Interview Véronique Dudouet, Berghof-Stiftung
Die Konfliktvermittlerin Véronique Dudouet von der Berghof-Stiftung wurde bereits mehrfach nach Euskal Herria eingeladen, in diesem Fall vom Foro Social Permanente (Ständiges Sozialforum), das im Bereich Konfliktlösung arbeitet. In einem Interview mit der Zeitung Gara analysiert die Friedensforscherin das baskische Modell eines Friedensprozesses. Zu Grunde liegen von der UNO entwickelte Standards für Prozesse der Entwaffnung, Entmobilisierung und Reintegration, in der Fachsprache DDR genannt.
Die Konfliktvermittlerin Véronique Dudouet von der deutschen Berghof-Stiftung berichtet über ihre – teilweise – überraschenden und neuen Erfahrungen während des noch andauernden Normalisierungs-Prozesses zwischen Spanien und dem Baskenland.
Véronique Dudouet ist Programmdirektorin der Berghof-Stiftung, die ihren Sitz in Berlin hat. „Die Berghof-Foundation ist eine unabhängige und gemeinnützige Nicht-Regierungs-Organisation. Sie unterstützt Konfliktparteien und andere Akteure in ihren Bemühungen, durch Friedensförderung, Friedenserziehung und Konflikt-Transformation politischen und sozialen Wandel sowie dauerhaften Frieden zu erreichen. Die Stiftung wurde 1971 gegründet. Die Berghof Foundation hat ihren Sitz in Berlin und Tübingen. Von dort aus arbeitet ein engagiertes, internationales Team eng mit Partnern in Konflikt- und Krisenregionen. Ein international besetzter Stiftungsrat unterstützt die Arbeit der Berghof Foundation“. (1)
Berghof-Stiftung
Die Berghof-Stiftung bildet einen Teil der Gruppe von Organisationen und Einzelpersonen, die seit Jahren den baskischen Friedens- bzw. Normalisierungs-Prozess verfolgen, begleiten und zu dynamisieren versuchen. Öffentlich bekannt wurden Persönlichkeiten wie der Südafrikaner Brian Currin oder der aus Sri Lanka stammende Ram Manikkalingam, die von der baskischen Regierung und Vermittlungs-Organisationen der baskischen Gesellschaft eingeladen worden waren. Die Berghof-Stiftung arbeitete im besagten Prozess eher im Stillen.
Die aus der Normandie stammende Friedensforscherin Véronique Dudouet hat eine Menge Erfahrung, die sie in einer großen Zahl von Versuchen gesammelt hat, für bewaffnete Konflikte friedliche Lösungen zu finden. Sie kennt den maoistischen Aufstand in Nepal, oder den Aufstand in Thailand. Oder die Verhandlungsrunden der Regierung El Salvadors mit den wichtigsten Gruppen organisierter Kriminalität des lateinamerikanischen Landes. Sie betont, dass in allen Konflikten, bei denen ihr Beitrag zur Suche einer Konfliktlösung erwünscht ist, von den beteiligten Seiten immer wieder dasselbe gesagt wird: „Die Ausgangslage hier ist so kompliziert, dass alle Modelle, die du im Rucksack hast, nicht anwendbar sind“. (2)
Jede Konfliktsituation hat ihre Besonderheiten, nichtsdestotrotz bekennt sie, dass sie in Euskal Herria „viel gelernt“ habe und fügt hinzu, dass von diesem kleinen Land der Bask*innen große Lektionen zu lernen sind. Sie erinnert sich gerne an „das Lächeln der Leute“, die am 8. April nach Baiona (franz: Bayonne) gekommen waren, um die Waffenabgabe von ETA zu erleben und zu unterstützen.
Ein Modell, das inspiriert
Auf die Frage, ob das baskische Modell der Waffenabgabe tatsächlich auf internationaler Ebene als Studienobjekt gelten kann und wie es zu interpretieren sei, sagt Véronique Dudouet ohne zu zögern: „Ja, auf jeden Fall. Das Geschehen hier fand wenig Niederschlag in den internationalen Medien, außer an Schlüsseltagen wie zum Beispiel dem 8. April in Baiona. Aber wenn ich berichte, wie sich der Prozess hier entwickelt, staunen die Leute und zeigen sich bewegt. Es weckt Interesse und Aufmerksamkeit, und die Leute beginnen ihre Schlüsse zu ziehen. Die Art und Weise wie die Aktivist*innen darauf setzten, verschiedene Etappen des Prozesses anzuschieben, Schritte nach vorn zu machen, neue veränderte Tatsachen zu schaffen und damit Hindernisse zu umgehen, die ansonsten jeden Fortschritt blockiert hätten. Das ist zweifellos eine große Lektion von der wir lernen können“.
