Spanien in der Kritik
“Spanien sieht zwar so aus wie eine Demokratie, es ist aber keine echte Demokratie“ – so das Resümee des international bekannten Madrider Anwalts Gonzalo Boye. Boye hat katalanische Politiker*innen, die 2017 ins Exil gezwungen wurden, erfolgreich verteidigt. Nun repräsentiert er den seit 10 Monaten in polnischer Isolationshaft sitzenden Journalisten Pablo Gonzalez, dem Polen ohne Beweise vorzulegen vorwirft, ein russischer Spion zu sein.
Die Frage wiederholt sich: Hat Spanien den Franquismus und die Diktatur überwunden? Ein Blick auf die juristischen Vorgänge führt zu einem klaren Nein. Meinungsfreiheit wird nicht verteidigt, Volksbefragungen als Verbrechen behandelt. Interview mit Anwalt Gonzalo Boye (overton-magazin).
Der Madrider Anwalt Gonzalo Boye hat sich in den letzten Jahren zu einer Referenz in Europa entwickelt. Der 1965 in Chile geborene Professor ist auch Berater des “European Center for Constitutional and Human Rights e.V.“ (ECCHR) in Berlin. In Deutschland wurde er vor allem über die Festnahme des katalanischen Exilpräsidenten Carles Puigdemont bekannt. Inzwischen haben ihn seine Erfolge auf dem internationalen Parkett zu einer Art Enfant terrible für Spanien gemacht, weil er der spanischen Justiz vor Gerichten in Europa eins ums andere Mal vernichtende Niederlagen zugefügt hat. Die spanische Justiz zieht ihn nun selbst vor Gericht und klagt ihn wegen Geldwäsche an, worüber Krass&Konkret schon berichtet hatte. Über die Vorgänge und die Zusammenhänge zur erfolgreichen Verteidigung katalanischer Exilpolitiker sprachen wir mit ihm, aber auch über den seit 10 Monaten in polnischer Isolationshaft sitzenden baskischen Journalisten Pablo Gonzalez, dem Polen vorwirft, ein russischer Spion zu sein, ohne Beweise vorzulegen. (Die Abschrift des sprachlich geglätteten Videos ist von Gonzalo Boye autorisiert. Overton-Magazin)
Ralf Streck: Sie haben sich zu einer Art Staatsfeind Nummer 1 in Spanien entwickelt, da sie federführend an etlichen Verfahren mitgewirkt haben, die Spanien ziemliche Probleme machen. Besonders sticht hervor, dass sie maßgeblich daran mitgewirkt haben, dass der katalanische Exilpräsident Carles Puigdemont nicht aus Deutschland nach Spanien und später auch aus Belgien nicht ausgeliefert wurde. Das gilt auch für andere im Exil lebenden Katalanen. Aber jetzt geraten Sie selbst in die Schusslinie der spanischen Justiz und werden angeklagt. Ist es ein Zufall, dass die Anklage direkt mit wichtigen Terminen in Luxemburg zusammengefallen ist, wo am Gerichtshof der Europäischen Union unter anderem über die Immunität von Herrn Puigdemont als Europa-Parlamentarier entschieden wird? Was wird Ihnen vorgeworfen?
Gonzalo Boye: Eigentlich ist in Spanien nichts Zufall. Wir haben einmal eine Zeitlinie gemacht und gegenübergestellt, was ich vor europäischen Gerichten erreicht habe und was sie hier gegen mich gemacht haben. Als ich zum Beispiel in Deutschland gewonnen habe, wurde sofort danach ein Prozess gegen mich angestrengt. Wir gewinnen in Belgien und dann wird bei einem Einbruch mein Büro von Unbekannten zerstört. Die Polizei unternimmt natürlich nichts. Jetzt haben wir eine ganz gute Gerichtsverhandlung in Luxemburg gehabt und ein paar Tage später kam die Anklage gegen mich wegen Geldwäsche. Ich soll im Namen von meinem Mandanten Dokumente am Gericht präsentiert haben, die nicht echt gewesen sein sollen. A: Die Dokumente sind authentisch. B: Wäre es auch nicht meine Schuld, wenn die Dokumente nicht echt wären. Wenn mir ein Mandant eine Kopie von seinem Ausweis gibt, wie soll ich wissen, ob es sein Ausweis ist oder ob er echt oder gefälscht ist? Das ist eine ganz verrückte Geschichte, aber die die Staatsanwaltschaft versucht, Druck auf mich auszuüben, damit ich aufhöre, politische Exilanten zu verteidigen oder mich bestimmten anderen Fällen zu widmen. Ich verteidige aber nicht nur politische Exilanten. Ich habe 300 bis 400 verschiedene Fälle. Die meisten von ihnen mit einer komplizierten politischen Handlung. Und sie versuchen, dass ich nicht zum Verteidiger werde.
