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Bankräuber, Fälscher und Internationalist

Der Baske Lucio Urtubia war Anarchist, Bankräuber, Fälscher, vor allem aber Maurer. Aufgewachsen in einer armen Familie in Süd-Navarra entdeckte er früh das Potential der Schmugglerei an der Grenze zu Frankreich. Beim Wehrdienst enteignete er das Militär, desertierte und floh 1954 nach Frankreich, um den Strafen des Franquismus zu entgehen. In Paris arbeitete er als Maurer, kam in Kontakt mit dem Anarchismus und Größen wie André Breton, Albert Camus und einem antifranquistischen Maquis-Mitglied.

Lucio Urtubia Jiménez (* 18. Februar 1931 in Cascante, Navarra; † 18. Juli 2020 in Paris) war Maurer und Anarchist. Er wurde bekannt durch direkte Aktionen der individuellen Enteignung, mittels Bankraub oder Fälschungen und durch Geldbeschaffung für revolutionäre Bewegungen.

Die unglaubliche Geschichte des Lucio Urtubia: Er war aktiv im militanten Widerstand gegen die Franco-Diktatur und hat Banken überfallen. Er hat Che Guevara getroffen und den Mai 1968 in Paris erlebt. Die revolutionären Bewegungen der 70er Jahre in Europa und den Amerikas konnten auf ihn zählen: Traveller-Schecks und Ausweispapiere aus Lucios Fälscherwerkstätten gingen um die Welt. Ungewollt sponsorte die Citibank den Widerstand mit Millionen. (1)

Fälscher für die internationale Revolte

Seine erste Reise nach Lateinamerika macht Lucio 2008. Er fährt nach Argentinien, Uruguay und Brasilien, um den Dokumentarfilm vorzustellen, der im Vorjahr über ihn erschienen ist (2). Bei der Veranstaltung in einer anarchistischen Druckerei in La Teja, einem Arbeiterstadtteil von Montevideo, meldet sich ein älterer Mann zu Wort: “Lucio, du kennst mich nicht, aber ich möchte mich bei dir bedanken für alles, was ihr für uns getan habt, für die Tupamaros, für uns Anarchisten, für alle.“ Sein Sohn ist ebenfalls zur Veranstaltung gekommen. Als Kind hatte er eines Tages seinen Teddybären aufgeschnitten und darin eine große Menge Dollars gefunden. Das gab Ärger mit seinem Vater, der dort das Geld, das er mit gefälschten Citibank-Schecks abgehoben hatte, für die Bewegung bunkerte. “Ich erinnere mich noch gut an diese Geschichte. All die Jahre habe ich davon geträumt, dich kennenzulernen.“

Solche Erlebnisse hat Lucio immer wieder, seit er öffentlich über seine Abenteuer spricht. Unzählige Menschen griffen damals auf das Geld und die falschen Papiere aus Paris zurück, aber nur wenige kannten den unauffälligen Anarchisten, der im Zentrum dieser Infrastruktur stand. Sein größter Coup ging zu Lasten der Citibank (vormals First National City Bank), einer der weltweit größten Banken. Lucio und seine Freunde druckten Ende der 1970er Jahre zentnerweise deren Travellerschecks nach. Die Fälschungen waren so gut gemacht, dass sie in den Filialen nicht erkannt werden konnten. Überall auf der Welt lösten Genoss*innen die Schecks ein. Die Citibank spricht von einem Betrug in Höhe von mehr als 15 Millionen US-Dollar.

lucio2Für Lucio war immer klar, dass dieses Geld “für die Sache“ bestimmt war und nicht für private Zwecke. Seinen Lebensunterhalt als Arbeiter zu verdienen war ihm wichtig. Bis zu seinem 72. Lebensjahr arbeitete er als Maurer und Fliesenleger auf dem Bau, zunächst für verschiedene Unternehmen und später – nach dem gescheiterten Versuch, mit einigen Compañeros eine Kooperative aufzubauen – in seinem eigenen Betrieb.