Und begeistert fährt sie fort: „Diese anhaltende Aktivität, diese konstante Praxis ist etwas sehr Wertvolles. Vielleicht hätte die zeitliche Dynamik besser sein können. Sechs Jahre sind vergangen seit der Erklärung von Aiete (3) und ich habe hier Kollegen, die sagen, vielleicht hätte die Aktion vom 8. April 2017 trotz aller Schwierigkeiten zwei Jahre früher stattfinden können. Ich weiß nicht. Aber dass so viele gesellschaftliche Sektoren zusammenarbeiten und diese gemeinsame Startbahn konstruieren, ob mit einer konkreten Verpflichtung, der physischen Präsenz an wichtigen Mobilisierungstagen, oder über Engagement auf anderen Ebenen ... Initiativen von dieser Größenordnung sind wirklich einzigartig und verdienen Aufmerksamkeit“.
Véronique Dudouet hebt einen weiteren Aspekt des baskischen Modells hervor: „Eine der bedeutendsten Komponenten ist, dass die Bevölkerung aktiv beteiligt ist und nicht einfach zuschaut. Die Gesellschaft wird in allen bewaffneten Konflikten von den Aktivist*innen als Grund ihres Kampfes angegeben. Diese Gesellschaft nun an der Entscheidung zu beteiligen, die Waffen niederzulegen, sie in einen Strategiewechsel miteinzubeziehen und ihr das Wort zu erteilen bei dieser Art von Entscheidungen – das ist etwas Bedeutendes“.
„So haben wir uns das nicht vorgestellt“
Aus ihrer persönlichen Erfahrung betont sie eine Tatsache, die sie als global gültig bezeichnet und die sich häufig wiederholt: „Es kommt ein Gefühl der Kriegsmüdigkeit auf, eine gesellschaftliche Ermüdung im Umfeld des Konflikts. Und es kommt zu Legitimitätskrisen, wenn es darum geht, Aktionen durchzuführen im Namen einer Bevölkerung, die des Kampfes müde ist. Das kommt häufig vor, bewaffnete Aktionen werden im Namen der Verteidigung der Rechte der Bevölkerung durchgeführt und die Bevölkerung sagt: Halt. Ihr fügt uns Schaden zu. Und die bewaffneten Organisationen nehmen die Botschaft zur Kenntnis“.
Im Dezember 2013 hatte sie in einem Interview selbst gesagt: „Eine Waffenabgabe unter Beteiligung der Zivilgesellschaft, die die internationalen Standards erfüllt, ist durchaus möglich“. Daraus ergibt sich logischerweise die Frage, ob die internationalen Beobachter*innen damals schon das Baiona-Modell im Hinterkopf hatten. Dieses Modell bestand darin, dass sich eine Gruppe von bekannten Persönlichkeiten aus dem französischen Baskenland (Iparralde) mit ETA in Verbindung setzte und der Organisation anbot, ihre Waffen zu übernehmen, unbrauchbar zu machen und den französischen Behörden zu übergeben.
„Ehrlich gesagt, mir ging sowas nie durch den Kopf. Ich dachte damals, dass es im Baskenland tatsächlich die Möglichkeit und die Notwendigkeit gäbe, etwas völlig Neues zu erfinden, etwas, das noch keine Vorbilder hatte. Ich hatte die vage Hoffnung einer Art von Verhandlung, die die Regierung in Madrid dazu gedrängt hätte, die Waffenabgabe unter internationaler Beobachtung und mit Leuten mit militärischen Kenntnissen zu akzeptieren ... Aber Persoen aus der Bevölkerung zu erleben in reflektierenden Leuchtjacken, die sonst dem Sicherheitspersonal zustehen, und dazu das Menschenmeer in Baiona ... nie habe ich mir eine ähnlich aktive Beteiligung der Bevölkerung bei einer Waffenabgabe vorgestellt“.
