasken und meist mit weißen Kitteln bekleidet versammelte man sich, um "prekäre Arbeitsbedingungen" aufzuzeigen. Das Coronavirus habe die prekäre Lage noch deutlicher gemacht, "die wir seit langem erleiden", fügt sie an und nimmt am zweiminütigen Schweigeprotest teil, bei dem der Sicherheitsabstand von zwei Metern penibel eingehalten wurde.
"In primärmedizinischen Versorgungsstationen fehlt die notwendige Verstärkung und auch das Material für die Lockerung der Maßnahmen. Sie haben nichts, keine Kittel und keine Masken", sagt die Sprecherin der Initiativen in einem Madrider Krankenaus. "Wir kämpfen ohne Waffen", wird deshalb geklagt, oft schutzlos einer tödlichen Gefahr ausgesetzt zu sein. Die Folgen sind deutlich: Fast 52.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen haben sich infiziert, mehr als 21% aller festgestellten Infektionen. Fast 80 Krankenpfleger und Ärzte haben ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt. Noch immer liegen mehr als 4.500 Infizierte in Krankenhäusern, mehr als 600 kämpfen auf Intensivstationen um ihr Leben. Nicht wenige Beschäftigte sind aber auch massiv enttäuscht darüber, dass die sozialdemokratische Regierung gerade angekündigt hat, die Löhne der paramilitärischen Guardia Civil und Nationalpolizei zu erhöhen, während von einer vernünftigen Bezahlung im Gesundheitswesen weiter keine Rede ist.
"Wir wollen ein Gesetz, das das öffentliche Gesundheitswesen absichert", erklärt eine der Sprecherinnen der Bewegung der Gesundheitsarbeiter. Die Krankenschwester fügt an: "Es darf weder Privatisierungen noch Mittelkürzungen geben, ausgelagerte Leistungen müssen in die öffentliche Hand zurückgeführt und die Arbeitsbedingungen verbessert werden." Sie verweist sie auf eine Petition, die schon von fast 180.000 Menschen unterzeichnet wurde und ein "100% öffentliches Gesundheitswesen" fordert. Im Rahmen der Finanzkrise ab 2008 gab es massive Einschnitte, seitdem wurden fast 29 Milliarden Euro im spanischen Gesundheitswesen eingespart, etwa 30.000 Stellen wurden gestrichen und Löhne gesenkt. In Madrid wurden allein etwa 3.000 Stellen und 2.000 Krankenhausbetten geopfert, die nun in der Pandemie gefehlt haben. In Spanien war hier der zentrale Infektionsherd. Privatisierungen des Gesundheitswesens haben die Katastrophe in der Hauptstadtregion mit verursacht.
Fast 17.000 Tote hatte allein die Hauptstadtregion, zeigt eine Studie der Vereinigung der Bestattungsunternehmen auf. Sie geht insgesamt von fast 44.000 Toten in Spanien aus. Diese Zahl wird vom Statistikamt noch höher angesetzt, hier wird von 48.000 Toten gesprochen. Offiziell sollen es dagegen nur 27.000 Tote sein. All das habe ich bei Ralf Streck und Telepolis gelesen – Olatz.
(2020-06-06)
84. Tag Alarm – 14. Woche C19
SEXISMUS IN DER LINKEN
Schlechte Nachrichten. Die bürgerliche Presse berichtet. In einer der in der baskischen Linken beliebten Herriko-Taberna-Kneipen kam es zu einem sexistischen Übergriff. Solche Nachrichten tun immer weh, mehr noch, wenn sie einen solchen sozial-politischen Hintergrund haben. Zwei Tage hat es gedauert, bis die Meldung auch in linken Medien reproduziert wurde. Gegenprobe ist nötig und aufschlussreich. Was ist geschehen im gipuzkoanischen Zarautz? Ein 40-jähriger Gast hat eine 19-jährige Bedienstete zu später Stunde und in Gegenwart von anderen belästigt, angegriffen, nicht zum ersten Mal … Genaueres ist nicht bekannt. Massiv erschwerend kommt hinzu: der Aggressor ist ein ehemaliger Stadtrat der linksbaskischen Partei Sortu. Was deutlich macht: die Gewalt kommt nicht “von außen“, sie ist unter uns.
