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Klassik, Rock und Volkslieder

Das baskische Kunst- und Kulturprojekt Azken Muga (Letzte Grenze) hat für einen vorletzten musikalischen Leckerbissen gesorgt. Mit dem Orchester Et Incarnatus zusammen traten fünf sehr unterschiedliche Musiker*innen auf. Die Kirche in Arribe, in die das Konzert wegen schlechter Wetterperspektive verlegt wurde, war zu klein für alle Eintritt Suchenden. Das zweistündige Konzert sorgte für viel gute Laune, selbst den anwesenden Kindern, die wenig Ahnung hatten, wer da vor ihnen stand, gefiel es.

Niko Etxart, Petti, Alex Sardui, Izaro und Gorka Sarriegi verkörpern verschiedene Generationen der baskischen Musikgeschichte. Beim einzigartigen Azken-Muga-Konzert in Arribe (Navarra) waren sie zusammen zu hören, vor einem begeisterten Publikum.

etin02Altersmäßig liegen mehr als 40 Jahre zwischen den fünf Interpret*innen, die sich für das Azken-Muga-Projekt (1) (2) auf den Weg an die gipuzkoanisch-navarrische Grenze machten. Vom Altrocker Niko Etxart (64 Jahre) zur Neuliedermacherin Izaro (23 Jahre). Dem aus dem baskischen Norden (Iparralde) stammenden Etxart kommt die Ehre zu, als einer der Väter des baskischen Rocks zu gelten, nicht nur wegen seines im Jahr 1980 präsentierten wegweisenden „Euskal Rock’n’Rolla“. Sein sympathisches Erscheinen allein ist die halbe Miete bei jedem der wenigen Konzerte, auf die er sich noch einlässt. Die junge Izaro mit ihrer speziellen Stimme (die an eine Mischung zwischen Anari und Maialen Lujanbio erinnert) hat die Zukunft hingegen noch vor sich. Dazwischen liegen Petti, navarrischer Liedermacher, der mit dem sentimental geschrienen Stück „Amaiur“ bekannt wurde – Gorka Sarriegi, ehemaliger Sänger der 1996 aufgelösten Folkrock-Gruppe Sorotan Bele – sowie Alex Sargui, Sänger der Gernika-Rocker Gatibu, eine der derzeit beliebtesten baskischen Rockgruppen. Bei so viel künstlerischer Spanne war für jeden Geschmack etwas dabei, viele hielten es mehr als zwei Stunden zwischen den Kirchenbänken sitzend aus.

Wer das Konzert hörte und sah, hat ein kleines Stück einmaliger baskischer Musikgeschichte erlebt, denn in dieser Konstellation gab es (neben Hondarribia) nur zwei Auftritte. Trotz der für baskische Verhältnisse ungewohnten Zeit am Sonntagmittag um 12 Uhr erlebte die Arribe-Kirche ihren besten Besuch seit Jahrzehnten, mehr als 500 Personen fanden den Weg ins Azken-Muga-Tal. Den musikalischen Rückhalt für die Sänger*innen lieferte das (in diesem Fall) 14-köpfige Orchester Et Incarnatus mit seinem Dirigenten Migel Zeberio. Die Geschichte dieses Orchesters beleuchtet ein Artikel aus der baskischen Tageszeitung Gara (3):

Vor mehr als zehn Jahren feierte das Orchester Et Incarnatus (4) die Sommersonnenwende in freier Natur mit einem ungewöhnlichen Konzert, bei dem das Orchester dem Wind, den Aromen, dem Holz, den Pflanzen, den Herdentieren Töne verlieh. Ein feinfühliger Festakt, der im Laufe der Zeit in die kürzlich veröffentlichte CD „Txoriei an D'voeil“ einfloss. Eine Produktion zusammen mit dem elsässischen Pianisten François Rossé und dem aus Zuberoa stammenden Mixel Etxekopar, der sich auf Flöten aller Art und das eine oder andere Streichinstrument spezialisiert hat.

