Am Beispiel Bilbao
Neuerungen in der kommunalen Ökonomie und neue Kauf- und Konsum-Gewohnheiten haben an vielen anderen Orten die Lebensverhältnisse verändert. In Bilbao war die Schließung von 7.000 Geschäften in einem Jahrzehnt die Folge. Neue Konsumformeln haben jedes fünfte Geschäft zum Verschwinden gebracht. Die armen Stadtviertel verlieren, das Zentrum gewinnt. Bilbao hat sich stark verändert, umso mehr während der Pandemie. Das Jahr 2008 war das erste Jahr einer neuen Ära, Gentrifizierung ist die Konsequenz.
Neue Produktions-, Kauf- und Konsum-Prozesse haben nicht nur Folgen auf der wirtschaftlichen Ebene. Sie greifen auch in die zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen großer Teile der Bevölkerung ein. Dies reicht bis zur Zerschlagung von Sozialstrukturen und Vertreibung von gesellschaftlichen Schichten und Klassen durch Gentrifizierungs-Prozesse. Massentourismus trägt sein Übriges bei.
Im Jahr 2008 begann eine Rezession, die verbunden war mit einem intensiven gesellschaftlichen Wandel: Digitalisierung, Konsum über Verkaufs-Plattformen, Veralterung der Bevölkerung, neue Freizeitgewohnheiten. Alles zusammen wurde zu einer Walze, die die alten bekannten kapitalistischen Verhältnisse überrollte. Covid hat den Prozess beschleunigt und zusätzliche Fragen aufgeworfen. Wohin geht die Reise? Verelendung von Stadtvierteln, zunehmende Einsamkeit der Bewohner*innen, wachsende Ungleichheit?
Ungleiche Entwicklungen
Die angedeutete Umwälzung lässt sich am besten an der Veränderung des Wirtschaftsgefüges ablesen, ein Spiegelbild der Realität. Nach Angaben des Baskischen Statistikinstituts (Eustat) gab es 2008 in Bilbo noch 39.101 Unternehmen. Dazu gehören verschiedenste Gewerbe: von Geschäften bis zu Dienstleistungs-Büros, selbständige Tätigkeiten und Unternehmen aller Art und Größe, bis hin zu aus einer Person bestehenden Klein-Unternehmen. Im Jahr 2021 (Stand: 1. Januar) waren es noch 32.081, also 7.020 weniger, ein Rückgang von fast 20%.
Beachtlich sind nicht allein die Zahlen in diesem Schrumpfungs-Prozess, der meist durch das Erscheinen von Unternehmen mit größerem Volumen verursacht und durch das Verschwinden kleinerer Betriebe begleitet wird. Bemerkenswert ist vielmehr, wo diese Veränderung stattfindet. In den zentralen Stadtbezirken Bilbaos (Indautxu, Abando oder Casco Viejo) liegt der Rückgang unter dem Durchschnitt. Diese Stadtteile haben somit im gesamten Panorama an wirtschaftlichem Gewicht gewonnen. 2008 entsprach ihr Geschäftsanteil noch 42,6% der Betriebe, 2021 waren es bereits 45,2%. Hier sind viele größere Unternehmen, Laden-Ketten und multinationale Konzerne angesiedelt. Der ehemalige Arbeiterstadtteil Santutxu, bevölkerungsreichstes Viertel der Bizkaia-Hauptstadt, hat hingegen 27% seiner wirtschaftlichen Struktur verloren. Andere Arbeiter-Barrios in Randgebieten mit geringerem Einkommensniveau mussten Rückgänge von bis zu 40% hinnehmen. Einige wachsen stark, Miribilla zum Beispiel, in diesem seit 2004 neu gebauten Stadtteil gab es 2008 so gut wie gar nichts.
Wer leidet am meisten?
