Zwischen Genie und Wahnsinn
Yayoi Kusama (*1929, Japan) ist eine der bedeutendsten japanischen Künstlerinnen der Nachkriegszeit. Zwischen 1958 und 1972 lebte sie überwiegend in New York, USA. Ihre bekanntesten Kunstwerke, Aktionen und Happenings entstanden in dieser Zeit. Ihr Markenzeichen sind Polka Dots, farbige Punkte, die sie auf Leinwänden, Skulpturen und Menschen malte. Im Guggenheim-Museum Bilbao läuft derzeit eine Retrospektive über das “hypnotische Universum“ der Künstlerin, die in einer psychiatrischen Klinik lebt.
Das Guggenheim Museum zeigt bis zum 8. Oktober 2023 die umfassende Retrospektive "Yayoi Kusama: von 1945 bis heute", gewidmet einer der einflussreichsten Figuren der zeitgenössischen Kunst und einer kulturellen Ikone des 21. Jahrhunderts.
Die Sommer-Ausstellung lässt das Publikum in das obsessive, einzigartige und avantgardistische Universum dieser 94-jährigen japanischen Künstlerin eintauchen, die auf eine einmalige künstlerische Karriere von sieben Jahrzehnten zurückblicken kann. (1) (2)
Von den ersten Zeichnungen, die Kusama als Teenagerin während des Zweiten Weltkriegs anfertigte, bis hin zu ihren jüngsten Werken umfasst die Retrospektive eine Auswahl von zweihundert Gemälden, Skulpturen, Performances, bewegten Bildern, großformatigen Installationen und Archivmaterial. Die Ausstellung beinhaltet ihre ikonischen Kürbisse, die die Künstlerin als eine Art wohlwollenden Pflanzengeist und Spiegelbild ihrer eigenen Seele bezeichnet. Daneben ihre farbigen Tupfen und Blumenskulpturen, eine weitere ihrer Obsessionen aufgrund der Halluzinationen, die sie als Kind erlitt.
Chronologisch, thematisch
Die Ausstellung ist nach chronologischen und thematischen Kriterien gegliedert und zeigt Kusamas kreatives Schaffen rund um die großen Themen und Fragen, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet haben: Unendlichkeit, Akkumulation, radikale Konnektivität, das Bio-Kosmische, Tod und Kraft des Lebens sowie die Einbettung der Werke in die verschiedenen politischen und sozialen Realitäten, die sie erlebte.
Wer in ihre Welt der Blau-, Rot-, Gelb- und Orangetöne eindringt, kann sich eine komplexe Persönlichkeit vorstellen, die auch heute noch aktiv ist, im Alter von 94 Jahren. Mit Cindy Sherman, Jenny Saville und Cady Noland “konkurriert“ Kusama um den Titel der weltweit gefragtesten lebenden Künstlerin. Ihr Erfolg ist die späte Frucht eines Werks, das bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Damals begann sie, zwanghaft alle möglichen Gegenstände mit phallischen Auswüchsen zu überziehen und große Leinwände zu schaffen, auf denen sie unermüdlich dieselben Muster wiederholte, verkettete Kreise, die sie "unendliche Netze" nannte.
Kusamas Kindheit in Japan
Ihre Kindheit und Jugend im Elternhaus war von Strenge und Autorität geprägt. Japan war zu dieser Zeit ein faschistischer Militärstaat. Kusama musste im Zweiten Weltkrieg ab 1941, im Alter von nur 12 Jahren, in einer Fallschirmfabrik arbeiten. Ihre Mutter wünschte, dass ihre Tochter traditionell aufwächst. Ständiger Druck, Ablehnung und Entfremdung von ihrer Mutter könnten zu Kusamas schon in der Kindheit beginnender Krankheit geführt haben, die sich in Halluzinationen zeigte. Kusama sah Punkt- und Netzmuster und fürchtete, sich darin aufzulösen.
“Ich sah auf das rote Muster der Tischdecke. Als ich aufblickte, bedeckte dasselbe rote Muster die Decke, die Fenster und die Wände, und schließlich den ganzen Raum, meinen Körper und das Universum. Ich begann mich selbst aufzulösen, und fand mich in der Unbegrenztheit von nicht endender Zeit und in der Absolutheit der Fläche wieder. Ich reduzierte mich auf ein absolutes Nichts.“ Die Halluzinationen wurden zum Bestandteil ihrer Kunst. Schon 1939 fertigte sie Zeichnungen an, in denen sie die Muster verarbeitete. Kusama litt außerdem an ausgeprägter Angst vor phallischen Objekten, Sexualität und Essen.
Erste Erfolge
1948 ging Kusama an die Kyoto School of Arts and Crafts. Ihre Mutter ließ sie unter der Bedingung gewähren, dass sie bei Verwandten in Kioto japanische Etikette erlernte. Zu dieser Zeit war es für eine japanische Frau schwer, in der Welt der Kunst Fuß zu fassen. Und wenn, dann nur in den traditionellen Künsten.