Ralf Streck: Was ist von den Vorwürfen zu halten? Wenn man sich die Anklagen genauer anschaut, fällt zum Beispiel gleich das angebliche Treffen in Ihrem Büro auf. Wenn man sich die Daten zur Geolokalisation der Handys derer anschaut, die an dem Treffen teilgenommen haben sollen, dann sieht es so aus, dass alle, die eigentlich beim Treffen gewesen sein sollen, gar nicht da gewesen sein können. Da haben wir die Handy-Daten des mehrfach verurteilten Drogenbosses José Ramón Prado Bugallo, bekannt als “Sito Miñanco“. Er befand sich hunderte Kilometer entfernt im andalusischen Algeciras. Manuel Pedro González Rubio wurde am fraglichen Tag sogar in Brasilien registriert. Allein Manuel Puentes Saavedra befand sich in Madrid. Dessen Handy wurde zum Zeitpunkt des Treffens an verschiedenen Stellen der Hauptstadt registriert, aber nicht in der Nähe Ihres Büros.
Gonzalo Boye: Das ist richtig und das ist verrückt. Aber wir sind hier in Spanien. Das Problem ist, um zu lügen, muss man erst die Geschichte richtig kennen und wissen, wo die sind oder angeblich sind. Warum? Wir haben die ganzen Daten. Und das sind die Daten von der Polizei. Das bedeutet, diese Treffen haben nie stattgefunden. Die ganze Geschichte ist von Anfang an eine reine Lüge. Aber irgendwann werde ich in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung sein. Für den Staatsanwalt wird das, so glaube ich, zum Problem. Er ist politisch sehr daran interessiert, mich vor Gericht zu ziehen. Er hat seine politischen und professionellen Interessen daran. Aber er hat ein großes Problem. Dass alles eine große Lüge ist. Die Beweise zeigen, dass die Dokumente nicht falsch waren und die Sitzungen nie stattgefunden haben. Zudem war das Geld von meinem Mandanten und nicht von Sito Miñanco. Am Ende wird an dieser Geschichte nichts haltbar sein. Ich bin ruhig. Wenn man solche Fälle wie ich verteidigt, ist es normal, großem Druck ausgesetzt zu sein. Wenn man nicht stark genug ist, um das auszuhalten, verteidigt man besser andere Leute.
Ralf Streck: Wenn man sich das noch ein bisschen weiter anguckt, dann fallen weitere merkwürdige Geschichten auf. Zum Beispiel, dass Manuel Puentes Saavedra, der angeblich auch an dem Treffen teilgenommen haben will, nach Angaben der Justiz in Kolumbien sogar einen Mord in Auftrag gegeben haben soll. Der ist ja aufgrund der Aussagen, die er gegen Sie gemacht haben soll, freigelassen worden und danach abgetaucht. Ist der inzwischen wieder lokalisiert worden? Oder hat er sich über Aussagen, die er machen sollte, nur seine Freiheit erkauft?
Gonzalo Boye: Wir wissen nichts von ihm, niemand weiß etwas über ihn. Aber es gibt die Gespräche, die bei der spanischen Polizei gemacht wurden und auf Tonband aufgezeichnet worden sind. Dazu kommt, dass der Staatsanwalt ganz genau wusste, was in Kolumbien passiert ist. Er hat aber die kolumbianischen Behörden nicht benachrichtigt. Der Staatsanwalt muss irgendwann erklären, warum jemand, der selbst als Mörder inkriminiert ist, auf freiem Fuß kommt, nur weil er eine Aussage gegen mich macht. Und jetzt haben wir noch mehr herausgefunden. Dieselbe Polizeieinheit, die gegen mich diese ganze Geschichte konstruiert hat, ist auch zu anderen Gefangenen überall in Spanien gegangen, um jemanden zu suchen, der eine Aussage gegen mich machen könnte. Das haben wir alles rausgefunden, weil diese Strafrechtswelt klein ist. Ich bin gut in meiner Arbeit, deshalb wollen sich die Gefangenen nicht in solche Geschichten einmischen.