Die verschiedenen Quellen bestätigen den Sachverhalt, der sich vor sechs Monaten ereignet hat. Vor sechs Monaten? Kann das wahr sein? Im Dezember vor sechs Monaten? Und ich als Feministin erfahre heute Juni davon? Das ist gravierend. Den mittlerweile verschiedenen Quellen folgend, wurde nach Bekanntwerden des Übergriffs eine Kommission gegründet (hört sich nach höheren parlamentarischen Sphären an), die den Fall bearbeiten sollte. Dann kam das Coronavirus, die Kommission blieb auf der Strecke, die Bearbeitung ebenso. Und wie so häufig: das Opfer blieb ungeschützt allein. Niemand hielt es für nötig, die Allgemeinheit zu informieren, auf welche Weise auch immer.
Mit den Anfängen der Post-Covid Lockerungs-Maßnahmen hat eine Frauengruppe namens Danba Gazte Asamblada (Danba Jugend-Versammlung) den Sachverhalt öffentlich gemacht und zu einer öffentlichen Protest-Kundgebung mobilisiert, die im Zentrum der Küstenstadt viele, viele auf den Platz trieb. Den Funktionären der offiziellen baskischen Linken wird vorgeworfen, sie hätten den Fall verschleppt, um ihn zu deckeln und den Täter zu schützen. Deckeln ist ein anderes Wort für verschweigen. Damit wären wir auf der Ebene von Umgehensweisen mit Missbrauch und Vergewaltigung in bürgerlichen Kreisen: die Kirche verschweigt, der Vatikan schweigt, die Partei X dementiert … die Filmindustrie leugnet. So lange Zeit nichts von dem Angriff erfahren zu haben, trifft mitten ins Herz. Es stellen sich Fragen: Was ist die Haltung der Linkspartei Sortu? Was halten die Feministinnen dieser politischen Richtung von dem Angriff, seiner Verheimlichung und dem möglichen Schutz des Aggressoren?
DAZU PASST …
Ein Urteil von Cordoba. Gegen vier Vergewaltiger. Ein mildes Urteil, sei vorweg gesagt. Bei den vier Gewalttätern handelt es sich um Mitglieder der 5er-Gruppe, die bei den Fiestas von San Fermin in Pamplona vor vier Jahren eine junge Frau gemeinsam und mehrfach vergewaltigt hatten. Der Prozess wurde zu einem öffentlichen Skandal ersten Ranges. Ein erst entschuldigend niedriges Urteil wurde von der nächsten Instanz deutlich verschärft, nachdem in der ersten Instanz die Vergewaltigung geleugnet wurde.
Im Rahmen der Ermittlungen kam zum Vorschein, dass vier der fünf Vergewaltiger aus Pamplona ein Jahr zuvor an einer Vergewaltigung in Cordoba beteiligt waren. Sie hatten den Gewaltakt selbst gefilmt und auf ihren Handys gespeichert. Im Cordoba-Fall hatten vier der fünf von Pamplona (darunter ein spanischer Soldat und ein Guardia Civil) das Opfer betäubt und sie im Zustand der Bewusstlosigkeit vergewaltigt. Der Richter interpretierte, dass keine Gegenwehr vorhanden gewesen sei, es sich insofern nicht um einen Gewaltakt gehandelt habe: kein Widerstand – keine Gewalt.
Das Opfer von Cordoba hatte bis zur Entdeckung der Videos in Pamplona bezüglich der erlittenen Vergewaltigung eine Bewusstseinslücke, deshalb hatte sie nicht einmal Anzeige erstattet. Man stelle sich nur vor, wie die Beamten reagiert hätten! Ist jemand der Begriff patriarchale Justiz ein Begriff? Wenn bisher nicht, dann aber jetzt! Ausgesprochen wurden zwei Strafen. Die erste wegen des “Übergriffs“: eineinhalb Jahre Strafe. Die zweite, weil die Tat gefilmt wurde: drei Jahre Strafe. Die Botschaft des Richters ist somit: “Wenn schon vergewaltigen, dann mit vorheriger Betäubung. Und bitte nicht filmen, denn das wird strenger bestraft als der Gewaltakt selbst.“
Die Herriko Taberna im Badeort Zarautz ist mir wohl bekannt. Mehr als einmal haben wir dort gemütlich getrunken und gegessen, nachdem wir zuvor auf dem Friedhof die letzten Opfer des Franquismus gewürdigt hatten. Unter diesen Umständen geht kein Weg in dieses Lokal zurück. Einmal mehr kommt mir das Zitat von Anja Meulenbelt in den Sinn: Haltet die Welt an, ich will abspringen. Olatz
(2020-06-07)
85. Tag Alarm – 15. Woche C19
REISGERICHTE DER WELT
Vom Fokus der baskischen Arbeiterbewegung zum Brennpunkt von Armut und Migration. Der Stadtteil San Francisco in Bilbao hat in den vergangenen 50 Jahren so ziemlich alles erlebt: Erzbergwerke, Migration aus spanischen Regionen, Arbeitskämpfe, Militärkasernen, Travestieszene, Minenschließungen, Prostitution, Verfall, Heroin, Überalterung, neue Migration aus dem Trikont, Gentrifizierung. In keinem Stadtteil leben so viele Menschen aus Zentralafrika, Asien, Nordafrika und Lateinamerika. Manche sprechen von Getto, viele braven Bürger der Stadt haben noch nie einen Fuß in den Stadtteil gesetzt. Andere sprechen von Integration und Interkulturalität und machen sich an die Arbeit.