Der Zynismus des spanischen Paradigmas
Als Expertin und Mitglied einer weltweit arbeitenden Stiftung gab es auch Gelegenheit, Véronique Dudouet nach ihrer Meinung bezüglich der Boykotthaltung der spanischen Regierung zu fragen.
„Auf internationaler Ebene wird der baskisch-spanische Konflikt nicht als bewaffneter Konflikt von hoher Intensität angesehen, vielmehr als Konflikt mit politischem Hintergrund, der eine bewaffnete Komponente beinhaltet. Ich denke, die spanische Regierung sieht die Sache komplett anders, ähnlich wie damals die Bundesrepublik Deutschland mit der RAF oder Italien mit den Roten Brigaden. Die sehen eine 'terroristische Zelle´ ohne politische Dimension, eher kriminell, außerhalb der legalen Ordnung. Dagegen helfen aus staatlicher Sicht nur polizeiliche und juristische Maßnahmen, in keinem Fall die Politik. Die Mitglieder der Organisation müssen aus dem Weg geräumt werden und werden lebenslang ins Gefängnis gesteckt. Von einer Regierung, die den Konflikt aus dieser Warte sieht, sind nur schwerlich Schritte zu erwarten, die von anderen Regierungen durchaus unternommen wurden“.
Dennoch hat die Geschichte auch einen zynischen Anteil, wie die Friedensforscherin unterstreicht: „Es ist deshalb paradox, weil die spanische Regierung auf globaler Ebene durchaus an Mediationsprozessen beteiligt ist, zum Beispiel innerhalb der UNO. Es ist nicht so, dass diese Regierung nicht versteht, dass Konflikte auf friedlichem Weg gelöst werden können: Vielmehr ist es so, dass sie den baskisch-spanischen Konflikt unter vollständig anderen Kriterien betrachten will“.
Gelernte Lektionen
Weil Véronique Dudouet Konflikte von deutlich größerer und dramatischerer Dimension gesehen und analysiert hat, wird sie gefragt, ob sie im Zusammenhang mit dem baskischen Konflikt das Gefühl der Frustration kennt; ob sie zwischenzeitlich der Auffassung war, dieser Konflikt sei zu speziell und damit unlösbar.
Mit einem komplizenhaften Lächeln antwortet sie: „Als ich begann, mich mit dem baskischen Konflikt zu beschäftigen, ich glaube das war 2008, hatte ich mich gerade lange dem israelisch-palästinensischen Konflikt auseinandergesetzt. Ich muss gestehen, dass dies tatsächlich sehr frustrierend war. Ich hatte das Gefühl einer großen Leere, es wurden zwar kleine Schritte gemacht, aber nur, um sie gleich danach wieder über den Haufen zu werfen. Ehrlich gesagt, hier liegt der Fall ganz anders. Was ich immer bewundert habe ist diese Haltung: 'wir haben das eine versucht und wenn wir damit nichts erreichen, versuchen wir es eben auf einem anderen Weg´. Das habe ich sonst nirgendwo erlebt. Diese Entschlossenheit, nicht aufzugeben, wenn die Pläne nicht gelingen, wenn eine Tür sich schließt einfach eine andere zu suchen. 'Wenn eine Ebene nicht funktioniert‚ versuchen wir eine andere in Bewegung zu versetzen´. Dieses Engagement, unilaterale Schritte zu unternehmen“.
Véronique Dudouet ist sich darüber im Klaren, dass es in der Geschichte zuvor drei Versuche bilateraler Verhandlungen zwischen ETA und der spanischen Regierung gab, dass alle drei scheiterten und große Frustration zur Folge hatten. „Vielleicht kam ich zu einem guten Zeitpunkt. Wir von der Berghof-Stiftung begannen nach dem letzten Verhandlungsversuch mit Zapatero und einige Lektionen waren bereits ausgewertet. So scheint es jedenfalls von außen betrachtet“.
Selbständig gehandelt im Sinne der UNO-Standards
Im Diskurs von Véronique Dudouet ist die Waffenabgabe „ein Akt von Souveränität im Einklang mit den Standards der UNO“. Das wird verstanden als „eine Komponente des DDR-Pakets (englisch: Disarmament, Demobilisation, Reintegration). Dieses Paket ist normalerweise ein Schlüssel für den Erfolg eines Friedensprozesses“. Sie analysiert weiter: „Nicht alle haben ein Risiko auf sich genommen wie ETA, sie ist alle Schritte einseitig gegangen, um die ersten beiden D's umzusetzen, ohne irgendeine Garantie von der anderen Seite zu erhalten. Das war als Anreiz oder Entgegenkommen gedacht, um die weiteren Schritte, die das Paket umfasst, zu erleichtern. Der anderen Seite ist damit die Ausrede genommen. Jetzt gilt es zu hoffen, dass nächste Schritte erfolgen“.