“SPANIEN IST NICHT VIEL ANDERS ALS DIE TÜRKEI HEUTZUTAGE“
Ralf Streck: Wieso kommt es angesichts von so hanebüchenen Vorgängen und Vorwürfen überhaupt zu einem Verfahren? Wenn man sich im Umfeld von Carles Puigdemont bewegt, dann ist auffällig, dass alle möglichen Leute angeklagt werden, wie zum Beispiel sein Bürochef Josep Lluis Alay. Dem wurde abstruserweise sogar vorgeworfen, russischer Agent zu sein. Allerdings ist das Verfahren in seinem Fall eingestellt worden. Sind Sie wegen Ihrer Erfolge auf internationalem Parkett so besonders gefährlich für den spanischen Staat, dass fast alles unternommen wird, um Sie auszuschalten?
Gonzalo Boye: Spanien hat ein systemisches Problem, es hat systemische Fehler. Sie können nicht akzeptieren, dass auch Minderheiten Rechte haben. Spanien ist nicht viel anders als die Türkei heutzutage. Ich hatte nie ein Problem als Anwalt in 20 Jahren und ich habe alle diese Probleme als Anwalt in den letzten fünf Jahren, seit ich Verteidiger der katalanischen Minderheit bin. Die Spanier akzeptieren nicht, dass ich nur der Anwalt bin. Sie sehen mich als einen Repräsentanten der Katalanen. Das ist typisch für Länder, die nicht demokratisch sind. Spanien sieht zwar so aus wie ein demokratisches Land, aber am Ende des Tages, wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzt, findet man die ganzen systemischen Fehler. Die zeigen, dass das keine echte Demokratie ist. Und das ist ein Problem für die Europäische Gemeinschaft.
Ralf Streck: Was glauben Sie, wie das Verfahren ausgehen wird? Ich meine, es werden schließlich mehr als neun Jahre Haft für Sie verlangt.
Gonzalo Boye: Das weiß ich nicht. Aber ich bin ruhig und wir werden uns verteidigen. Ich glaube, meine Gerichtsverhandlung, wenn sie stattfindet, wird ein großes Problem für Spanien und besonders für den Staatsanwalt. Dieser Staatsanwalt, der politisch sehr engagiert ist und unbedingt Karriere machen will. Wir sind uns ganz sicher, wegen der Beweise, die wir haben. In einer Demokratie sollte ich als Angeklagter keinen Beweis erbringen müssen, sollte nicht beweisen müssen, dass ich unschuldig bin. Aber ich werde nicht nur beweisen, dass ich unschuldig bin, sondern ich werde auch zeigen, wie die ganze Geschichte aufgebaut wurde, von welcher Polizeieinheit. Das ist eine bestimmte Einheit, die auch in andere Geschichten verstrickt ist. Man nennt sie “cloacas del estado“ (staatliche Kloaken). Die sind mit dem Kommissar Villarejo verbunden (der in Haft sitzt). Alles ist dreckig. Es erinnert mich an ein paar Kapitel von Babylon Berlin, wo die Polizei auch denkt, dass sie alles machen kann.
Ralf Streck: Können Sie sich selbst richtig verteidigen oder Leute wie den Herrn Puigdemont effektiv verteidigen? Sie werden ja nicht nur selbst juristisch angegriffen, sondern gehören auch zu den Leuten, die über die Pegasus-Abhörsoftware ausspioniert wurden, wie andere im Umfeld von Carles Puigdemont. Es ist klar, dass diese Spionagesoftware, nach Angaben der israelischen Herstellerfirma NSO auch an spanische Behörden geliefert wurde.
