FP VIII 01Kurswechsel gegen baskische Aktivistinnen?

Eine baskische Tageszeitung prophezeit unter Berufung auf Insider-Kreise, dass die Zeiten der spanischen Ausnahme-Gesetzgebung gegen baskische Aktivistinnen vorbei sei. Dazu wird eine Reihe juristischer Entscheidungen aufgeführt, die in den vergangenen Wochen in der Audiencia Nacional gefällt wurden, dem Nachfolge-Gerichtshof der franquistischen Sonderjustiz. Nach dieser Interpretation rückt die Justiz ab von Urteilen, die nach den politischen Vorgaben der Regierung Urteile um jeden Preis suchten.

Die spanische Audiencia Nacional (AN), ein politisches Sondergericht, das offiziell für Verfahren wegen Terrorismus und Drogenhandel zuständig ist, das Hunderte von Jahren an Strafen gegen baskische Politikerinnen ausgesprochen hat, und das Jahrzehnte lang zu Folter die Augen geschlossen hat, steht möglicherweise vor einem Kurswechsel. Laut baskischer Presse steht eine Korrektur der seit 14 Jahren praktizierten Maßgabe an, dass alles, was sich im Umfeld der linken baskischen Unabhängigkeits-Bewegung bewegt, als Teil von ETA zu betrachten sei. Diese „alles ist ETA“-Doktrin hat Hunderte von Aktivistinnen ins Gefängnis gebracht. Vier Jahre nach dem Ende der Gewalt von Seiten der Untergrund-Organisation ETA könnte diese Doktrin nun an ihr Ende gekommen sein. Sollte es so sein, dann nicht allein aufgrund eines Richtungswechsels in der AN-Richterschaft. Denn eine derart politisch charakterisierte Justiz wie die spanische entscheidet nicht unabhängig, vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass ein solcher Kurswechsel auf höchster politischer Ebene eine vorherige Zustimmung gefunden hat (1). Ein halbes Dutzend Gerichtsentscheidungen und Urteile lässt den Eindruck entstehen, dass in der spanischen Sonderjustiz gegen baskische Aktivistinnen ein solcher Paradigmen-Wechsel vollzogen wurde (2). (2016-02-09)

Am 13. Januar 2016 wurde im 04/08 genannten Verfahren gegen 35 Politikerinnen aus dem Umfeld der baskischen Linken völlig überraschend eine beispiellose Vereinbarung getroffen. Die Staatsanwaltschaft (in Einverständnis mit den Opferverbänden als Nebenkläger) schlug eine Vereinbarung vor, bei der die Angeklagten ihre „Schuld“ eingestehen und dafür mit Strafen davonkommen, die sie nicht erneut ins Gefängnis bringen. In dieser Vereinbarung gestehen die 35 Aktivistinnen ein, mit ETA in Zusammenhang gestanden zu haben (was nie zuvor geschehen ist und faktisch sehr unwahrscheinlich ist). Sie gestehen weiter ein, dass durch ihr Verhalten den Opfern von ETA Schaden entstanden sei und verzichten für die Zukunft explizit auf die Anwendung von Gewalt bei der Ausübung ihrer politischen Aktivitäten.

25. Januar 2016: Dreizehn Tage nach dem unerwarteten Pakt, den die baskische Linke als Modell betrachtet, „die Gefängnisse zu leeren", gab das Oberste Spanische Gericht (Tribunal Supremo, TS) den Freispruch von Karlos García Preciado bekannt (3). Er war von der Audiencia Nacional für einen Akt von Straßengewalt zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt worden und befand sich seit 15 Jahren auf der Flucht, bis er in Rom festgenommen wurde. Auch wenn die Formulierungen des aktuellen Urteils noch nicht bekannt sind, ist es möglich, dass das hohe Gericht darauf geachtet hat, bei diesem Freispruch dem Argument der Verteidigung zu folgen. Diese hatte vorgebracht, beim Verfahren sei die Aussage eines Zeugen entscheidend gewesen, der zwar von der Polizei vernommen worden war, jedoch im Prozess selbst nicht erschienen war. Dieser Zeuge hatte behauptet, den Angeklagten wiedererkannt zu haben, er hatte diese Feststellung jedoch nicht vor Gericht wiederholt wie es laut Gerichts-Verfassung des Obersten Gerichts notwendig ist. Insofern war der Beweis nicht gültig. Für die Audiencia Nacional war das kein Grund gewesen, von einem Urteil abzusehen – was ihren politischen Charakter unterstreicht. Denn Jahrzehnte lang ging es um Urteile um jeden Preis. Das Oberste Gericht hat diese Anschauung nun revidiert.FP VIII 02