Dennoch erhielt Kusama in den nächsten Jahren neun Ausstellungen (sechs davon allein). Die erste Einzelausstellung war 1952 in ihrer Heimatstadt. Viele Werke aus dieser Schaffensperiode wurden von der Künstlerin vernichtet, bevor sie später nach New York ging. Zur gleichen Zeit begann sie mit einer psychiatrischen Behandlung. Sie schämte sich nie wegen ihrer Krankheit und ging offen damit um.
In Japan wurde sie landesweit bekannt, von der japanischen Kunstwelt jedoch weitgehend abgelehnt. Der Archipel wurde ihr zu klein, ihr Blick richtete sich auf New York, das Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des abstrakten Expressionismus zur Hauptstadt der zeitgenössischen Kultur wurde.
Als 1955 ihre Werke auf der 18th Biennial im Brooklyn Museum ausgestellt werden sollten, beschloss sie, nach New York zu ziehen. Ihre Eltern gaben ihr Geld für den Flug unter der Bedingung, dass sie nie wieder zurückkehrt. Nach einem Aufenthalt in Seattle lebte sie ab 1957 in New York. Sie lebte in der Nachbarschaft von Donald Judd und Eva Hesse, korrespondierte mit Georgia O'Keefe und stellte ihre Werke neben Andy Warhol und Claes Oldenburg aus.
New York
Da Kusama keine finanzielle Unterstützung hatte, war sie auf den Verkauf ihrer Bilder angewiesen. Sie wurde in der New Yorker Kunstszene zunächst dadurch bekannt, dass sie von Galerie zu Galerie ging, um Ausstellungsfläche zu bekommen. Der finanzielle Erfolg blieb aus. Großformatige Versionen (bis 2 × 4 Meter) ihrer Infinity Nets mit gleichförmigem Netzmuster über die gesamte Leinwand kosteten zu dieser Zeit nur 350 US-Dollar. Kusama fühlte sich in New York nicht wohl, und ihre Krankheit verschlechterte sich. 1961 war sie erneut in psychiatrischer Behandlung.
Die Künstlerin dehnte sich, wie ihr Werk, auf alle Bereiche aus. Von der Malerei über die Bildhauerei, den Film, die Videokunst, das Design, die Performance, die Mode und sogar die Literatur, dank ihrer interessanten Autobiografie. Als soziale Aktivistin erlangte sie große Bekanntheit, als sie 1968 einen offenen Brief an Präsident Richard Nixon schickte, in dem sie ihn aufforderte, den Vietnamkrieg zu beenden und ihn zu einer Orgie einlud, um seinen kriegerischen Geist zu besänftigen. Bei einem ihrer "Happenings" vollzog sie außerdem die erste dokumentierte Schwulen-Hochzeit, die in einem Raum stattfand, der als Kirche der Selbstzerstörung bekannt ist.
Phallische Skulpturen
1961 setzte Kusama Stoffskulpturen als künstlerisches Mittel ein. Sie begann, Möbel und andere Haushalts-Gegenstände lückenlos mit phallusartigen Stoffwülsten zu überziehen. Eines der bekanntesten Werke ist die “Couch Accumulation #1“, die zusammen mit Werken von Andy Warhol 1962 in der Green Gallery ausgestellt wurde. Die Auseinandersetzung mit phallischen Formen wird von einigen Betrachter*innen als Aufarbeitung sexueller Ängste interpretiert. Kusama war zu diesem Zeitpunkt in einer psycho-therapeutischen Behandlung.
Die Skulptur “Traveling Life“ von 1964 besteht aus einer von phallischen Formen überwucherten Leiter, als Sinnbild für Kusamas beschwerlichen Werdegang in der von Männern dominierten Kunstszene. Diese Interpretation scheint naheliegend, da auf den Stufen der Leiter Frauenschuhe stehen.
Ihre Werke, die von wiederholten Elementen, allgegenwärtigen Punkten und philosophischen Anspielungen auf die Unendlichkeit durchsetzt sind, wurden als Vorläufer der Konzeptkunst und des Minimalismus bezeichnet. Die leuchtende Farbigkeit hat auch den Pop beeinflusst, ihr avantgardistischer Ansatz hinterließ Spuren in der feministischen Kunst. Doch Kusama stieß nicht auf die Zustimmung von Kritik und Publikum.
Fotografie und Selbstdarstellung
Ab Mitte der 1960er setzte Kusama Fotografien ein, um ihre Arbeiten bekannt zu machen. Diese Fotos waren von Kusama genau geplant, oft von bekannten Fotografen aufgenommen. Kusama posierte dafür oft theatralisch, ähnlich einem Model. In manchen Aufnahmen war sie nackt mit Punkten bemalt. Das war ein Schritt hin zu Happenings, Events und Performances, in denen sie die Grenzen zwischen, Kunst, Person und Umwelt aufzulösen versuchte. Im Übrigen gab sich Kusama in der Öffentlichkeit medienwirksam in anspruchsvolle traditionelle Kimonos gehüllt.