Zwei Drittel der Buchläden der Stadt wurden geschlossen (in 13 Jahren von 118 auf 45), daneben ein Drittel der Bekleidungs-Geschäfte (991 / 652). Im Hintergrund dessen steht erstens der Online-Handel, der den Läden auf der Straße die Kundschaft streitig macht. Zweitens das Erscheinen großer Ketten, die die kleineren schlucken, weil diese preismäßig nicht mehr Paroli bieten können. Gleiches gilt für das Gaststätten-Gewerbe, seit 2008 gingen hier 400 Kneipen verloren, von 2.037 auf 1.632. Auch hier lohnt sich ein genauerer Blick, denn Kneipen haben einen direkten Bezug zum Lebensalltag der baskischen Bevölkerung, insbesondere in den Arbeiter-Vierteln.
"Ein wichtiger Teil des Gaststätten-Gewerbes in den Stadtvierteln hat vom Poteo gelebt" (vom täglichen Kneipengang, wo von Bar zu Bar gezogen wird, um jeweils eine Kleinigkeit zu trinken, erinnert sich ein Sprecher des Verbandes. “Aber seit der letzten großen Wirtschaftskrise haben sich die sozialen Gepflogenheiten geändert. Die Leute gehen nach der Arbeit um acht oder neun Uhr abends nicht mehr zum Rundgang durch die Kneipen, sondern nach Hause". Denn wer zu wenig Geld hat, kann sich keinen Poteo leisten. Der Verlust von Kaufkraft wiegt schwerer als das Bedürfnis nach sozialem Austausch. Bereits 2008 gingen in Bilbao 10% dieser beliebten Betriebe verloren, die Pandemie hat für weitere 10% das Todesurteil gebracht. "Das passiert vor allem in den Barrios. Der Konsum konzentriert sich heute auf das Wochenende. Die es sich leisten können bleiben nicht in ihrer unmittelbaren Wohn-Umgebung, sondern gehen ins Zentrum oder in die Altstadt, wo es mehr Angebote gibt". Nur die Armen bleiben in ihren Vierteln, weil sie weder Geld und Fahrzeuge noch Veranlassung haben, im Zentrum zu konsumieren.
Vergnügen am Wochenende
Geschichte bedeutet Bewegung und Veränderung. Neue Gewohnheiten kommen, alte verschwinden. Die Struktur der Städte ändert sich ständig. Warum den alten Kneipen an der Ecke hinterherweinen? Sie waren und sind wichtige Sozialisationsorte für eine tendenziell älter werdende Bevölkerung, für Menschen, die kein Geld haben zum unbegrenzten Konsum in teuren Stadtzentren, kein Geld für die in der Mittelklasse üblich gewordenen Wochenend-Trips. Leute, die in ihrer Nähe ein Umfeld brauchen, das zwanglose, alltägliche Begegnungen ermöglicht, in denen Beziehungen gepflegt werden. Im Gegensatz zum Rückgang der traditionellen peripheren Betriebe, ist im Zentrum ein Boom zu beobachten, wo vor allem Restaurants eröffnet werden. Hier wurden neue Betriebe eröffnet, von 678 auf 701 im analysierten Zeitraum. "Im Zentrum gibt es legale Beschränkungen für die Eröffnung von Bars, aber nicht von Restaurants".
Gleiches gilt für Bekleidungsgeschäfte, die seit 2008 um 35% geschrumpft sind. Weniger Konsum von Kleidern? Alles andere als das! “In den letzten 40 Jahren hat sich der Klamotten-Verbrauch verfünffacht", sagt ein Verbandsvertreter. Kaufen und Wegwerfen. Eine weitere Steigerung ist in Aussicht. Möglich wird dieser scheinbare Widerspruch durch "niedrige Produktions-Kosten" in der dritten Welt. Massenverkauf ist Billigverkauf. Multinationale Konzerne sind in den Stadtzentren auf dem Vormarsch, auf Kosten der kleinen Geschäfte. "Die große Mehrheit der Schließungen findet in den Vorstädten statt. In den Zentren werden einige geschlossen und größere eröffnet".
