GED01Es ist unser Recht – Gure Esku Dago

„Gure Esku Dago“ ist ein neues politisches Objekt am baskischen Horizont. Gure Esku Dago (Es liegt in unserer Hand / Es ist unser Recht) ist eine überparteiliche Bewegung und Organisation, die sich das Entscheidungsrecht der baskische Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben hat. Streben nach Unabhängigkeit und Entscheidungsrecht wurden in der Vergangenheit immer mit politischen Organisationen in Verbindung gebracht. Gure Esku Dago liegt quer zu dieser Vorstellung und sucht Einschließlichkeit.

(2015-12-29) Als wissenschaftliche Begleitung hat die baskische Bürgerrechts-Bewegung Gure Esku Dago zwei Unternehmen – Scensei und AC4 von der Columbia-Universität New York – beauftragt, um die bisher gemachten Schritte zu analysieren und mögliche Schwachstellen ausfindig zu machen. Im Interview werden die Ergebnisse der Untersuchung in groben Zügen dargestellt, vorher ein Blick auf die Geschichte der Bewegung Gure Esku Dago, deren Name eine zweifache Bedeutung hat: „Gure Esku Dago“ kann übersetzt werden mit „Es ist unser Recht“, aber auch mit „Es liegt in unserer Hand“, denn in der baskischen Sprache sind die Begriffe für Hand und Recht ähnlich. Als Symbol der Organisation wurde folgerichtig ein Zeichen gewählt, das eine Hand symbolisiert.

Geschichte der Bewegung

Die Organisation Gure Esku Dago wurde im Juni 2013 in Irun gegründet mit der Botschaft, die baskische Gesellschaft solle über ihre Zukunft selbst entscheiden. In dieser Organisation stehen nicht die üblichen aus der Politik bekannten Gesichter in erster Linie, sondern Künstlerinnen, Personen aus dem Sport, der Universität oder dem Fernsehen, Musikerinnen, Schriftsteller, etc. Im Vergleich zu Organisationen (meist Parteien), die sich ohne Umschweife für die Unabhängigkeit eines Landes oder auch nicht aussprechen, arbeitet Gure Esku Dago an der demokratischen Kompetenz der baskischen Gesellschaft, ohne ein Ziel vorwegzunehmen. Mit diesem offenen Konzept öffnet sich die Bewegung für Personen, die sich aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit zu bestimmten Parteien nicht mit der Unabhängigkeits-Bewegung identifizieren würden. In diesem Sinne zählt die Bewegung mit Personen fast aller ideologischen Richtungen. Im Vordergrund der Arbeit steht das demokratische Prinzip der Entscheidung durch die Bevölkerung, das Ergebnis kann so oder so ausfallen. Der Unterschied zu parlamentarisch-repräsentativen Entscheidungs-Strukturen ist, dass es keine Gewinner und Verlierer gibt, weil der Prozess an sich bereits ein Erfolg ist.GED02

In den bisherigen zweieinhalb Jahren ihrer Existenz hat die Organisation zwei Mal im großen Stil auf sich aufmerksam gemacht. In zwei medial vielbeachteten Aktionen wurde die Forderung nach dem Recht auf Entscheidung auf die Straßen getragen. Die erste Großaktion fand statt im Juni 2014, sie bestand in der Formierung einer mehr als hundert Kilometer langen Menschenkette zwischen Durango in Bizkaia und Iruña (Pamplona) in Navarra (1). Bei dieser Aktion wurde die Organisations- und Mobilisierungs-Fähigkeit der Bewegung deutlich, indem sie auf Tausende von Freiwilligen zurückgriff, die eine solche Mammut-Veranstaltung über eine derartige Distanz überhaupt erst möglich machten. Die zweite Aktion vom Juni 2015 war weniger erfolgreich (2). Sie bestand darin, die Fußball-Stadien der fünf baskischen Hauptstädte mit der Forderung nach dem Entscheidungsrecht zu füllen. Der finanzielle Aufwand in Form von Mietkosten war enorm, Eintritt zu kassieren für eine politische Veranstaltung wurde von einer Mehrheit abgelehnt. Insofern blieb die Mobilisierung weit hinter den Erwartungen zurück (3).