Währenddessen genoss er es, mit vollen Händen geben zu können und den Bewegungen stapelweise gefälschte Papiere und Geld zukommen zu lassen. Tupamaros und Anarchisten aus Uruguay, Montoneros aus Argentinien, Gewerkschafter aus Bolivien, Befreiungskämpfer aus Mittelamerika, Deserteure des Vietnamkrieges, Black Panther, Militante aus bewaffneten Gruppen in Europa … im Pariser Exil trafen sich Revolutionäre aus aller Welt.

Mit diesen Kontakten wurde ein Netz der Solidarität geknüpft. Wer alles letzten Endes mit dem Geld der Citibank und den falschen Papieren unterstützt wurde, kann Lucio bis heute nicht sagen. Er war und ist mit vielen bewaffneten Aktionen der betreffenden Gruppen und Organisationen nicht einverstanden. Aber er war immer bereit, verfolgte Compañeros, die für ihre Ideale kämpften, praktisch zu unterstützen. Wenn ein befreundeter Compañero mit einem Hilfeersuchen für andere an ihn herantrat, fragte er nicht weiter nach, sondern machte sich an die Arbeit.

Lucios Jugend

Lucio ist selbst Migrant. Er wurde 1931 in einem kleinen Dorf in Navarra, im spanischen Baskenland geboren. Seine Kindheit war geprägt von extremer Armut und dem Terror der Franquisten. Schon früh musste er arbeiten. Ende der 1940er-Jahre stieg er mit seinem Bruder ins Schmuggelgeschäft ein. Immer wieder überquerten sie die Pyrenäen und brachten Waren über die spanisch-französische Grenze. Kurz danach wurde er zum Militärdienst eingezogen. Dort ermöglichte ein Posten im Lager den Ausbau der Geschäfte. Gemeinsam mit anderen schaffte er tonnenweise Material aus der Kaserne. Als diese Aktivitäten entdeckt wurden, desertierte er 1954 nach Frankreich.

In Paris fand er Arbeit auf dem Bau, wo er andere Flüchtlinge aus Spanien kennen lernte. Er freundete sich mit anarchistischen Kollegen aus Katalonien an, die ihm libertäre Ideen näherbrachten. Sie führten ihn ins Zentrum der CNT ein, wo sich Arbeiter und Intellektuelle zu Vorträgen und Diskussionen trafen. Für Lucio erschloss sich eine neue Welt.

Ein Freund aus der Maquis-Guerrilla

1957 lernte er Francisco “Quico“ Sabaté kennen – eine der entscheidenden Begegnungen in seinem Leben (3). Quico war damals einer der meistgesuchten Anarchisten in Spanien. Er hatte im Bürgerkrieg gekämpft und 1939 nach Frankreich fliehen müssen. Aber er reiste immer wieder nach Spanien ein, um sich an bewaffneten Sabotageaktionen zu beteiligen. Er überfiel Banken, um den Widerstand gegen Franco zu finanzieren, und transportierte in Frankreich gedrucktes Propaganda-Material über die Grenze nach Spanien. Als er einen Unterschlupf in Paris brauchte, brachten ihn anarchistische Compañeros zu Lucio. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft. Um einer drohenden Auslieferung nach Spanien zu entgehen, beschloss Quico, sich den französischen Behörden zu stellen und eine Haftstrafe in Frankreich abzusitzen. Vorher übergab er Lucio sein Waffenarsenal.

Damit begann Lucios Geschichte als Enteigner der Banken. Mit Quicos Maschinenpistole und einem Kumpel, der genauso wenig Erfahrung in diesem Metier hatte, überfiel er Sparkassen in Paris, planlos und unmaskiert, doch sie hatten Glück. Sie wurden nicht geschnappt und brachten bis zu Quicos Entlassung aus dem Knast eine ordentliche Summe zusammen, die dann den Gefangenen des Franco-Regimes in Spanien zu Gute kam. Aber die Methode gefiel Lucio nicht. Ihn quälte die Vorstellung, dass eine Bankangestellte oder er selbst bei einer solchen Enteignung mit Waffengewalt sterben könnte – und das nur wegen Geld.