etin03Das neueste Prokjekt des Orchesters ist integriert in das Kunst- und Kulturprojekt Azken Muga, das 2017 zum zweiten Mal auf dem Bergkamm Zarate zwischen den Orten Azkarate (Navarra) und Bedaio (Gipuzkoa) in einem Buchenwäldchen organisiert wird. Beim anstehenden Konzert im navarrischen Dorf Arribe bildet Et Incarnatus die instrumentelle Untermalung für den Gesang von sehr unterschiedlichen baskischen Musiker*innen: Alex Sardui, dem Sänger der baskischen Rockgruppe Gatibu, dem Liedermacher und Gitarristen Petti, der Nachwuchssängerin Izaro, dem Sänger Gorka Sarriegi und der baskischen Rocklegende der 1970er Jahre, Niko Etxart, aus dem baskisch-französischen Norden. Außerdem bietet der Pianist Juantxo Zeberio zu Beginn und Abschluss des Konzerts jeweils ein Klaviersolo.

Et Incarnatus Orkestra (EIO) ist ein avantgardistisches Orchester, das Improvisation, abstrakte Variationen, Kammermusik, Barock und – wie die erwähnte CD zeigt – auch Unterhaltungsmusik in Perfektion in seinem Repertoir hat. Die Fähigkeit zu vielseitiger Interpretation hat zu einer ganzen Reihe von gemeinsamen Projekten geführt, u.a. mit dem (verstorbenen) Sänger Imanol, G.Tejada, T.Garcés, Mikel Erentxun, Benito Lertxundi, Iñaki Salvador, Gorka Benitez, La Buena Vida, Anjel Unzu, Javier Muguruza, M.Paulo, Oskorri, Bingen Mendizabal, Eñaut Elorrieta. Herausragend war die Begleitung des exzellenten Saxophonisten Phil Woods bei den Jazzfestivals in Donostia und Barcelona im Jahr 2005 und jene der US-amerikanischen Band Antony & The Johnsons 2013. Wie unschwer erkennbar ist: EIO ist in der Lage, sich auf verschiedene Terrains einzulassen, dank des vielseitigen Profils, das das Orchester innerhalb der anspruchsvollen Musik aufweist.

Das Debüt der von EIO veröffentlichten Tonträger war 2005 die Scheibe „Troika“. Über die Jahre verteilt folgten dann „San Fermin“, „Erkki Pohjola in Memoriam“, „Troika 2“ und die letzte Scheibe mit dem Titel „Txoriei an D'voeil“, bei der Naturgeräusche interpretiert werden wie Vogelstimmen, einhüllender Nebel, pfeifender Wind, plätscherndes Wasser, die Schatten provozierende Sonne. Begleitet wurde das Projekt von der Einhandflöte Xirula und anderen speziellen Blasinstrumenten des baskisch-französischen Musikers Mixel Etxekopar, dessen Klänge bisweilen an die Schalmei eines Hirtenjungen erinnern und teilweise auf der Tradition der Wind und Wetter ausgesetzten Berge und Täler fußt. Dazu die Klavierklänge des Virtuosen François Rossé, die zwischen ruhelos und bedächtig variieren, und nicht zu vergessen das Orchester, das unter der dynamischen und schnörkellosen Leitung Mikel Zeberios eine große Bandbreite von Klängen beiträgt

etin04Es gibt Stücke von fünfzehn Minuten Dauer („Eskuaren txoria“, „Onirika“), Momente von Improvisation, musikalische Beschwörungen, sensorische Episoden, aber auch Kompositionen über vier, fünf oder acht Minuten, die eine direkte Botschaft vermitteln. Daneben Phasen von großer Sinfonie, andere abstrakter Art und zeitgenössische Diskrepanzen. All das ist auf angenehme Art vereint und vermittelt den Zuhörer*innen ein Gefühl der Beschwingtheit.

Gleichzeitig herrscht ein filmisches Milieu vor – wie bei „Afrika“ – umwerfend, einlullend, ansteckend, auch beim Bonustrack. Aufgrund dieser und weiterer Umstände ist es nicht einfach zu verstehen, dass Et Incarnatus Orkestra bisher nicht die Aufmerksamkeit der Filmregisseure für großes Publikum erregt hat. Oder dass Organisatoren von Musikfestivals nicht begriffen haben, welche Reichweite dieses Projekt haben könnte, welchen Grad an Popularität es erreichen könnte mit seiner Sinnlichkeit und Publikumswirksamkeit – all das ohne Konzessionen. Alle Konzerte und alle Aufnahmen wurden bisher in Eigenregie organisiert und produziert, ohne Manager, ohne Plattenlabel, ohne Konzertagentur.