Gonzalo Boye: Ihre Frage enthält verschiedene Fragen. Ich werde auf jede Frage einzeln antworten. 1. Ein Anwalt, der sich selber verteidigt, ist ein schlechter Anwalt und er hat zudem einen schlechten Mandanten. Deshalb bin ich nicht mein Verteidiger. Ich habe Verteidiger, das sind Freunde von mir, gute Verteidiger. Ich mische mich ganz wenig in meine Verteidigung ein. 2. Ich habe auch schon bewiesen, dass ich, auch wenn ich unterdrückt werde, Präsident Puigdemont gut verteidigen kann. Letztes Jahr, als er in Italien verhaftet wurde, habe ich ihn ganz gut verteidigt und er wurde freigesprochen. 3. Ja, ich wurde über das Spionageprogramm Pegasus ausspioniert. Außerdem wurde auch eine Spionage gegen mich von einem Richter am Obersten Gerichtshof in Spanien durch den spanischen Geheimdienst genehmigt. Das war der Richter, der mich am Vormittag ausspionieren ließ und dann am Nachmittag über meine Schriftsätze zu Präsident Puigdemont und seine Regierung entscheiden musste. Das ist ein systemischer Fehler. Spanien hat einen systemischen Fehler. Derselbe Richter, der die Spionage gegen mich genehmigt, kann nicht am Nachmittag über meine Schriftsätze entscheiden.
Ralf Streck: Das heißt, da werden Anwaltsrechte ausgehebelt und die Verteidigungsrechte Ihrer Klienten?
Gonzalo Boye: Ja, natürlich. Die denken, das sei normal. Und die geben als Erklärung an, dass das Gesetz das erlaubt. Ja, natürlich. Und im Iran? Das Gesetz erlaubt dort viele Sachen. Auch in der Türkei erlaubt das Gesetz viele Sachen. Aber das bedeutet nicht, dass das richtig ist. Das bedeutet nicht, dass das mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Das bedeutet das nicht. Das sagt nur, dass die ein Gesetz haben, die eine solche Bestialität zulässt.
“WIR VERTEIDIGEN EIN EUROPA, IN DEM DAS GESETZ RESPEKTIERT WIRD“
Ralf Streck: Wechseln wir das Thema. Es laufen diverse Verfahren in Luxemburg. Unter anderem wird am Gericht der Europäischen Union über die Immunität von Herrn Puigdemont entschieden. Welche Erfolgschancen sehen Sie in dem Verfahren, über das demnächst entschieden wird?
Gonzalo Boye: Wir glauben, dass das bei den Anhörungen am 24. und 25. November in Ordnung gegangen ist. Wir sind ganz zufrieden mit den Ergebnissen der Anhörungen. Aber jetzt müssen wir die Entscheidung abwarten, die irgendwann Ende Februar oder Anfang März kommen wird. Und ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die uns nicht Recht geben werden. Nicht nur, weil wir Recht haben. Was wir im Fall Puigdemont verteidigt haben, das ist wichtig zu erklären, das ist die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft. Warum? Sehr einfach: Da jetzt in der Europäische Gemeinschaft Länder sind, die nicht ganz demokratisch sind. Und wenn wir nicht Recht bekommen, dann bedeutet das, dass jeder europäische Abgeordnete aus einer Minderheit dieser Länder oder einer aus einer Oppositionspartei, die gleichen Probleme bekommen kann wie Puigdemont und seine Kollegen. Letztendlich verteidigen wir ein besseres Europa, wir verteidigen ein Europa, in dem das Gesetz respektiert wird. Wir verteidigen ein demokratisches Europa. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Europäische Gerichtshof nicht mit uns einverstanden sein wird.
Ralf Streck: Wie stehen die Dinge im Vorab-Entscheidungsverfahren, das der spanische Richter Pablo Llarena eingeleitet hat? Da geht es um die Auslieferungsfrage. Er argumentiert, dass Belgien einen spanischen Haftbefehl hätte vollziehen müssen. Bei diesem Verfahren geht es um den katalanischen Exilanten Lluís Puig. Der Ausgang ist auch für alle anderen Katalanen entscheidend, unter anderem für Herrn Puigdemont.