Dokumentenfälschung

So entwickelte er mit befreundeten anarchistischen Druckern bessere Ideen. Sie nutzten bestehende Druckereien, um dort in klandestinen Nachtschichten besondere Produkte herzustellen: Ausweise verschiedener Länder für die vielen Flüchtlinge, Lohnschecks spanischer Banken und schließlich die Travellerschecks der Citibank.

Auch die Fälschung von Dollarnoten war Anfang der 60er Jahre bereits vorbereitet. Lucio war damals ein großer Bewunderer der kubanischen Revolution und überlegte, wie er die Compañeros gegen das Imperium unterstützen könnte. Wäre es nicht möglich, die USA zu destabilisieren, indem sie den Markt mit gefälschten Dollars überschwemmten? Er hatte sich mit der kubanischen Botschafterin in Paris angefreundet und erzählte ihr von der Idee. Sie stellte den Kontakt her, und 1962 traf sich Lucio in der Nähe von Paris mit Che Guevara, um ihm den Vorschlag zu unterbreiten, diese Fälschungsaktion gemeinsam in Angriff zu nehmen. Aber der damalige kubanische Wirtschaftsminister ließ sich nicht dafür begeistern.

lucio3Rechtsanwälte empfahlen Lucio, statt Dollars lieber Schecks zu fälschen, da die Strafe im Falle einer Verhaftung geringer wäre. Dazu kommt es 1980: In einem Pariser Café wird Lucio mit einem Koffer voll falscher Schecks festgenommen. Er kommt in U-Haft und die Lage sieht düster aus. Aber draußen gehen die Geschäfte mit den falschen Schecks weiter. Das Netzwerk funktioniert auch ohne Lucio. Für die Citibank wird das zu einem ernsthaften Problem. Viele Filialen nehmen die Travellerschecks nicht mehr an, die Touristen sind empört und der Ruf der Bank ruiniert. So lässt sie sich notgedrungen auf Verhandlungen mit dem Delinquenten ein. Gegen Herausgabe der Druckplatten und das Versprechen, keine weiteren Citibank-Schecks zu drucken, würde sie auf die Strafverfolgung verzichten. Lucio legt noch einen drauf, verlangt im Gegenzug eine Entschädigung – und bekommt sie.

Trotz seiner beeindruckenden Serie von Gesetzesbrüchen ist es Lucio gelungen, nur relativ wenig Zeit in Knästen zu verbringen. Die Polizei traute dem einfachen Arbeiter und Migranten derart ausgefuchste Aktionen lange Zeit nicht zu, und Lucio selbst war sehr verschwiegen. Nur wenige wussten von seinen nächtlichen Aktivitäten. In Frankreich wurde er 1974 zum ersten Mal verhaftet, im Zusammenhang mit der Entführung eines spanischen Bankdirektors, einer Protestaktion gegen die Hinrichtungen in Spanien. Mangels Beweisen mussten er und seine Frau Anne nach kurzer Zeit wieder freigelassen werden. Und auch der Knastaufenthalt wegen der Citibank-Schecks endete dank des Geschicks seiner prominenten Anwälte und der Verhandlungen mit der Bank schon nach einem halben Jahr. (1)

Die Suche nach dem direkten Weg

Lucio Urtubia war ein überaus praktisch veranlagter Mensch. Utopien waren keine geistigen Höhenflüge, sondern praktische Handlungs-Anleitungen. Seine Solidarität war so direkt wie irgend möglich. Mit Quico Sabaté versorgte er sowohl Familien und Libertäre im Exil in Toulouse, Perpignan, Paris, wie auch südlich der Grenze verbliebene aktive Mitglieder der spanischen CNT in Barcelona, Zaragoza, Madrid und Pamplona. Auch sein Angriff auf die kapitalistische Wirtschaft war unmittelbar und direkt: mit gefälschten Traveller-Schecks wurde die US-amerikanische First National City Bank (heute: Citibank) enteignet, das Geld wurde umverteilt.