Lokalkonsum und Arbeitsplätze
Der elektronische Handel hat während der Pandemie geboomt. Bilbao hat 26% seines Handels auf der Straße verloren. In einigen Sektoren, wie bei Haushaltsgeräten, liegt der Prozentsatz bei über 40%. Wieder sind Randviertel stärker betroffen. Ein Trost: Mit Coronavirus erhielt der lokale Handel im Bewusstsein der Bevölkerung einen höheren Stellenwert. Viele haben erkannt, dass nur ihre Konsumtreue das soziale und wirtschaftliche Leben im Viertel retten kann. Der nahe Konsum. Aber aus Solidarität kaufen können nicht alle. Die Rückkehr zum Lokalen hat ihre Grenzen.
Der Verlust der Straßendynamik ist kein spezifisches Bilbo-Syndrom. Er hat Auswirkungen auf die Lebensqualität und auf die (gefühlte und tatsächliche) Sicherheit. Eine letzte wichtige Variable sind die heutzutage von der Gesamtheit der Bilbao-Unternehmen angebotenen Arbeitsplätze. Der Höchststand wurde 2009 mit 175.608 Beschäftigten verzeichnet. 2021 waren es 157.200, ein Rückgang von knapp 10%. Hingegen ist die Zahl der Arbeitslosen mit 22.000 ähnlich wie im Jahr 2009. Von der Qualität dieser Arbeitsplätze soll an dieser Stelle ausnahmsweise nicht die Rede sein. Mit der Veralterung der Bevölkerung und der Nicht-Zunahme der Gesamt-Population nimmt die Zahl der Arbeitslosen ab, die Zahl der Rentner nimmt zu. Damit sind jene benannt, die meist in diesen wenig attraktiven Verlustvierteln leben.
Doppelschlag gegen die Randviertel
Weil es in der Wirtschaft keinen Stillstand gibt, sondern ständig gewonnen oder verloren wird, bleibt auch die Gegenüberstellung von Gewinner- und Verlierer-Vierteln nicht statisch. Wo Profite erstrebt werden, wird auch vor Arbeitervierteln nicht Halt gemacht. Diese Erfahrung machen in Bilbao seit knapp zehn Jahren die ehemaligen Bergbau-Viertel von Bilbo Zaharra und San Francisco. Noch vor wenigen Jahren wurden diese Barrios vom bilbainischen Bürgertum verächtlich betrachtet und weiträumig gemieden. Dazu kommt der Massentourismus.
Weil die gegenüber liegende Altstadt mehr als gesättigt ist von diesem von der Stadtverwaltung hemmungslos geförderten Reisephänomen, sind neue modernistische Gaststätten-Projekte über den Fluss geschwappt. Dazu legale und illegale Tourismus-Wohnungen, die dem lokalen Markt entzogen werden. Der stinkende Fluss hat sich in eine attraktive Promenade verwandelt, im Winter wird mit Heizkörpern gegen die feuchte Wasserkälte angegangen. In Sanfran und Bilbo Zaharra haben sich begehrte Zonen entwickelt. Nicht jedoch als Bereicherung für die Kneipenvielfalt der Barrios, sondern als arrogante Yuppie-Enklaven, die den Anwohner*innen mit ihren Partys auf die Nerven gehen. Die Preise steigen, ebenso die Mieten für Lokale und Wohnungen, bis die Alteingesessenen eines Tages nicht mehr mithalten können. Gentrifizierung, ein bekannter Sachverhalt, ist nichts anderes als Vertreibung der Armen und Schwachen, über wirtschaftliche Entwicklungen und gezielte neoliberale Politik, wie sie in den großen baskischen Städten betrieben wird. Ohne Rücksicht auf jene, die schon immer unter ungleichen Lebensperspektiven zu leiden hatten, ohne Rücksicht auf die Verdammten dieser Erde. In diesem Fall die Verdammten in Bilbao.
ANMERKUNGEN:
(1) Information aus: “Los cambios económicos y de hábitos cierran 7.000 negocios en Bilbao en una década“ (Wirtschaftliche und Konsum-Veränderungen führen innerhalb eines Jahrzehnts zur Schließung von 7.000 Unternehmen in Bilbao) El Correo, 2022-02-20 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Geschlossen (eitb)
(2) Gentrifizierung (tur.euskadi)
(3) Gentrifizierung (instagram)
(4) Gentrifizierung (elcorreo)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-02-26)