28. Januar 2016. Die Audiencia Nacional entschied, dass eine Reihe von Verurteilten im Massenprozess 35/02, bei dem es um mehr als 100 Volkskneipen der baskischen Linken ging (4), nicht ins Gefängnis gehen müssen, weil das Urteil zwei Jahre Strafe nicht übersteigt. Hierbei hatte das Gericht einen Ermessens-Spielraum. Normalerweise werden Strafen von weniger als zwei Jahren nicht angetreten, in Verfahren jedoch, bei denen es um „terroristische Straftaten“ geht, hat das Gericht in der Vergangenheit mehrfach auf Strafantritt bestanden. In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Aktionen der Verurteilten nichts mit Gewalttätigkeit zu tun hatten. Im Gegenteil, es wird festgestellt, dass sich die verfolgten Aktivitäten „im Zusammenhang mit einer politischen Tätigkeit“ abgespielt hätten bzw. innerhalb der Aktivitäten von politischen Parteien, und in einer Periode, in der sie politischen Aktivitäten nachgegangen seien. Diese Interpretation steht tatsächlich in krassem Widerspruch zur bisher gängigen Praxis, denn bis vor Kurzem gab es laut AN keine legitime politische Arbeit, die nicht unter das Motto „alles von ETA bestimmt und befohlen“ fiel.

3. Februar 2016. Die Audiencia Nacional sprach fünf Mitglieder der Internationalismus-Organisation Askapena frei (5), für die der Staatsanwalt Sätze von sechs Jahren Gefängnis beantragt hatte, wegen angeblicher „Zusammenarbeit mit einer terroristischen Organisation“. Das Gericht stellte fest, dass keine Anhaltspunkte für eine „direkte Beziehung“ zwischen der internationalistischen Organisation und ETA gefunden wurden, auch nicht zwischen den einzelnen Angeklagten und der bewaffneten Organisation. Auch dies stellt eine Neu-Interpretation einer Situation dar, die vor wenigen Jahren noch 10 oder 15 Jahre Gefängnis bedeutet hätte.

Am selben Tag (3.2.2016) kündigte die AN den Freispruch von vier Angeklagten an, denen vorgeworfen worden war, dreimal versucht zu haben, mit einem Raketenwerfer das Flugzeug des damaligen spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar abzuschießen. Die Richter unterstrichen in ihren Formulierungen, dass es keine Beweise gäbe, die ausreichten, die Teilnahme der Angeklagten an der Tat zu beweisen. Deshalb könnten sie nicht verurteilt werden, obwohl sie selbst die Existenz von zwei Raketenwerfern bestätigt hatten.

„Kurz gesagt, in etwas mehr als 20 Tagen hat die spanische Justiz – insbesondere die Audiencia Nacional (AN), die häufig als Sondergericht bezeichnet wird – ein halbes Dutzend Entscheidungen bekannt gegeben, die bis vor Kurzem undenkbar waren“, so die Schlussfolgerung in der Presse. „Man muss sich in Erinnerung rufen, dass es die AN und der Richter Baltasar Garzon gewesen waren, die 2002 die Lehre vom ‘Alles ist ETA‘ ausgegeben hatten. Dieses Paradigma hatte zu den Verboten von Parteien und Organisationen geführt, und als Anlass bzw. Vorwand für die Inhaftierung von Mitgliedern der baskischen Linken gedient. Obwohl sie bei ihren Aktivitäten keine Gewalt angewandt hatten, war ihnen in einer generell gehaltenen Anklage vorgeworfen worden, auf Befehl der bewaffneten Organisation ETA gehandelt zu haben“.