Bis zu seinem Tod hatte Lucio Urtubia Freundinnen und Freunde in allen linken politischen Lagern, lange nicht nur unter Anarchist*innen. Der links-nationalistische Politiker Arnaldo Otegi ließ sich ebenso gerne mit Lucio fotografieren, wie Fermin Muguruza von der legendären Basken-Band Kortatu. Bei der jährlichen baskischen Buch- und Musik-Messe Anfang Dezember in Durango (Bizkaia) war Lucio regelmäßig anwesend, um Autogramme zu schreiben, für Fotos zu posieren und Rede und Antwort zu stehen.

Biografie bei Assoziation A

Erst im Ruhestandsalter hat sich Lucio entschlossen, seine Erfahrungen öffentlich zu machen. Seine Autobiografie ist 2010 auch auf Deutsch erschienen: “Lucio Urtubia: Baustelle Revolution – Erinnerungen eines Anarchisten“, eine Übersetzung aus dem Spanischen von Alix Arnold und Gabriele Schwab. Alix Arnold, die (Ko-)Übersetzerin dieser Autobiografie erinnert in einem Nachruf an Lucios Leben und ihre gemeinsamen Begegnungen. Dieser Nachruf kann mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags unter einer Creative-Commons-Lizenz weiterverbreitet werden. Freundlichen Dank an den Verlag! (4)

lucio4Alix Arnold – Nachruf für Lucio Urtubia

Anarchist, Bankräuber, Fälscher, aber vor allem … Maurer. Dieser ungewöhnliche Filmtitel, auf den ich im Internet stieß, machte neugierig. Was wir dann in dem Dokumentarfilm der baskischen Filmemacher Aitor Arregi und Jose Mari Goenaga von 2007 mit deutschen Untertiteln sahen, konnten wir kaum glauben (2). So viele außergewöhnliche Aktionen, Abenteuer und Begegnungen in einem einzigen Leben?

Lucio Urtubia wurde 1931 in Navarra im Baskenland geboren, wo er in großer Armut aufwuchs. Nachdem er einige Zeit im Schmuggelgeschäft tätig gewesen war, wurde er zur spanischen Armee eingezogen, aus der er 1954 desertierte, als sein groß angelegtes Abzweigen von Waren aus dem Armeelager aufzufliegen drohte. Er floh nach Paris, arbeitete auf dem Bau und bekam über Kollegen Kontakt zu anarchistischen Kreisen. Hier fand er nicht nur die politischen und ideologischen Grundlagen für seine Haltung, sondern lernte auch den legendären Anarchisten Francisco “Quico“ Sabaté kennen, der in den drei Jahren bis zu seinem gewaltsamen Tod 1960 durch die spanische Guardia Civil zu Lucios Freund und Lehrer wurde.

Lucio hat Banken überfallen, um mit dem Geld Gefangene der Franco-Diktatur in Spanien zu unterstützen. Er fälschte Ausweise für die spanischen Flüchtlinge in Frankreich. Später wurden in seinen Fälscher-Werkstätten Schecks und Identitätspapiere verschiedenster Länder gedruckt. Diese Dokumente und das so beschaffte Geld kamen revolutionären Bewegungen in Europa, Lateinamerika und den USA zugute. “

Lucio traf sich mit Che Guevara, um mit ihm zu besprechen, wie gefälschte Dollars zur Destabilisierung der USA eingesetzt werden könnten. Seine größte Enteignungsaktion ging zu Lasten einer der größten Banken der Welt, die er in die Knie zwang: Angesichts der Unmenge an perfekt gefälschten Travellerschecks, die an allen Ecken und Enden der Welt auftauchten, nahm die First National City Bank (heute Citibank) 1980 Verhandlungen mit Lucio Urtubia auf, verzichtete gegen Herausgabe der Druckplatten auf eine Strafverfolgung und zahlte sogar noch eine “Entschädigung“.

Wie konnte es sein, dass wir von diesem interessanten Menschen noch nie etwas gehört hatten? Wir suchten nach weiteren Informationen. Auf Deutsch fanden wir nur eine kleine Notiz bei der FAU. Es gab eine Biografie von Bernard Thomas, die 2000 auf Französisch und 2001 auf Spanisch erschienen ist. Da war Lucio bereits 70 Jahre alt. Diese langjährige Verschwiegenheit und Unsichtbarkeit ist sicher einer der Gründe, warum Lucio trotz der beeindruckenden Serie von Gesetzesbrüchen nur relativ wenig Zeit in Gefängnissen verbringen musste.