In San Francisco wurde vor 17 Jahren die Idee zu “Reisgerichte der Welt entwickelt: Munduko Arrozak, Arroces del Mundo. Die Idee ist einfach. Reis ist ein Lebensmittel, das in jeder Gastronomie-Kultur um den Erdball seinen Platz hat, ein universelles Grundnahrungsmittel. So wurden alle Bewohnerinnen des Viertels aufgerufen, gemeinsam auf den Barrioplatz zu kommen und auf offener Gasflamme ein Reisgericht zu zaubern, um es danach gemeinsam mit der Familie, Landsleuten oder Freundinnen zu verspeisen. Auch ein Wettbewerb der Gerichte gehört neben Tanz, Musik und Demonstration zum Programm. Wer sich nicht nur auf die eigene Clique konzentriert, hat bei Arrozak die ideale Gelegenheit, andere Nachbarinnen und andere Kulturen kennen zulernen. Die Idee macht Schule und existiert in weiteren zehn Städten des Baskenlandes.
Die Corona-Pandemie hat dem Projekt einen Rückschlag versetzt. Nicht daran zu denken, dass sich 4.000 Personen auf einem ziemlich überfüllen Platz am “Herzen Marias“ treffen, wie dies im vergangenen Jahr der Fall war! Doch wollten die Veranstalterinnen den Termin Anfang Juni auch nicht einfach tatenlos verstreichen lassen. Wie in vielen anderen Bereichen wurde zu einem virtuellen Reis-Tag aufgerufen. Kleine Kreise von Personen sollten sich zusammentun, zu Hause kochen und essen, und ein Foto des Erlebten an die Integrations-Zentrale schicken.
Gesagt getan. Wir verabredeten uns – in einer Häusernische auf der Straße, illegal – und genossen trotz schlechtem Wetter eine Paella mit Rioja-Weißwein und Palaver. Zuvor hatte die Koordinadora noch zu einer Kundgebung aufgerufen, bei der alle mit einem Reis-Hemd, einem Plakat und einer Maske kommen sollten, um in der Öffentlichkeit die Bedeutung der Veranstaltung hervorzuheben. Es kamen ausreichend viele, um in Zwei-Meter-Abstand den Platz zu besetzen.
San Francisco braucht solche Projekte und viele andere mehr, die in dieselbe Richtung weisen. Was der Stadtteil nicht braucht ist mehr Polizei. Die ließ es sich während der Kundgebung nicht nehmen, massiv Präsenz zu zeigen. Eine Wanne, vier weitere Fahrzeuge, knapp 20 Beamte machten sich neben der Kundgebung breit. Als wären Ausschreitungen oder Plünderungen zu erwarten. Es ist die Strategie der Stadtregierung, die zu solch absurden Szenen führt. Ich habe Demonstrationen mit 2.000 Personen erlebt, die von zwei Verkehrspolizisten begleitet wurden. Aber 120 Integrationswillige brauchen eine Überwachung von einer kleinen Polizeiarmee. Weiße Nachbarinnen haben in den vergangenen drei Einschluss-Monaten keine Kontrollen erlebt, immer traf es Leute aus dem Maghreb oder aus Zentralafrika. Ethnozentrierte Verdachtsmomente. Institutioneller Rassismus. Lasst euch den Reis wohl schmecken – Olatz.