Die genannte baskische Tageszeitung fragt sich nun, ob diese Aneinanderreihung von Entscheidungen neuer Qualität ein Zufall sei. Kenner der Justiz-Szene, die mit den dortigen Gepflogenheiten vertraut sind, versichern jedenfalls, das Ganze sei alles andere als zufällig. Im Gegenteil, es handle sich um eine Entscheidung, die ausführlich und aufwendig überlegt sei" und bei der es darum gehe, die bisher geltende Doktrin „neu zu orientieren“. Eine Doktrin, die „auf Basis einer Notstandsgesetzgebung wegen terroristischer Bedrohung“ angewandt worden war und die nun einer Rechtsauslegung weichen solle, bei der die Rechte der Angeklagten wieder stärker in den Vordergrund rücken sollten. „Mit Ausnahme von zwei oder drei Richtern, die dem Wandel zögerlich gegenüber stehen, sei die Mehrheit in der Audiencia Nacional von der Notwendigkeit überzeugt, dass die Ausnahme-Justiz eliminiert werden sollte, je nachdem welche Schritte das Umfeld von ETA unternehme“. So die besagten Quellen.

Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei dem Kurswechsel um eine „groß angelegte juristische Ingenieursarbeit“ handle, die auf eine Neuausrichtung der Prinzipien hinaus laufe, die jahrzehntelang für Dutzende von Verurteilungen in der Welt der baskischen Linken geführt hatten. Das Ganze wird eingeordnet unter dem Konzept einer neuen politischen Ära ohne die Gewalt von ETA und einer baskischen Befreiungs-Bewegung (MLNV), die ausschließlich mit politischen Mitteln arbeite.FP VIII 03

In diesem Sinne gibt es zwei politische Tendenzen, die in einem Punkt übereinstimmen. Auf der einen Seite verlassen die Richter die Lehre des Richters Garzón, nach der „alles ETA“ sei; auf der anderen Seite ist die Führung der abertzalen Linken bereit, bei den ausstehenden Rechtsstreitigkeiten zu Verhandlungs-Lösungen zu kommen, dafür wurde in der Linken die Maßgabe ausgegeben, „die Gefängnisse leeren“ zu wollen. Bei dieser Entwicklung bzw. bei dem Kurswechsel habe der Anwalt Iñigo Iruin eine wesentliche Rolle gespielt, er habe innerhalb der baskischen Linken Überzeugungsarbeit geleistet und einen entsprechenden Arbeitsrhythmus durchgesetzt.

In einer vorläufigen Bilanz darf in keinem Fall aus den Augen verloren werden, dass ein solcher Kurswechsel in der spanischen Justiz nicht denkbar wäre ohne die zwar nicht offiziell ausgesprochene aber doch implizite Zustimmung der spanischen Regierung. Schließlich war es die von der Regierung direkt abhängige Staatsanwaltschaft, die (zur großen Überraschung der Angeklagten) die Vereinbarung im 04/08-Verfahren vorgeschlagen hatte. "Bei alledem gibt es eine juristische und eine politische Betrachtungsweise: die juristische Interpretation charakterisiert in diesem Fall die politische Entscheidung. Eine tiefgreifende Bewegung steht bevor“. So die gut informierten Kreise.

Dennoch bleiben viele Fragen offen. Denn die neue Rechtsdoktrin führt nicht zu längst überfälligen Freilassungen von Gefangenen, wie sie in der Vergangenheit in anderen Ländern jeder Friedens- oder Normalisierungs-Prozess erlebt hat. Den Gefangenen geht es schlechter als je zuvor, sie sind so weit entfernt von zu Hause eingesperrt wie nie zuvor. Um ihren ultrarechten Rand zu besänftigen markiert die bisherige spanische Regierung eine eiserne Position (Stand: Februar 2016). Doch sollte sich der Kurswechsel bestätigen und fortsetzen (weitere Massenprozesse stehen an), muss sich die Regierung mit dem Dogmenwechsel nicht identifiziert fühlen und kann einmal mehr die alte Parole von der „unabhängigen Justiz“ aus der Mottenkiste holen. Denn war in der Vergangenheit ein Richter mit einem Urteil einmal ausgeschert, so gab es sofort heftige Kritik aus den politischen Reihen. Bei den geschilderten Urteilen der vergangenen Wochen war das nicht der Fall. Erinnert sei nur an den spanischen Rechts-Vertreter im europäischen Menschenrechts-Gerichtshof, der dem dortigen Beschluss zugestimmt hatte, dass die extra gegen Baskinnen aus dem juristischen Ärmel gezauberte Doktrin der Strafverlängerung illegal sei und 80 Gefangene sofort entlassen werden mussten. Sie waren bereits Jahre über ihre eigentliche Strafe hinaus eingesperrt gewesen. Jener Jurist war von der Regierung und den spanischen Medien praktisch in der Luft zerrissen worden.