Während er Millionenbeträge für die Bewegungen enteignete und eine untergründige Infrastruktur weltweiter Solidarität aufbaute, lebte er selbst unauffällig und bescheiden in Paris. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit der Maurerkelle auf dem Bau, wo er jeden Morgen pünktlich zur Arbeit erschien. Nur wenige Menschen wussten von seinen klandestinen Aktivitäten, und die Verfolgungsbehörden trauten dem einfachen Arbeiter und Migranten derart ausgeklügelte Aktionen lange Zeit nicht zu. Vorurteile der Gegenseite können manchmal auch von Vorteil sein.

Während meine im Baskenland lebende Freundin Gabi Schwab und ich noch überlegten, ob wir die Biografie übersetzen sollten, um diese faszinierende Lebensgeschichte bekannt zu machen, erschien Ende 2008 im baskischen Verlag Txalaparta Lucios Autobiografie. Wir nahmen Kontakt zu Lucio auf, der von dem Vorschlag, sein Buch zu übersetzen, sofort begeistert war, und hatten durch dieses Projekt das Privileg, ihn bald auch persönlich kennenzulernen. Schon das erste Treffen mit ihm in Paris war eine herzliche Begegnung und der Anfang einer schönen Zusammenarbeit. Lucios Autobiografie ist nicht chronologisch geordnet. So kamen uns beim Übersetzen immer wieder Zweifel und Fragen, wer gemeint war, wann und wo sich bestimmte Episoden abgespielt hatten und wie diese ganzen Geschichten zusammenhingen.

lucio5An dem großen Tisch in dem von Lucio gegründeten Kulturzentrum Espace Louise Michel beantwortete Lucio geduldig alle unsere Fragen, erzählte uns Geschichten neu und wies uns immer wieder auf Ereignisse und Ideen hin, die ihm besonders wichtig waren. An seinen Erzählstil mussten wir uns erst gewöhnen. Manchmal fragten wir uns, ob er vielleicht unsere Frage nicht richtig verstanden hätte, wenn er erstmal über ganz andere Personen und Ereignisse sprach, aber irgendwann kam er dann immer auf den fraglichen Punkt, mit dem all die anderen Geschichten eben auch irgendwie zusammenhingen.

Aus den Aufnahmen dieser Gespräche wurde das Kapitel “Begegnung mit Che Guevara“ in die deutsche Ausgabe zusätzlich eingefügt. Außerdem schrieb Lucio noch drei neue Kapitel, die er uns auf handgeschriebenen fotokopierten A3-Blättern überreichte. Dadurch bekamen wir eine bessere Vorstellung davon, aus welchem “Original“ die Autobiografie entstanden ist. Lucio sagte selbst immer wieder, dass er gar nicht schreiben könne. Aber getreu seinem Lebensmotto, dass nichts unmöglich ist, wenn man es nur anpackt, hat er es dann glücklicherweise doch getan und sich die entsprechende Hilfe gesucht.

Mit dem Rohmaterial seiner Autobiografie war er zu dem Katalanen Francisco Rodríguez de Lecea gegangen, dem Übersetzer der von Bernard Thomas verfassten Biografie, und hatte ihn gebeten, sein Manuskript in eine lesbare Form zu bringen, was dieser dann auch tat. So entstand das Buch mit der gleichen Vorgehensweise, mit der Lucio auch seine klandestinen Aktivitäten organisiert hatte. Für all die Tätigkeiten wie Grafik oder Druck, die er selbst nicht beherrschte, konnte er Leute mit den entsprechenden Fähigkeiten zur Mitarbeit bewegen. Auch dies entspricht seiner Lebensphilosophie: Dass niemand mehr wert ist als die anderen. Nicht jeder kann alles, aber wenn es uns gelingt, die Fähigkeiten der einzelnen Menschen zusammenzubringen, dann geht es voran. Für uns war es sehr schön, mit unseren Fähigkeiten im Wort- und Satzbau ein klein wenig zur Verbreitung der Geschichte von Lucio beitragen zu können.