(2020-06-08)
86. Tag Alarm – 15. Woche C19
RASSISMUS IN ZEITEN DER CHOLERA
Wenn in den USA Schwarze auf der Straße umgebracht werden und danach straffrei bleiben, sind dies dramatische Ereignisse. Drei Tage Empörung, ein Präsident spricht beschwichtigende Worte und zurück zur Tagesordnung. Übrig bleibt wenig bis zum nächsten Polizeimord: eine Erinnerung an die Ausschreitungen nach der Prügelorgie gegen Rodney King in Los Angeles … vor allem aber Black Lives Matter, die erste nennenswerte Organisierung nach der Black Panther Party.
Warum der zynische Übergang zur Tagesordnung nach dem Mord an George Floyd nicht funktionierte, bleibt mir bisher ein Rätsel. Warum es ausgerechnet nach seinem Tod zu Ausschreitungen gegen Polizeikräfte und Institutionen, sowie Plünderungen kam, habe ich bislang nicht verstanden. Ich gestehe offen, dass ich mich zu deren Zurückweisung ausdrücklich nicht hinreißen lassen will. Verurteilung einer gewalttätigen Straßenaktion angesichts einer langen Serie von ungestraften Polizeimorden ist zynisch. Ohne die umgekippten Container und die Feuerspiele in Minneapolis und anderswo wäre das mediale Interesse innerhalb von wenigen Tagen auf Null abgesunken. “Menschen sterben und ihr schweigt, Scheiben klirren und ihr schreit“ war eine Parole der 1980er Jahre, die die kleinbürgerliche Ambivalenz zwischen den verschiedenen beobachteten Gewalten auf den Punkt brachte. Die staatliche Gewalt wird einmal verurteilt, die widerständische Gegenreaktion jeden Tag. Wie es staatliche Instanzen fordern. Im Baskenland können wir Bücher darüber schreiben.
Dass der Mordfall (ausdrücklich: Mord) auch in Europa seine Kreise zieht ist begrüßenswert. Denn nicht nur die USA sind von der (nie erklärten) Pandemie Rassismus infiziert. Im Europa-Parlament sitzen Parteien, die von mehr als 100 Millionen ultrarechten Stimmen gewählt wurden. Dass der Tod von George Floyd gerade in Pamplona zu einer massiven und deutlichen Reaktion führte, ist nachvollziehbar. Die Antworten in den übrigen baskischen Metropolen haben hingegen etwas überrascht. In der navarrischen Hauptstadt wurde im Jahr 2016 auf ganz ähnliche Weise der Afrikaner Elhadji Ndiaye von der Polizei zu Tode gebracht. Festnahme, Schwitzkasten, Tod. “I can’t breathe.“ Wenig später wurden die Untersuchungen zu dieser Polizeiaktion eingestellt. Diese Erfahrung von Rassismus, Schutzlosigkeit und polizeilicher Straffreiheit bleibt haften im Bewusstsein der schwarzen Gemeinde und hatte nun eine Chance zu einer erneuten Kristallisierung. Schwarze Fäuste im baskischen Himmel.
Die schwarzen Gemeinschaften organisieren sich. Nicht nur nach Landeskulturen oder Religionen, auch zum Kampf um ihre Rechte als Straßenhändler. Und für die Anerkennung ihrer Menschenrechte. Dabei gehen sie riesige Schritte. Möglicherweise war der Tod von George Floyd und der wiederkehrende gesellschaftliche Rassismus das Ventil, das auch im Baskenland allenthalben zu Empörung führte. “Wir wollen unseren Platz in der Gesellschaft. Wir haben Rechte, die anerkannt werden müssen.“ Mit diesen Forderungen sind afrikanische Gemeinden anderen ethnischen Gruppen weit voraus. Etwa den maghrebinischen Nachbarinnen, die sich in Nischen zurückziehen und sich über ihre Lage beklagen.
Persönlich hatte ich keine Gelegenheit, dieser Massenkundgebung von bis zu zweitausend Personen im Zentrum Bilbaos beizuwohnen. Ganz einfach, weil ich nichts davon erfuhr. Auch nicht über meine zwanzig WhatsApp-Gruppen, die ständig über alles Un-Wichtige der Welt informieren. Das gibt zu denken. Dazu passt die Beobachtung bei der Kundgebung für das interkulturelle Festival “Reisgerichte der Welt“ im migrationsbeladenen Bilbao-Stadtteil San Francisco. Unter den etwa 120 Anwesenden war keine schwarze Haut vertreten. Bei den vergangenen Reis-Festen kamen bis zu 4.000 Personen zusammen: Roma, Latinas, Maghrebinerinnen, Baskinnen und viele Afrikanerinnen. Einen Tag vor ihrem großen Auftritt gegen Rassismus waren sie nicht präsent. Auch das gibt zu denken. Es macht deutlich, wie weit wir von tragenden Verbindungen entfernt sind. Auch jene Personen mit gutem Willen. Antirassistische Grüße – Olatz.