Im spanisch-baskischen Konflikt, der erst seit wenigen Jahren die Etappe offener bewaffneter Auseinandersetzung hinter sich gelassen hat, kann Gure Esku Dago eine wichtige Rolle spielen. Denn politischer Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist die Frage von historischen Rechten, die kulturelle Anerkennung, und die Anerkennung als Nation oder Volk, was aus der Sicht von ETA und der linken Unabhängigkeits-Bewegung zur Forderung der Loslösung vom spanischen und französischen Staat geführt hat. Mit der Abwesenheit von offener Agression hat sich für Gure Esku Dago überhaupt erst ein Existenz-Spielraum eröffnet, der Wegfall der Gewalt hat für viele Personen in der baskischen Gesellschaft das Thema diskutierbar gemacht (4).

Der katalanischen Logik von lokalen Referenden folgend hat Gure Esku Dago im Baskenland für das Jahr 2016 eine Reihe von selbstorganisierten, nicht offiziellen Volksbefragungen anberaumt, bei denen es um das Entscheidungsrecht gehen soll (5). Die spanische Seite tendiert dazu, solche Referenden zu verbieten. Da sie jedoch keinen offiziellen Charakter haben und keine öffentlichen Stellen involviert sind, können sie durchgeführt werden.

Wissenschaftliche Begleitung

Federführend bei der von Grue Esku Dago in Auftrag gegebenen Untersuchung waren Armando Geller und Kristen Rucki. Armando Geller ist Mitgründer des Forschungs-Unternehmens Scensei, Kristen Rucki gehört zu AC4, einem Institut der Columbia-Universität in New York, das Kooperation, Konflikte und Komplexität erforscht. Geller und Rucki haben bei der Forschungsarbeit die Schritte unter die Lupe genommen, die Gure Esku Dago (GED) in den vergangenen Jahren unternommen hat, sowie das Erscheinungsbild der Organisation. Zu diesem Zweck wurden unter anderem Personen aus unterschiedlichen politischen Lagern interviewt. Untersucht wurden auch die Auswirkungen der Bewegung auf die baskische Gesellschaft. Das Interview (6):

GED03Warum wurden Sie von Gure Esku Dago zu dieser Forschungsarbeit beauftragt?

AG: In allen Konflikten ist ein Blick von außen sehr hilfreich. Wenn du auf einer Konfliktseite stehst, fällt es dir schwer, die Sache mit Abstand zu betrachten. Deshalb ist es eine weise Entscheidung, sich Rat zu holen von einer Seite, die nicht direkt impliziert ist.

Haben Sie schon mehrfach solcherart Untersuchungen durchgeführt?

AG: Wir hatten es mehrfach mit Konflikten zu tun, Afghanistan, Pakistan, Nordirland … und seit drei Jahren arbeiten wir hier in Euskal Herria.
KR: Das Zentrum AC4 an der Columbia-Universität, in dem ich arbeite, ist daran interessiert, die Komplexität von Kooperation und Konfliktlösung zu studieren.
AG: Scensei arbeitet seit drei Jahren mit Columbia an verschiedenen Forschungs-Initiativen, Workshops und Konferenzen, wir kennen uns also gut.

Welcher Methode haben Sie benutzt, um an Daten zu kommen?

AG: Eine gemischte Methodologie aus Umfragen und Interviews. Das hat uns erlaubt, dem Fragebogen zu folgen, den Scensei, Columbia und Gure Esku Dago zusammen erarbeitet hatten. Wir analysieren auch die Sozialen Netze.

Was für Personen haben Sie interviewt?

AG: Wir arbeiten mit einem kleinen Ausschnitt der Bevölkerung. GED hat uns Leute vorgestellt, die uns interessieren könnten und mit denen wir sprechen sollten. Wir sind der Ansicht, dass die baskische Gesellschaft angemessen repräsentiert ist in dieser Gruppe von 50 Personen. Sie kommen aus sehr unterschiedlcihen Bereichen: Unternehmer, Intellektuelle, Politikerinnen aller Couleur, Leute aus sozialen Bewegungen, Gewerkschafterinnen, Leute von Gure Esku Dago selbst. Die meisten darunter sind „Leader“ innerhalb ihrer jeweiligen Gruppe, insofern haben sie eine repräsentative Funktion innerhalb der Gesellschaft.

Was würden Sie aus den Ergebnissen hervorheben?