Nachdem Lucios Geschichte durch den Film und die Bücher öffentlich geworden war, begannen die Einladungen und Reisen. 2008 war Lucio mit dem Dokumentarfilm in Argentinien, Brasilien und Uruguay. Dort lernte er nun Jahrzehnte später Genossen kennen, die damals Citibank-Schecks aus Lucios Produktion bekommen und für ihre jeweiligen politischen Gruppen eingelöst hatten. Als die deutsche Fassung der Autobiografie erschienen war, haben wir zwischen 2010 und 2014 mehrere Reisen unternommen, um das Buch in verschiedenen Städten in Deutschland vorzustellen.

Nachdem er so lange über seine Aktivitäten geschwiegen hatte, machte es Lucio nun offensichtlich Spaß, seine Abenteuer einem faszinierten Publikum zu erzählen. Besonders jüngere Zuhörer*innen sagten nach Veranstaltungen immer wieder, wie inspirierend der Vortrag für sie war. Lucios Optimismus und seine Überzeugung, dass wir die Welt ändern können, waren ansteckend – zumal viele seiner Geschichten Beweis genug für seine These sind, dass auch in den aussichtslosesten Situationen doch immer noch was geht. Lucio betonte immer wieder, dass es keine Utopie gäbe – denn wenn du anfängst, sie umzusetzen, machst du sie bereits zur Realität.

Lucio stammt aus einer armen sozialistischen Familie in Cascante, einem Dorf in Navarra. Schon als Kind musste er mit Arbeit zum Familienunterhalt beitragen. Er lernte materielle Not und den Terror des Franquismus kennen. Er selbst bezeichnete es aber immer als sein Glück, arm geboren zu sein. Dadurch habe er keinerlei Probleme gehabt, den Respekt vor Autoritäten, vor Kirche und Staat und der herrschenden Ordnung zu verlieren.

Er vertrat einen expliziten Arbeiterstandpunkt. Dieser beinhaltete einen genauen Blick von unten für Machtverhältnisse und soziale Ungerechtigkeiten sowie die Überzeugung, dass nur die Arbeiter, die die Welt am Laufen halten, diese auch verändern können. Dazu gehörte für ihn aber auch ein ausgeprägtes Arbeitsethos. Er hat bis zu seinem 72. Lebensjahr auf dem Bau gearbeitet. Es war ihm immer wichtig, seinen Lebensunterhalt als Arbeiter zu verdienen. Das viele Geld, das er auf illegale Weise beschaffte, war für die Solidarität bestimmt, nicht für private Zwecke. Menschen, die bei der Arbeit nicht zupacken können oder wollen, waren ihm ebenso suspekt wie intellektuelle Politaktivisten, auf die man sich in der Praxis nicht verlassen kann. Von Menschen, die ohne Arbeit am Rande der Gesellschaft leben, erwartete er nicht viel.

lucio6Bei den Veranstaltungen kam sein Loblied auf die Arbeit verständlicherweise nicht immer gut an und es gab gelegentlich auch Konflikte. Wenn der Punkrockstil eines Veranstaltungsortes seinen Handwerkerstolz beleidigte, wenn ihm die Fragen des Publikums nicht gefielen oder das Publikum in seinen Augen zu studentisch oder “politisch marginal“ aussah, konnte aus einer Veranstaltung auch mal eine Publikumsbeschimpfung werden. Die Vermittlung zwischen einem Handwerker, der 25 älter war als ich, und einem wesentlich jüngeren Publikum, ist mir als Übersetzerin nicht immer gelungen.

Lucio war eigensinnig im guten, aber manchmal auch im schlechten Sinne. Auch wir gerieten auf diesen Reisen gelegentlich in Streit. Aber die Konflikte waren glücklicherweise spätestens am nächsten Tag beigelegt, und es gab bei diesen Reisen vor allem viele schöne Momente mit guten Gesprächen, interessanten Begegnungen und auch Abende mit gutem Essen und gutem Wein – beides wusste Lucio sehr zu schätzen.