(2020-06-09)
87. Tag Alarm – 15. Woche C19
NEUE KLEINE FLAMMEN
“Rebrote“ ist momentan das Zauberwort in Zeiten des Coronavirus. Das spanische Wort kommt eigentlich aus der Pflanzenwelt und bedeutet Knospe, Schössling. Es kann auch mit “Wiederaufflammen“ übersetzt werden. Damit sind wir beim Thema. Nach Wochen von sinkenden Covid-Zahlen und Lockerungen wurden im Baskenland nun gleich drei Rebrotes ausgemacht. Und das ausgerechnet in den drei Krankenhäusern, die wochenlang für Schlagzeilen und Krisenberichte in den Nachrichten gesorgt hatten. Txagorritxu in Vitoria-Gasteiz, Cruces und Basurto in Bilbao. Fürs erste sind es nicht viele Fälle, etwa zwei Dutzend, wichtig ist vor allem, zu erfahren, woher die Neuansteckungen kamen. Um zu kalkulieren, wie viele Kontaktpersonen wieder in Quarantäne geschickt werden müssen. Das betraf bereits um die 40 Krankenpflegerinnen, die sofort aussortiert wurden. Die Fälle machen deutlich, dass bisher nicht die distanzlosen Exzesse in der Bevölkerung in Kneipen, Parks und Stränden zum Wiederaufflammen geführt haben, sondern dass es die Heilanstalten sind, in denen sich das Virus eingenistet hat, um weiter Sprünge zu machen. Wer wollte jetzt schon ins Krankenhaus, auch wenn der Blinddarm zwickt.
NEUE OPIUMLIEFERUNG
Kein Tag im Lockdown-Einschluss verging in den vergangenen drei Monaten ohne leidenschaftliche Diskussion über die wichtigste Droge der männlichen Hälfte der Weltbevölkerung. Ob die Ligen und Turniere denn nun abgesagt werden müssten, ob mit oder ohne Zuschauerinnen, ob dieses Jahr oder nächstes, wie hoch der Einnahmeverlust … Die Europa-Meisterschaft (die Bilbao fürchterlich zu treffen versprach) wurde nach 2021 verlegt. In Frankreich wurde die Leidenschaft in den Stadien vorläufig für beendet erklärt, im spanischen Staat steht man kurz vor der Wiedereinführung des Opiums fürs Volk.
Welche Bedeutung das Medium hat, machte nicht zuletzt ein Statement des Präsidenten der europäischen Verbände deutlich. Fußball könne zur Genesung der Gesellschaft beitragen, die ja wegen des Coronavirus mehrheitlich eingesperrt sei. Dafür hob er das Beispiel der deutschen Bundesliga lobend hervor, der ersten großen Liga, die sich wieder in den Wettbewerb stürzt, ohne dass Zuschauer rassistische Beleidigungen auf das Grüne hinausschreiben können, denn sie haben schlicht keinen Platz bei diesem virtuellen Showdown. “Wir vertrauen auf die Deutschen, deren Behörden arbeiten überaus ernsthaft. Es geht nicht nur um Fußball. Wir sprechen von deprimierten Menschen, wir sind eingeschlossen, es gab viel Unsicherheit. Der Fußball bringt das Leben auf ein gewohntes Niveau, auf dem Weg zur Rückkehr zur Normalität. Der Fußball bringt positive Energie. Zu Hause bleiben zu müssen lässt sich leichter ertragen, wenn es im Fernsehen Sport zu sehen gibt. Deshalb sind die Deutschen ein großes Beispiel, ich hoffe sie haben viel Erfolg!“
Diese empathisch und sozialpädagogisch klingenden Töne sind selbstverständlich nur die Spitze des Eisbergs. Unter der Wasseroberfläche schwimmt ein riesiger Berg von Kapitalinteressen. Die Verlegung der FB-EM zum Beispiel folgte nicht einfach epidemiologischen Kriterien, denn es ging um Milliarden, die dieses Jahr nicht und nächstes Jahr nur vielleicht verdient werden können. Profi-Spieler schacherten mit ihren Clubs um die Senkung ihrer Millionen-Gehälter, Prozentpunkte wurden hin und her geschoben. In den Medien entstand gelegentlich der Eindruck, die wirkliche Pandemie sei der Wegfall der Männerdroge.