INTERVIEW MIT DEM MUSIKALISCHEN LEITER MIGEL ZEBERIO ETXETXIPIA

Ihr heutiges familiäres Umfeld ist stark musikalisch geprägt ... ist das vorwiegend ihren Eltern geschuldet?

Ja, das stimmt, bei uns zuhause waren Musik und Kunst im Allgemeinen ständig präsent. Bei uns gingen viele Leute aus und ein, darunter Musiker, Schriftsteller und Künstler. Oft hatten wir Besuch beim Essen und manche übernachteten bei uns. Das weckt natürlich die Neugier eines Kindes und macht dich empfänglich. Darüber hinaus gingen wir zusammen mit unseren Eltern zu vielen Veranstaltungen, sowohl in Tolosa als auch in anderen Orten. Wir hatten eine umfangreiche Bibliothek und eine Audiothek zur täglichen Verfügung. Von sechs Geschwistern sind heute vier in der Welt der Musik zu Hause.

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Womit haben Sie angefangen? Was waren die ersten Schritte?

In Tolosa hatten gerade die typischen Kapellmeister an Kraft und Einfluss verloren, aber die neue Musikschule wurde von der Musikakademie Valencia geführt. Unser Musiklehrer war José María Ruiz Bona. Bei ihm begann ich im Alter von sechs Jahren. Obwohl ich als Sechsjähriger praktisch kein Wort Castellano sprach, war dies für mich ein interessantes Spiel bis ungefähr zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Bis dahin war alles einfach. Surrealistisch wurde es zum Schuljahresende, als plötzlich eine Prüfung an der Hochschule für Musik in Donostia anstand. Prüfungen, die keinerlei pädagogische Ausrichtung hatten, bei denen die Musiktheorie in spanischer Sprache für uns wie Chinesisch war. Die Liste der Schülerinnen und Schüler las sich für uns wie eine Liste von Angeklagten, die zum Schafott geführt wurden. Und zu der wir unter dem Klang der Kirchenglocken gingen. Der meistbesuchte Ort dieses dekadenten Gebäudes, das leider heute immer noch in Betrieb ist, waren die Klos. Dort haben wir gelernt, uns auf das Leben einzuschwören.

So weit ich weiß waren Chöre Ihre ersten professionellen Herausforderungen. Sind Sie beeinflusst von der Tradition in Tolosa?

etin06Mit vierzehn Jahren organisierte ich einen Chor, der aus Schülerinnen und Schülern meiner Schule bestand, um an Weihnachten zu singen. Seitdem bin ich dem Gewerbe sozusagen treu geblieben. Ich habe aus meinem Hobby meinen Beruf gemacht. Selbstverständlich ist der Einfluss des Chor-Wettbewerbs von Tolosa entscheidend. Mein Vater war Vorsitzender der Jury und einige meiner geliebten Onkel waren wichtige Säulen der Organisation. Unsere Wohnung war ein zentraler Punkt im Netz der damaligen kulturellen Bewegung. Tischgespräche und Ruhephasen zwischen den Aufführungen wurden zu improvisierten Sitzungen, in denen wichtige Themen diskutiert wurden. Jurymitglieder und geladene Gäste schliefen mitunter bei uns zu Hause. Personen unterschiedlicher Herkunft, viele davon wichtige Persönlichkeiten aus der Welt der Musik. Sie waren keine Familienangehörigen und zu etlichen halten wir bis heute Kontakt. Aus einigen dieser Freunde wurden Lehrer oder Dozenten. Ein wichtiger Wegbegleiter war für mich Miguel Amantegi, der von 1977 bis 1990 in Donostia den gemischten Chor Ereski leitete. Außerdem hatte ich das große Glück, Schüler von J.A.Sainz Alfaro zu sein, von Maite Esteban am Klavier und von Francisco Escudero beim Notenschreiben. In ihrer Begleitung begann ich meinen Weg.