Durch die Veröffentlichung seiner Geschichte bekam Lucio Kontakte zu Subkulturen, mit denen er vorher nichts zu tun hatte, und er war dafür trotz seines hohen Alters sehr aufgeschlossen. Er erzählte, dass eines Tages einige voll tätowierte und grimmig dreinschauende Männer in seiner Tür im Espace gestanden hätten, die – wie er immer wieder betonte – für alle offen stand. Im ersten Moment befürchtete er einen Überfall. Die Männer stellten sich jedoch als Mitglieder einer Band vor – wenn ich mich nicht irre, war es die Skapunk-Band SKA-P aus Madrid. Sie wollten Lucio kennenlernen und sie haben sich danach noch häufig getroffen.

2013 waren wir in Paris, um unseren Freund Fermin Muguruza – Musiker aus dem Baskenland – auf seiner No-More-Tour zu treffen. Da wir dachten, dass die beiden sich sicher viel zu sagen hätten, luden wir Lucio zu diesem Abend ein. Lucio hörte und sang gerne alte Revolutionslieder und Chansons. Er mochte zum Beispiel die Lieder von Georges Brassens, Jacques Brel und vor allem von dem Anarchisten Léo Ferré. Ein Konzert mit Schlagzeug und Verstärkern wollten wir ihm nicht zumuten, deshalb luden wir ihn zum Abendessen mit der Band vor dem Auftritt ein. Aber Lucio ließ es sich nicht nehmen, auch noch bei dem Konzert dabei zu sein, bei dem er mithilfe eines Barhockers bis zum Ende durchhielt, gefeiert vom Publikum und der Band. Er war vermutlich der älteste Konzertbesucher dieser Tour. In dem Film zur Tour ist Lucio bei dem Konzert und mit einem kurzen Interview zu sehen (ab Minute 57:16). (5)

Lucio hat im Pariser Stadtteil Belleville gelebt, wo er in den 1990er Jahren ein heruntergekommenes Gebäude in der Rue des Cascades gekauft und zu einem kleinen Kulturzentrum ausgebaut hatte. Ein großer Raum im Erdgeschoss bietet Platz für Veranstaltungen, Ausstellungen und Versammlungen. Dem Zentrum hat er den Namen Espace Louise Michel gegeben, in Erinnerung an die große Anarchistin der Pariser Kommune. Über der Tür steht der Liedtitel aus der Zeit der Pariser Kommune “Le Temps des Cerises“ (Die Zeit der Kirschen) und am Giebel “Sustraiak“ (baskisch für Wurzeln).

Hier lebt auch Anne Urtubia, Lucios Ehefrau, Mitstreiterin und Lebensgefährtin. Sie haben sich im Pariser Mai kennengelernt und danach viele Aktionen gemeinsam durchgestanden. 1974 wurden sie im Zusammenhang mit einer Entführung – nach der Hinrichtung von Salvador Puig Antich (6) durch die Garotte in Spanien – zum ersten Mal verhaftet, kamen aber bald wieder frei. Auch nach ihrer Trennung als Paar blieben sie beide in benachbarten Wohnungen im Espace wohnen.

Die Unterstützung von Gefangenen war für Lucio immer ein großes Anliegen. Schon das Geld aus seinen ersten Banküberfällen, die er Ende der 1950er-Jahre machte, war für die Gefangenen des Franco-Regimes bestimmt. Lucio reiste illegal nach Spanien ein, um dort die Angehörigen mit Geld und politischem Material zu versorgen. Wo auch immer Solidarität mit Gefangenen erforderlich war, konnte man auf Lucio zählen.