KR: Bevor wir auf Ergebnisse zu sprechen kommen, sollten wir schildern, was wir gefragt haben: Wie kann Selbstbestimmung ausgeführt werden? Wie hat Gure Esku Dago zur Vergesellschaftung des Entscheidungsrechtes beigetragen? Wir wollten auch wissen, ob die Zivilgesellschaft und die politischen Parteien in diesem Bereich teilgenommen haben und wie die Bevölkerung diese Zusammenarbeit sieht.
Interessanterweise sind manche Leute der Ansicht, dass „Entscheidungsrecht“ und „Selbstbestimmung“ Synonyme sind, viele andere haben das jedoch differenziert. Sie gehen davon aus, dass das Entscheidungsrecht mehr mit dem täglichen Leben zu tun hat, und nichts mit Selbstbestimmung. Viele Interviewte legen außerdem mehr Wert darauf, überhaupt eine Entscheidung treffen zu können, das Ergebnis ist dabei eher zweitrangig. Generell würde ich sagen, dass es Möglichkeiten gibt, demokratische Strukturen zu stärken, indem die Gesellschaft zur Protagonistin wird und eigene Entscheidungen trifft.
AG: Viele sind der Meinung, dass Gure Esku Dago eine notwendige Rolle eingenommen hat. Die Leute sind müde von der traditionellen Politik und von den klassischen politischen Parteien. Auch sind sie es leid, dass es in der Gesellschaft so viele Spaltungen gibt. Manche sehen in Gure Esku Dago einen Motor.

GED04Glauben Sie, dass die Gure Esku Dago-Bewegung am Wachsen ist?

AG: Es ist schwierig, eine Prognose zu machen. Das hängt davon ab, wie sich die Situation im Baskenland entwickelt. Eine unserer Schlussfolgerungen ist, dass Gure Esku Dago auf Hindernisse stößt und diese überwinden muss.
KR: Die Interview-Partnerinnen sagten uns, dass Gure Esku Dago eine große Gelegenheit sei, Leute aus unterschiedlichen politischen Richtungen zu beteiligen. Ich denke, das ist sehr positiv, dennoch müssen sie noch einschließlicher vorgehen, denn es gibt auch Personen, die sich außerhalb des Prozesses sehen.

Nach allem, was sie erforscht haben, glauben Sie, dass der französische und der spanische Staat Schritt nach vorne unternehmen werden?

AG: Bei den Interviews habe ich einen gewissen Pessimismus in dieser Hinsicht wahrgenommen. Doch haben die Interviewten zum Ausdruck gebracht, dass sie für eine aktive Rolle der Gesellschaft im Dialogprozess plädieren. In anderen Worten, der Dialog ist eine Frage der Zivilgesellschaft.
KR: Wenn wir von Zivilgesellschaft sprechen – ich bekam den Eindruck, dass da ein gewisser Optimismus vorhanden ist. Viele gehen davon aus, dass Selbstbestimmung eine Sache der politischen Parteien ist und dass Gure Esku Dago die Rolle zukommt, die Zivilgesellschaft in diese Debatte einzuführen und ihr eine aktivere Rolle zukommen zu lassen.

Haben Sie vergleichbare Prozesse untersucht?

AG: Nein, aber in vielen Interviews wurde auf die Fälle von Katalonien, Quebec, Schottland hingewiesen – das war ein wichtiges Thema.
KR: Unserer Meinung nach sind solche Bezüge wichtig, aber wir empfehlen, dass hier vor allem von der spezifisch baskischen Situation ausgegangen wird.

Was denken Sie, was hat Gure Esku Dago bisher richtig gemacht?

AG: Viele Interviewte sind der Meinung, dass Gure Esku Dago die Denkform der baskischen Gesellschaft verändert hat. Gure Esku Dago hat außerdem andere Organisationen dazu animiert, andere Sichtweisen zum ausdruck zu bringen und das Entscheidungsrecht auf andere gesellschaftliche Bereiche auszudehnen. Viele betrachten das bisher Erreichte als positiv, sowohl linksorientierte Personen alsauch Leute aus anderen Parteien. Gure Esku Dago hat die Vorstellung vermittelt, dass es ein Entscheidungsrecht geben kann. Was soll entschieden werden? Das ist nun die Frage.

Was muss diese Bewegung machen, um vorwärts zu kommen?