Sind Sie nach wie vor Dozent der Musikschule Jesús Guridi in Vitoria-Gasteiz oder ist das zuviel Arbeit?

Ich bin dort seit zwanzig Jahren beschäftigt. Anfangs gab ich Chorstunden und später wurde mir eine Lehrstelle für Txistu angeboten, eine typisch-baskische Einhandflöte. Auf diese Weise verdiene ich meinen Unterhalt. Es liegt etwas fern von meinem Wohnort Hondarribia, aber die große menschliche und musikalische Qualität meiner Kolleg*innen entschädigt mich für den Aufwand. Unterricht ist eine gute Art und Weise, um von Schüler*innen zu lernen. Ich versuche, sie für unsere Musikgeschichte zu sensibilisieren, sie sind aufnahmebereit und sind gleichzeitig unsere Zukunft. Ich hatte das Glück, an der Musikschule im Fach Musikpädagogik eine großartige Lehrerin zu haben, Lutxi Mancisidor. Das Konzept des Lehrers, der Preise und Strafen verteilt, liegt mir überhaupt gar nicht. Die Schüler*innen wissen sich sehr wohl selbst einzuschätzen. Ich bin ausreichend damit beschäftigt, ihnen das Werkzeug zu geben, damit sie ihre Fähigkeiten entwickeln können.

etin07Sie haben mehr als zehn verschiedene Chöre geleitet. Aber was bedeutet ihnen das Projekt Et Incarnatus Orkestra?

EIO habe ich 1996 gründet, als ich Kapellmeister der Pfarrkirche Santa Maria de Tolosa war und zum ersten Mal mit einem Instrumental-Ensemble in Berührung kam. Aus Anlass des hundertsten Todestages von Felipe Gorriti (baskischer Komponist, 1839-1896) und der Notwendigkeit, über ein breit besetztes und erfahrenes Orchester zu verfügen, gründete ich Et Incarnatus. Seitdem ist das Orchester zu einem kleinen Wunder geworden, das sich mit jedem neuen Projekt selbst neu erfindet.

Auf der Bühne sitzen üblicherweise 16 Musikerinnen und Musiker dem Publikum gegenüber, manchmal sind wir auch 25 und bis zu 45 Personen. Hinter dieser Gruppe existiert und arbeitet eine engagierte, bunt gemischte Gruppe von außergewöhnlichen Einzelpersonen: Arrangeure, Komponist*innen, Sänger*innen und viele andere geladene Gäste, Ton- und Bildtechniker*innen, Designer*innen, Anwält*innen, Bühnenbildner*innen, Fotograf*innen, Beleuchter*innen – insgesamt ein Team, das die Sonnwendfeiern organisiert ... und schließlich meine Mutter, die immer ein Bett bereithält für Bedürftige. Ohne sie alle hätte das Projekt Et Incarnatus keine Überlebenschance gehabt. Eine lange und fabelhafte Liste von Personen, die fast immer bereit sind, sich auf ein Abenteuer einzulassen, ohne große ökonomische Gegenleistung.

ANMERKUNGEN:

(1) Azken Muga Webpräsenz: Webseite Festival 2016 (Link), Blog zu Aktivitäten 2017 (Link)

(2) Auf der Webseite Baskultur.info erschienen zwei Artikel zum Kunst- und Kulturprojekt Azken Muga (Letzte Grenze), das 2017 zum zweiten Mal auf dem Höhenzug Zarate zwischen Azkarate (Navarra) und Bedaio (Gipuzkoa) stattfand (Link-1) (Link-2)

(3) Übersetzung aus der baskischen Tageszeitung GARA vom 17. September 2017, Pablo Cabeza: „Et Incarnatus es un milagro que renace con cada nuevo proyecto” (Et Incarnatus ist ein Wunder, das sich mit jedem Projekt selbst neu erfindet).

(4) Webseiten des Orchesters Et Incarnatus (Webseite) (Facebook)

(5) Video des Konzerts in Zarate am 24. September 2016 (Link)

FOTOS:

(*) Et Incarnatus Konzert 17.9.2017, Arribe (FAT)

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