Das DDR-Paket betreffend, können die ersten beiden D's aus eigener Überzeugung und Entschlossenheit angegangen werden, das R hingegen bewegt sich auf der Ebene einer staatlichen Bereitschaft. Véronique Dudouet führt das Thema aus.
„In den DDR-Standards der UNO, die in einem 350 Seiten umfassenden Dokument ausgeführt sind, wird erklärt wie diese Prozesse ablaufen sollten. Obwohl gesagt wird, dass jeder Fall einzigartig ist und die aufeinander folgenden Schritte nicht immer in derselben Reihenfolge zu erwarten sind, werden auf internationaler Ebene Orientierungen gegeben. Bei allem was im Baskenland geschehen ist, wurden diese Prinzipien angewandt. Daher gilt, dass mit der Waffenabgabe das erste D erfüllt ist. Das zweite, also die Auflösung der Organisation, kann demnächst passieren. Allerdings zeigt die Erfahrung aus anderen Ländern, dass dieser Schritt erst später erfolgt, weil die Organisation für ihre Mitglieder auf dem Weg in die Legalität wichtig ist, und notwendig für die Dynamik eines Versöhnungsprozesses. Ich gehe davon aus, dass die Auflösung der Organisation hier früher geschieht, und dass damit eine weitere Ausrede der spanischen Regierung entfällt. Danach bedarf es massiven Drucks, eines kraftvollen gemeinsamen Schubs verschiedener Seiten: Institutionen, Parteien, Organisationen, um Lösungspakete zu verhandeln für die Gefangenen, die Deportierten, die Flüchtlinge und möglicherweise auch für Leute, die noch im Untergrund leben. Dieses große Abkommen zu erreichen, wäre im Baskenland entscheidend. Allerdings denke ich, dass dieses letzte Paket eng verknüpft ist mit der Rolle der Opfer“.
„Im Allgemeinen sind die beiden D's von der Bereitschaft der bewaffneten Organisationen abhängig, das R liegt in der Verantwortung des Staates. Es handelt sich um eine Art Austausch. Findet dieser Austausch nicht statt, gibt es nur den Weg über breiten gesellschaftlichen Druck, der von allen politischen und sozialen Sektoren des Baskenlandes getragen in korrekter Weise zum Ausdruck gebracht wird. Je mehr Einheit das Land demonstriert, desto größer der Druck gegenüber Madrid. Wenn alle Baskinnen und Basken gemeinsam entscheiden, was geschehen soll, dann bin ich davon überzeugt, dass ihr das erreichen werdet“.
ANMERKUNGEN:
(1) Webseite der Berghof-Foundation (Link)
(2) Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um eine Übersetzung einer am 23. September 2017 in der baskischen Tageszeitung Gara erschienenen Publikation von Mikel Zubimendi mit dem Originaltitel: „El modelo vasco de desarme es único, asombra y emociona – Entrevista con Veronique Dudouet“ (Das baskische Modell der Waffenabgabe ist einzigartig, es überrascht und bewegt – Interveiw mit Veronique Dudouet)
(3) Die Aiete-Konferenz (benannt nach einem Palast in Donostia - San Sebastian) fand statt am 17. Oktober 2011. Eingeladen hatte die baskische Friedensinitiative Lokarri sechs Persönlichkeiten, die für ihr Engagement zur Beilegung von Konflikten bekannt waren: Kofi Annan, Bertie Ahern, Gro Harlem Brundtland, Pierre Joxe, Gerry Adams, Jonathan Powell. Toni Blair unterstützte die Initiative ebenso wie Jimmy Carter und George J. Mitchell. Die Konferenz, an der verschiedene baskische Parteien und Gewerkschaften teilnahmen, endete mit einer Erklärung, mit der ETA zur Niederlegung der Waffen und zu Verhandlungen mit der spanischen Regierung aufgefordert wurde. Drei Tage später verkündete ETA einen definitiven Gewaltverzicht.
ABBILDUNGEN:
(*) Gara-Artikelfoto (FAT)