AG: Manche sind der Ansicht, dass Gure Esku Dago der Welt der baskischen abertzalen Linken (7) zu nahe steht und dass sie Schwierigkeiten hat, bei Mitgliedern anderer Parteien zu landen, von der baskischen PNV, der spanischen PP … In geografischer Hinsicht existiert das Problem, sich an die gesellschaftliche Wirklichkeit in Navarra und Iparralde anzupassen, so einige Interview-Partnerinnen. Um dies zu verbessern, haben die Interviewten einige Empfehlungen gemacht. Die Leute wollen genauer wissen, worauf Gure Esku Dago hinaus will, das muss besser vermittelt werden. Einige der Interviewten empfehlen das Zurückweisen jeder Form von Gewalt, sei es von Seiten von ETA oder von Seiten der Staaten. Sie gehen von einem demokratischen Defizit aus, von zu wenig demokratischem Dialog, in dieser Hinsicht müsse pädagogisch gearbeitet werden.
KR: Gleichzeitig sagen sie, dass Gure Esku Dago Glücksgefühle vermittelt, Begeisterung, Fest. Ich denke, die Leute wissen das wirklich zu schätzen ...
AG: … aber einige sagen, das sei nicht ausreichend, dass es eine konkretere Tagesordnung geben müsse.GED05

Was empfehlen Sie als Expertinnen?

AG: Gure Esku Dago muss auf die Fähigkeit der Leute Bezug nehmen, ihre Meinung mitzuteilen, in anderen Worten, die Gesellschaft zu ermächtigen. Die Organisation muss klarere Aussagen machen in ihren Botschaften. Sie muss sich Vertrauen erarbeiten. Gure Esku Dago muss ihre Führungsfiguren anhalten, Einschließlichkeit zu propagieren, und dass über das Funktionieren und die künftige Struktur der Organisation nachgedacht wird, sowie über die Rechte von Minderheiten.
Andererseits, als wir uns die Sozialen Netze angeschaut haben, stellten wir fest, dass sich Gure Esku Dago viel stärker darüber bewusst sein sollte, welchen Einfluss sie ausübt. Gure Esku Dago weiß gar nicht, wieviele Menschen sie in der baskischen Gesellschaft vertritt.

 

ANMERKUNGEN:

(1) Artikel „Auch Basken per Menschenkette auf Unabhängigkeitsweg“ (heise.de)

(2) Artikel „Recht auf Selbstbestimmung“ von Baskinfo (Link)

(3) Fotoreportagen zur Aktionen von Gure Esku Dago im Baskenland (Link), Stoffbahn-Aktion am Fluss (Link), Kulturveranstaltung im Stadion San Mames (Link).

(4) Der Gewaltverzicht von Seiten der Untergrund-Organisation ETA bedeutet nicht, dass der Konflikt seither „gewaltfrei“ abläuft. Nach wie vor stehen die spanischen Justizbehörden unter dem begründeten Verdacht, Folter zu praktizieren, Interventionen von Amnesty International und einer UNO-Kommission belegen das. Zudem fordert die „illegale“ Vollzugspolitik, bei der die politischen Gefangenen weit außerhalb des Baskenlandes eingesperrt werden, zu Verkehrstoten unter den Familienangehörigen, die sich auf den Besuchsweg machen.

(5) Webseite von Gure Esku Dago (Link)

(6) Interview in der baskischen Tageszeitung GARA im Artikel „La gente ve necesaria a Gure Esku Dago, está cansada de la división”, vom 25.10.2015 (Viele halten Gure Esku Dago für notwendig, sie haben genug von der Spaltung)

(7) Abertzale Linke: „abertzal“ ist ein Begriff aus der baskischen Sprache, er ist am ehesten mit patriotisch zu übersetzen. Abertzal impliziert kein traditionell nationalistisches Konzept von Unabhängigkeit, sondern ein integratives Konzept von Volk, zu dem alle zählen, die sich selbst als Teil der Gesellschaft definieren, und die Sprache und kulturelle Werte teilen. Einen rechten Abertzalismus gibt es nicht.

FOTOS:

(1) Gure Esku Dago: Menschenkette 2014 (Foto Archiv Txeng – FAT)

(2) Gure Esku Dago: Menschenkette 2014 (Foto Archiv Txeng – FAT)

(3) Gure Esku Dago: Massenaktion im Stadion San Mamés Bilbao 2015 (Foto Archiv Txeng – FAT)

(4) Gure Esku Dago: Massenaktion im Stadion San Mamés Bilbao 2015 (Foto Archiv Txeng – FAT)

(5) Gure Esku Dago: Menschenkette 2014 (Foto Archiv Txeng – FAT)

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