In einem hat der europäische Kicker-Chef sicher Recht: es geht nicht nur um Fußball. Ganz genau! Es geht vielmehr um die Droge, die alles andere erträglich macht. Durch die Balkone der baskischen Kicker-Gesellschaft ging am Tag der ausgefallenen Pokalfinales zwischen Real Sociedad und Athletic ein ungeheuerlicher Adrenalinschub, Virtualität wurde zur kollektiven Einbildung. Wenn mein Team gewinnt, bin ich eine Woche lang ein zufriedener Mensch! Wer ins Stadion geht, ist nicht bei der Demonstration gegen Privatisierungen. Wer am Stammtisch über Messi diskutiert, reflektiert nicht über die Ursachen der Pandemie. Opium fürs Volk. Der Kapitalismus und die neoliberale Europäische Gemeinschaft brauchen den Fußball dingender als eine Senkung der Abgaswerte. Eine Niederlage im Finale kann ganze Nationen in die Verzweiflung zwingen. Ich hasse Fußball – Olatz.
(2020-06-10)
88. Tag Alarm – 15. Woche C19
FRAUEN OHNE DACH
Sozialpolitik und Hilfe für die Ärmsten der Armen war noch nie die Stärke der politischen Rechten. Trotz gegenteiliger Propaganda. Die Stadtverwaltung der Industriestadt Barakaldo mit 100.000-Einwohnerinnen hat mitgeteilt, dass die Herberge für obdachlose Frauen definitiv geschlossen werde. Sie wird regiert von den baskischen Christdemokraten.
Gegen diesen Beschluss gehen nun Frauen der Gewerkschafts-Organisation Argilan auf die Straße. Anfang März hieß es bereits, das Haus solle vorläufig geschlossen werden. Dann kam das Coronavirus. Die Frauen wurden in einem Haus zusammen mit Männern untergebracht, Verhältnis fünf zu sechsunddreißig. Das führte zu Problemen. Zwei Frauen mussten diese Herberge verlassen, weil sie sich von sexistischen Übergriffen bedroht fühlten. Nun sollen alle wieder auf die Straße. Bis vor Kurzem war es wegen der Pandemie verboten, ohne Alibi auf der Straße zu sein, nun schickt die Rechte ausgerechnet Frauen wieder gerade dort hin. Auf die Kale Gorria, wörtlich übersetzt: die rote Straße, gemeint ist die harte Straße. Keine Verantwortung, kein Mitleid, kein Respekt. Kale Gorria, die brutale Straße.
(2020-06-11)
89. Tag Alarm – 15. Woche C19
KONZENTRATIONSLAGER
Privatisiert wird überall dort, wo private Unternehmen Profite machen können. Altersheime sind dabei keine Ausnahme. Manche meinen, dass dort eine bessere Versorgung stattfindet als in den öffentlichen 0815-Einrichtungen. Dies sei fürs erste dahingestellt. Profit entsteht, wenn die Einnahmen höher sind als die Ausgaben. Wie werden Ausgaben reduziert? Am Besten über das Personal. Weniger Angestellte, mehr Profit. Weniger Angestellte bedeuten aber auch weniger Betreuung, weniger würdiges Leben. In Zeiten von Coronavirus wurden viele private Altersheime zu regelrechten Konzentrationslagern (nicht das erste Mal, dass ich den Begriff benutze). Dass sich im Bereich Altersheime gutes Geld machen lässt, zeigt die Tatsache, dass Investitionsfonds besonders interessiert sind an dieser Art von “Geldanlage“.
Dass es in Madrider Alten- und Pflegeheimen zu dantesken Szenen kam und alte Menschen einfach zum Sterben zurückgelassen wurden, ist seit Ende März bekannt. Was damals unklar war kommt jetzt ans Licht. Der Madrider Sozialminister hatte bei seinem Kollegen von der Gesundheits-Behörde der Region um Hilfe nachgesucht, da viele Heime völlig überlastet und überfordert waren. Wenn keine Hilfe komme, würden "viele Bewohner sterben", schrieb er am 22. März und warnte vor "gravierenden rechtlichen Konsequenzen". Seine Emails an den Gesundheits-Minister blieben unbeantwortet. Beide Politiker sind von rechten Parteien.