Sein Espace wurde von den Angehörigen der baskischen Gefangenen genutzt, die immer wieder für Besuche den weiten Weg aus dem Baskenland bis nach Paris machen müssen. Als eine baskische Gefangene für den Status als Freigängerin einen Job brauchte, stellte er sie als Sekretärin ein. Auch das Solidaritätskomitee für Sonja Suder und Christian Gauger, die lange in Frankreich gelebt hatten, konnte selbstverständlich die Räume nutzen, als die beiden aufgrund einer Anklage wegen Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen in den 1970er-Jahren von der Auslieferung nach Deutschland bedroht waren.

lucio7Lucio ist seinen Überzeugungen immer treu geblieben und hat sein Leben lang gegen Unterdrückung und für die Freiheit gekämpft. Ich habe ihn zuletzt vor zwei Jahren in Paris getroffen. Da kämpfte er noch gegen die Folgen eines Schlaganfalls, nach dem er zunächst nicht mehr sprechen konnte und teilweise gelähmt war. Sein Sprachvermögen hatte er wieder zurückerobert und er konnte auch wieder gehen, wenn auch mit großen Mühen. Für die etwa 200 Meter von seiner Wohnung zum Bistro am Place Henri Krasucki haben wir sehr lange gebraucht, mit mehreren Pausen. Aber selbst in dieser Situation lag Lucio das Jammern fern. Er sagte, dass er sich doch glücklich schätzen könne, da sich Anne und ihre gemeinsame Tochter Julieta großartig um ihn kümmerten und alle Hilfe organisierten, die er brauche.

Am 18. Juli 2020 ist Lucio mit 89 Jahren in Paris gestorben. Wir haben einen außergewöhnlichen Genossen verloren – mutig, großzügig, hartnäckig, unbestechlich und immer solidarisch. Ruhe in Freiheit, Compañero. Ich hätte gerne noch mehr Gelegenheiten gehabt, eine Flasche Wein mit dir zu teilen. Du wirst mir fehlen. (Alix Arnold, Köln, 3. August 2020) (4)

Nachbemerkung

Bei Wikipedia ist in sieben Sprachen Information über Lucio Urtubia zu finden. Wer sprachlich in der Lage ist, die spanische und die deutsche Version zu vergleichen, wird feststellen, dass die deutsche fragwürdige Information enthält, was die Entführung von Klaus Barbie aus Bolivien anbelangt. Insofern sollte die Information mit Vorsicht aufgenommen werden. Wir empfehlen stattdessen die Lektüre der im Verlag Assoziation A erschienenen Biografie. (2) (7)

ANMERKUNGEN:

(1) “Fälscher für die internationale Revolte“ Alix Arnold, publiziert bei ILA (LINK)

(2) Lucio Urtubia, Dokumentarfilm der baskischen Filmemacher Aitor Arregi und Jose Mari Goenaga von 2007 mit deutschen Untertiteln (LINK)

(3) Francesc Sabaté Llopart (1915-1960) genannt “El Quico“, war ein katalanischer Anarchist und Widerstandskämpfer während der Franco-Diktatur, der sich zwischen Spanien und Frankreich bewegte und in der Maquis-Guerrilla aktiv war. (LINK)

(4) “Lucio Urtubia: Baustelle Revolution. Erinnerungen eines Anarchisten“. Aus dem Spanischen von Alix Arnold und Gabriele Schwab, Hamburg / Berlin 2010, Verlag Assoziation A. Abdruck des Nachrufs von Alix Arnold unter Creative-Commons-Lizenz und mit freundlicher Genehmigung des Verlags Assoziation A. (LINK)

(5) Lucio bei einem Abschieds-Konzert von Fermin Muguruza, Interview mit Lucio (ab min 57:16). (LINK)

(6) Salvador Puig Antich (1948-1974) war ein katalanischer Anarchist, der Sabotage-Aktionen und Anschläge organisierte auf franquistische Einrichtungen. Er wurde zum Tode verurteilt und durch die Garrotte hingerichtet (LINK)

(7) Unter dem Titel “Bankraub ist eine ehrenvolle Sache“ erschien am 11.12.2010 in der Tageszeitung Neues Deutschland ein Interview mit Lucio Urtubia (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Lucio Urtubia (cnt)

(2) Lucio Urtubia (assoziation a)

(3) Lucio Urtubia mit Che Guevara

(4) Lucio Urtubia (la pluma net)

(5) Lucio Urtubia (txalaparta)

(6) Lucio Urtubia (resumen)

(7) Lucio Urtubia (noticias de gipuzkoa)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-08-11)

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