Gonzalo Boye: Ja. Wir müssen bis zum 31. Januar abwarten. Der Generalanwalt vom Europäischen Gerichtshof hat ein bisschen Druck ausgeübt in Richtung von Richter Llarena. Aber dessen Gutachten passt gar nicht zu den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zum selben Thema bisher. Und wenn ich sage: bis jetzt, meine ich, bis Oktober dieses Jahres. Wir sind geduldig und werden schauen. Mittlerweile hat Llarena ein weiteres Problem. Das spanische Gesetz wurde kürzlich geändert. Ein Delikt existiert nicht mehr, das andere wurde umformuliert und das Strafmaß gesenkt. Ich weiß nicht, wie er das in 30 Tagen vor der Entscheidung erklären will. Zudem hat die spanische Regierung zu der Gesetzesänderung auch noch gesagt, konkret die Vizepräsidentin, dass die Änderung gemacht wurde, um die Auslieferung von Puigdemont zu erreichen. Das ist verrückt. Ich meine: Wenn das keine politische Verfolgung ist, warum müssen die dann das Gesetz ändern?
Ralf Streck: Normalerweise folgt der Gerichtshof dem Generalstaatsanwalt. Der hat argumentiert, quasi wie die Spanier, dass Belgien den Haftbefehl nur hätte ablehnen dürfen, wenn Spanien die Grundrechte einer größeren Gruppe im Land systematisch verletzt und nicht nur von Einzelpersonen. Allerdings ist die Rechtsauffassung so, dass im EU-Vertrag ausdrücklich Grundrechte als individuelle Rechte definiert werden. Also konsequenterweise gilt das dann auch für Herrn Puigdemont.
Gonzalo Boye: Der Generalanwalt vom Europäischen Gerichtshof hat in diesem Fall total gegen die Doktrin des Gerichtshofs und gegen die Doktrin und die Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg argumentiert. Wie Sie gesagt haben, reden wir über individuelle Rechte. Menschenrechte sind individuelle Rechte, sie können manchmal aber auch allgemein gebrochen werden. Für eine Entscheidung muss man den individuellen Fall anschauen. Das hat der nicht verstanden. Wir sind ganz ruhig. Das Gericht wird mehr oder weniger in der Richtung entscheiden, wie andere Generalanwälte zuvor argumentiert haben. Im diesem Fall war das ein ganz konkretes, singuläres und verrücktes Gutachten. Es macht keinen Sinn, was er gesagt hat. In anderen Verfahren, auch nach unserem, hat der Generalanwalt wieder ganz anders argumentiert. Wir müssen abwarten. Mit Puigdemont ist aber nichts einfach.
„IN EINEM DEMOKRATISCHEN EUROPA GIBT ES RAUM GENUG FÜR EIN UNABHÄNGIGES KATALONIEN“
Ralf Streck: Sie bleiben also dabei, wie Sie einmal vor einiger Zeit gesagt haben, dass die Spanier und die spanische Justiz eigentlich nur entscheiden können, in wie vielen Zügen sie schachmatt sind?
Gonzalo Boye: Ja. Das ist so. Irgendwann vielleicht in 10, 20 oder 30 Jahren werden sie akzeptieren, dass alles, was wir gesagt haben und bis jetzt gemacht haben, sich nicht gegen Spanien gerichtet hat, sondern für ein besseres Spanien war. Das verstehen die aber nicht. Sie denken, dass wir versuchen, Spanien zu zerreißen. Meine Mandanten wollen die Unabhängigkeit Kataloniens und ich will ein demokratisches Europa. In einem demokratischen Europa gibt es Raum genug für ein unabhängiges Katalonien. Ohnehin gibt es auch Raum für ein demokratisches Spanien. Bis jetzt haben wir hier keinen ehrlichen demokratischen Staat.
“PABLO IST NICHT DER EINZIGE JOURNALIST, DER IN POLEN IM GEFÄNGNIS SITZT“
Ralf Streck: Wir haben das Problem nicht nur in Spanien. Und da wechseln wir noch einmal das Thema und gehen in Richtung Polen und Europäische Gemeinschaft. Sie sind auch der Vertrauensanwalt von Pablo Gonzales. Der Journalist mit russischem und spanischem Pass ist nun schon seit mehr als zehn Monaten in Polen inhaftiert. Haben Sie als Anwalt inzwischen endlich einmal ihren Mandanten sprechen können?