Zwischenzeitlich wurden Handlungs-Anweisungen an Altenheime und Krankenhäuser verschickt, dass bestimmte alte und erkrankte Menschen nicht mehr in Krankenhäuser überstellt werden sollen. Es sollte ausgesiebt werden. Dafür wurden Ausschlusskriterien für jene Patienten definiert, die "nicht ins Krankenhaus" gebracht werden sollen. Das heißt, man legte es programmatisch darauf an, Menschen sterben zu lassen, die einen großen Pflegeaufwand mit sich bringen. Zu denen, die nicht mehr an Hospitäler überstellt wurden, gehörten jene, die von Pflege abhängig waren. Gemeint waren "fragile", aber zugleich "stabile" Menschen. So wurde eine “Fragilitätsskala von 1 bis 9" erstellt. Patienten der Klasse 7 bis 9 wurden vom Krankenhaus-Aufenthalt ausgeschlossen. Patienten des Grades 7 seien stark gebrechlich, wird erklärt. All das legt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine Art Euthanasie über das Coronavirus handelte.
Mittlerweile laufen verschiedene Klagen gegen die politischen Verantwortlichen, wegen Totalvernachlässigung und “Euthanasie“. Das hält die rechte Regierung der Region Madrid (mit neofranquistischer Unterstützung) nicht davon ab, weiter Einsparungen im Sozialbereich vorzunehmen und weiter zu privatisieren. Ein Horror – Olatz.
(2020-06-12)
90. Tag Alarm – 15. Woche C19
PLÄNE MACHEN
Vor fünfzig Jahren habe ich Pläne gemacht. In welcher Fabrik sollte ich den Ferienjob machen, um mir ein Mofa kaufen zu können. Und wenn möglich, noch eine Elektro-Gitarre, die mir meine Eltern nie bezahlen würden.
Vor vierzig Jahren habe ich Pläne gemacht. An welcher Universität sollte ich was studieren, um etwas Nützliches zu lernen, ein Diplom in die Tasche zu bekommen und nicht weiter an die Zukunft denken zu müssen?
Vor dreißig Jahren habe ich Pläne gemacht. Was sollte ich mit diesem unbrauchbaren Studium anfangen, das ich aus Verlegenheit begonnen hatte und dessen Ergebnis das Verteilen von sozialpädagogischen Placebos war.
Vor zwanzig Jahren habe ich Pläne gemacht. Wohin sollte ich dieses langweilige Land meiner Geburt verlassen, um ohne Staatsdienst mit ungesicherter Tätigkeit in schlichteren Verhältnissen zu leben, dafür etwas zufriedener mit meiner Existenz.
Vor zehn Jahren habe ich Pläne gemacht. Für den Rest meiner Tage wollte ich interessierten Reisenden meine Wahlheimat zeigen, sie in die Geschichte und die Geheimnisse einer fast verschwundenen Sprache einführen und erklären, dass das Hakenkreuz nicht von den Nazis erfunden wurde.
Vor einem Jahr habe ich Pläne gemacht. Kassensturz und eine Anfrage bei der Renten-Versicherungs-Anstalt. Würdiges Leben mit Minimal-Einkommen und wenn nötig eine Portion Schwarzgeld dazu.
Vor vier Monaten habe ich Pläne gemacht. Den Kulturverein umstrukturieren, um neue Aktivitäts-Bereiche zu eröffnen. Jahresplanung mit Bildungsreisen, Konferenzen, Vorträgen und einer Tagung gegen Massentourismus.
Vor zwölf Wochen habe ich aufgehört Pläne zu machen. Ich wurde nach Hause geschickt, ich sollte nur noch zum Einkauf auf die Straße, mir Handschuhe anziehen, niemanden mehr umarmen und per Mundschutz Küsse vermeiden. Zudem wurde ich zum Risikofaktor erklärt.
Gestern habe ich wieder Pläne gemacht. Für die nächsten drei Tage, alles Weitere wäre Illusion. Geschichts-Archiv ausmisten, alte Fotos und Briefe wegwerfen. Das Leben auf Normalmaß bringen, Ballast ablegen, Geschichten und Geschichte notieren. Vorbereitung auf die neue Normalität, in der nichts sein wird wie vorher.