Bei dem kürzlich in Gernika stattgefundenen Sozial-Forum, bei dem es um Strategien der Konfliktbewältigung ging, hatte der seit Jahren in den baskisch-spanischen Normalisierungsprozess involvierte südafrikanische Anwalt Brian Currin ein ziemlich düsteres Bild gemalt, in Anbetracht der fortgesetzten unflexiblen Haltung der spanischen Regierung. Als „neutraler Beteiligter“ hatte er der Regierung vorgeworfen, die Gefangenen als Geiseln des Normalisierungs-Prozesses so lange wie möglich im Gefängnis halten zu wollen. Tatsache ist, dass nicht einmal schwer bzw. unheilbar kranke Gefangene entlassen werden, wie es die spanischen Gesetze eigentlich vorschreiben. Insofern bleibt abzuwarten, ob es sich tatsächlich um einen Kurswechsel handelt oder ob der aus der Realität resultierende Pessimismus Recht behält.FP VIII 04

ANMERKUNGEN:

(1) Der Text basiert auf Information aus dem Artikel “La Audiencia Nacional corrige la doctrina del ‘todo es ETA’ ante el fin de la violencia”, der in der baskischen Tageszeitung Deia publiziert wurde; es handelt sich um keine Übersetzung. (Link)

(2) Die Audiencia Nacional de España ist der nationale Staatsgerichtshof in Spanien, der offiziell mit der Verfolgung schwerer Straftaten, namentlich des Terrorismus (ETA), betraut ist. Sitz der Audiencia Nacional ist Madrid (Art. 62 des spanischen Gerichtsverfassungsgesetzes, Ley del Poder Judicial, LPJ). Die Gerichtsbarkeit der Audiencia Nacional erstreckt sich auf ganz Spanien. Die Audiencia Nacional wurde mit Dekret-Gesetz 1/1977 vom 4. Januar 1977 (Gesetzesblatt Nr. 4 vom 5. Januar 1977) eingerichtet. Die Audiencia Nacional wurde 1977 formiert als Nachfolge-Instanz des Gerichtshofs “Tribunal de Orden Público”. Jenes Gericht hatte im Franquismus und bis in die Übergangszeit von Diktatur zu parlamentarischer Demokratie für politische Urteile gesorgt.

(3) Tribunal Supremo (Oberstes Spanisches Gericht), eine Art Nationaler Gerichtshof, dem nur noch das Verfassungsgericht übersteht. Wichtig ist zu wissen, dass die spanischen Gerichte nach Parteienproporz besetzt werden, ausgehandelt zwischen den Sozialdemokraten der PSOE und den Postfranquisten der PP. Diese Gerichte sind bekannt für ihre ultrakonservativen Juristen, von denen viele aus Familien des Franquismus stammen.

(4) Bei diesem Prozess hatte die Staatsanwaltschaft behauptet, die der linken Bewegung als Treffpunkte dienenden Volkskneipen würden für die Finanzierung von ETA genutzt. Obwohl die Behauptung faktisch nicht bewiesen werden konnte und die Mehrzahl dieser Kneipen von Vereinen betrieben wurden, kam es zu einem Urteil. Zum einen wurden Aktivistinnen zu Gefängnsistrafen verurteilt, zum anderen wurde beschlossen, 111 Volkskneipen zu beschlagnahmen, eine Maßnahme die ihren Vergleich im franquistischen Vorgehen nach dem Krieg der 30er Jahre findet.

(5) Askapena (baskisch: Befreiung) ist eine seit 25 Jahren bestehende Internationalismus-Organisation, die regelmäßig Solidar-Brigaden in verschiedene Teile der Welt organisiert: unter anderem nach Palästina, Kolumbien, Bolivien, Venezuela, El Salvador, Nicaragua. Askapena versteht sich als Teil der baskischen linken Unabhängigkeits-Bewegung.

FOTOS:

(1) Abstraktes Motiv – Foto Archiv Txeng

(2) Abstraktes Motiv – Foto Archiv Txeng

(3) Abstraktes Motiv – Foto Archiv Txeng

(4) Abstraktes Motiv – Foto Archiv Txeng

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