Gonzalo Boye: Nein. Aber ich war dort, als seine Frau ihn für zwei Stunden vor einem Monat besuchen konnte. Das ist auch einer der Fälle, weshalb Spanien böse auf mich ist und jetzt ist auch Polen. Aber am Ende verteidigen wir sein Recht und seine Freiheit. Sein Recht, Auskunft zu erhalten. Pablo hat nicht spioniert. Die polnischen Behörden versuchen ihn dafür anzuklagen, dass er Nachrichten und Informationen verbreitet hat, die nicht zu ihrer politischen Linie passen. Pablo ist nicht der einzige Journalist, der in Polen im Gefängnis sitzt. Ich glaube, die spanischen Behörden haben auch viel zu erklären in diesem Fall.
Ralf Streck: Welche Beweise hat Polen bislang vorgelegt? Sie haben ja jetzt auch Kontakt mit den polnischen Verteidigern von Pablo. In einem Rechtsstaat ist eigentlich davon auszugehen, dass Beweise vorgelegt werden, wenn man jemanden für jetzt mehr als zehn Monate inhaftiert. Zumal noch einen Journalisten, obgleich doch angeblich die Rede- und Meinungsfreiheit immer großgeschrieben wird in der Europäischen Union.
Gonzalo Boye: Die neuen Anwälte habe ich gewählt und ich hatte verschiedene Sitzungen und Gespräche mit ihnen. Nach dem polnischen Gesetz darf ich über die Aktenlage nichts sagen. Ich bin aber fest davon überzeugt, nach dem, was ich über die Geschichte weiß, dass Pablo unschuldig ist. Eher früher als später wird alles aufgeklärt. Aber derweil sitzt er im Gefängnis, in Isolationshaft, ohne Kontakt zu seinen Kindern, ein Besuch von zwei Stunden von seiner Frau. Ich hatte zum Beispiel noch keine Möglichkeit, um ihn zu besuchen. Wir müssen abwarten. Aber die Vergrößerung des Verteidigungsteams war absolut nötig.
Ralf Streck: Das bedeutet, dass sich eine Situation der Rechtlosigkeit in der Europäischen Union weiter ausbreitet. Ich meine, Polen guckt natürlich auch, was in Spanien passiert, wie Spanien mit den Katalanen umgeht und nimmt sich in dem Fall von Pablo Gonzales gewisse Rechte heraus. Es geht um Grundrechte, Verteidigerrechte, die nicht garantiert werden, oder? Das war jetzt der erste Besuch seiner Frau nach mehr als zehn Monaten.
Gonzalo Boye: Ja. Um ehrlich zu sein, ich bin einverstanden mit Ihnen. Aber ich glaube, dass unsere letzte Hoffnung für ein demokratisches Europa am Europäischen Gerichtshof liegt. Es ist die Interpretation und es sind die Entscheidungen vom Europäischen Gerichtshof. Das ist die letzte Verteidigungslinie für ein anderes Europa als das, was wir bis jetzt gekannt haben. Wenn wir dagegen sehen, was die Kommission macht, wenn wir sehen, was Herr Borrell sagt, wenn wir sehen, was verschiedene Institutionen der Europäischen Union machen. Bei Freiheit und demokratischen Grundsätzen, so ist meine Meinung, liegt unsere letzte Hoffnung beim Europäischen Gerichtshof. Deswegen bin ich überzeugt, dass wir öfter zum Europäischen Gerichtshof gehen und versuchen, dass die Sachen, die mit der Demokratie zu tun haben, vor dieses Gericht gebracht werden. Damit dieses Gericht als Verteidiger der Demokratie entscheiden kann.
Ralf Streck: Gibt es bei der Situation von Pablo Gonzales irgendwelche Veränderungen, außer dass jetzt seine Frau ihn erstmals besuchen konnte. Hat sich irgendwas gebessert? Er war die ganze Zeit in fast kompletter Kontaktsperre.
Gonzalo Boye: Jetzt haben wir eine flüssige Kommunikation mit dem neuen Verteidigungsteam. Wir haben eine Strategie und wir haben Auskunft. Das ist sehr wichtig, damit wir eine richtige Verteidigung aufbauen können. Sonst gibt es keine Veränderung.
ANMERKUNGEN:
(1) “Spanien sieht zwar so aus wie eine Demokratie, es ist aber keine echte Demokratie“, Overton-Magazin, Autor: Ralf Streck, 2022-12-30 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Gonzalo Boye (omnium cultural)
(2) Katalonien (rtve)
(3) Pablo Gonzalez (P.G.)
(4) Katalonien (rtve)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-01-01)