(2020-06-13)
91. Tag Alarm – 15. Woche C19
HÄTTE WÄRE WÜRDE
Am gestrigen 12. Juni hätte die Fußball-Europameisterschaft beginnen sollen, wenn nicht … ja wenn nicht dieses blöde Coronavirus dazwischen gekommen wäre. So kam alles ganz anders. Auch Bilbao wäre betroffen gewesen von jenem Kicker-Groß-Event. Und wieder einmal schieden sich am Fußball die Geister. Nicht die Geister der Fans und Anhänger auf der einen Seite und Hasserinnen (wie ich) auf der anderen. Die Tatsache, dass Bilbao der einzige “spanische“ Spielort gewesen wäre (spanisch … ich lasse mir das Wort auf der Zunge zergehen, bis es bitter schmeckt), teilte die Welt nicht nur in die üblichen Klischee-Gruppen. Sie sorgte dafür, sogar die Gemeinde der Unverbesserlichen, der Unentwegten, der Immerbereiten und Fanatischen in zwei Lager zu spalten. Eine Sensation! Die dem Umstand zu verdanken war, dass ausgerechnet die spananische Auswahl in Bilbao drei Mal auflaufen sollten auf dem heiligen Rasen der bilbainischen Kathedrale (so wird das Stadion San Mamés im Volksmund und in allen Sport-Schreibstuben des Staates genannt). Die “Roten“ in San Mamés: ein Sakrileg, eine Beleidigung, ein Frontalangriff! Alle eingefleischten Athletic-Fans hätten bei einem Referendum für die Absage dieser Europa-Meisterschaft gestimmt. Oder alternativ: für die Teilnahme einer baskischen Auswahl, denn genau das wird schon seit Langem gefordert.
Was wäre zu erwarten gewesen? Zum einen schwedische und polnische Fans, die einen friedlich, die andern ultranationalistisch. Und selbstverständlich Spanier. Echte Spanier, stolze Nationalisten mit Flaggen auf dem Rücken und Stieren auf der Brust. Leute, die es “den Basken“ schon immer mal gerne so richtig zeigen wollten. Faschistophiles Gesindel, immer bereit, dem hooliganistischen Trieb genau dort freien Lauf zu lassen, wo baskische Identität zu orten ist.
Die baskischen Behörden hatten ein ambivalentes Spiel gespielt. Erst zögerlich, sich der UEFA als Standort anzubiedern; dann überzeugt, dass die ungeliebte “Rote“ immerhin Millionen in den Stadtsäckel spülen würde – und in die Kassen von Hotels und Tourismus-Gewerbe. Was uns reich macht ist willkommen. Und wenn es ultrarechte Hooligans sind … all das hätte gestern begonnen, wenn nicht … es lebe das Coronavirus. So zynisch es klingen mag: die Pandemie hat uns vor einer inner-europäischen Epidemie verschont.
Alle hatten sich schon ihren Anteil und ihre Rolle in diesem Welt-Spektakel ausgemalt. Geld verdienen die einen. Die Hoteliers hatten ihre Zimmer bereits zu Multipreisen verkauft; die UEFA hatte sich Steuerfreiheit ausbedungen, Freiwillige sollten die Gewinnspanne der Organisatoren in die Höhe treiben. Die Polizeibeamten wären sauer gewesen über Urlaubssperre und Überstunden, was in der Reaktion zu verstärkter Aggression gegen die einheimischen Protestierenden geführt hätte. Wie immer.
Die Widerständlerinnen waren auf dem Weg in die Schutzbunker. Kneipiers, die sich eher links und abertzal verorten, hatten eine Schließung ihrer Bars in Erwägung gezogen, um den umherschweifenden Ultras keine Angriffsfläche zu bieten. “Stell dir vor, da kommen welch zu mir in die Kneipe, mit spanischen Trikots und nationalistischem Gegröle. Rausschmeißen kann ich die nicht, also lasse ich besser den Laden ganz zu während dieser Tage“, sagte mir einer aus der Altstadt, der gewöhnlich ebenfalls zu den Fans dieses Sports gehört. Am Tag des C19-Alarmbeginns sollte eine Tagung stattfinden der Eurocopa-Gegnerinnen, um Strategien auszutauschen und Widerstand zu vereinheitlichen. Doch Covid sagte nein. Wenig später wurde das fragwürdige Spektakel abgesagt und auf 2021 verschoben. Galgenfrist. Was ich gestern gemacht habe? Eine lange und entspannende Wanderung, weil alle denkbaren Protestversionen ja obsolet geworden waren. Corona sei Dank! Olatz
(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-05-31)