Happening und Performance
1966 erlangte Kusama mit dem Happening “Narcissus Garden“ internationale Bekanntheit. Nachdem Kusamas Arbeiten nicht für die Biennale in Venedig ausgewählt wurden, beschloss sie, ihre Installation “Narcissus Garden“, 1500 spiegelnde Kugeln, vor der Ausstellungshalle aufzubauen. Passanten konnten eine Kugel für 1.200 Lire (heute ungefähr 0,62 Euro) erwerben. Ein Schild mit der Aufschrift “Your Narcisium For Sale“ verwies auf den Narzissmus, der Kunsterwerb und Besitz innewohnt. Als die Veranstalter der Biennale Kusamas Aktion polizeilich beenden ließen, war sie bereits zur bekanntesten Künstlerin dieser Biennale geworden.
Es folgten Happenings in New York wie das “14th Street Happening“: Kusama lag auf dem Bürgersteig inmitten weißer, rotgepunkteter, phallusartiger Kissen. In “Walking Piece“ ging sie in einem pinkfarbenen Kimono und einem mit Plastikblumen dekorierten Regenschirm durch New York. Kurz darauf begann Kusama mit Bodypainting Events, in denen sie, teils in der Öffentlichkeit, nackte Personen mit Punkten bemalte. Ebenso wie in ihren Halluzinationen sollen die Punkte Grenzen aufheben. Grenzen zwischen ihrer Kunst, den Menschen und ihrer Umgebung und Grenzen der Menschen untereinander.
Das “Self Obliteration Event“ (Event der Selbstauslöschung), das 1967 an der Brooklyn Bridge stattfand, zählt zu ihren bekanntesten. Viele dieser Veranstaltungen wurden von der Polizei aufgelöst. In den Fotosessions, Happenings und Events sind Elemente erkennbar, die im Nachhinein als Vorläufer der Kunstrichtung Performance gesehen werden können.
Ende der 1960er-Jahre nahm Kusama Ideen der Hippiebewegung auf: Anarchismus, Pazifismus, Nudismus und freie Liebe. Anfang der 1970er gründete sie mehrere Firmen wie Kusama Fashions oder das nicht jugendfreie Magazin Kusamas Orgy. Der Erfolg blieb jedoch aus, 1973 kehrte sie in ihr Heimatland zurück.
Zurück in Japan
Verfolgt von ihren eigenen Dämonen – sie litt seit ihrer Kindheit an Zwangsstörungen und nutzte die Kunst, um ihre Neurosen zu kanalisieren – kehrte sie in ihr Land zurück. Nach einer kurzen Tätigkeit als Kunsthändlerin 1977 zog sie sich wegen ihrer Depressionen in eine psychiatrische Klinik zurück, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Vergessen überdeckte ihre leuchtende Spur.
Nach ihrer Rückkehr nach Japan hatte Kusama in den späten 1980ern mehrere Einzelausstellungen, mit denen sie ebenso in Europa wieder bekannt wurde. 1993 wurden ihre Arbeiten auf der 44. Biennale in Venedig gezeigt. 1996 kuratierte sie einen von vier Songs (Mud: Come talk to me) für die multimediale CD-Produktion Eve von Peter Gabriel.
Kusama arbeitet weiter an ihrem Gesamtwerk mit Variationen der Polka Dots und Infinity Nets. Mehrere Rauminstallationen wie Dots Obsession von 1999 und 2007, in Form einer Projektion von Lichtpunkten in einem Raum 2001 in Odense, verfolgten das Thema weiter.
2006 wurde sie mit dem Praemium Imperiale („Nobelpreis der Künste“) in der Sparte Malerei ausgezeichnet, 2009 zur Bunka Kōrōsha, einer Person mit besonderen kulturellen Verdiensten, ernannt. 2012 wurde sie als Ehrenmitglied in die American Academy of Arts and Letters gewählt. 2016 wurde sie mit dem Kulturorden ausgezeichnet.
Die langsame Wiederentdeckung Kusamas begann mit der ihr gewidmeten Ausstellung von Alexandra Munroe in der Asia Society in New York und der Retrospektive in der Tate Gallery, die sich um Kusamas verführerische unendlichen Räume drehte. Im Mai 2023 eröffnete die David Zwirner Gallery in New York eine Ausstellung der japanischen Künstlerin. Die Nachfrage nach Besuchen bei ihren Werken war so groß, dass ein System von Benachrichtigungen eingerichtet werden musste, wenn es freie Plätze gab. Es handelt sich um die derzeit gefragteste Ausstellung.
Letzte Ausstellungen
(*) 2014: Happy Birthday! 20 Jahre Sammlung Goetz. (Gruppen-Ausstellung), Sammlung Goetz, München, Katalog. (*) 2015: Infinity Theory, Garage Museum of Contemporary Art, Moskau, 12. Juni bis 9. August (*) 2015/16: I Uendeligheden, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, 17. September 2015 bis 24. Januar 2016 (*) 2017: Yayoi Kusama: Infinity Mirrors, Hirshhorn Museum und Sculpture Garden, Washington, D.C. (*) 2021: Yayoi Kusama: Eine Retrospektive. A Bouquet of Love I Saw in the Universe, Gropiusbau, Berlin, 23. April bis 25. August 2021.
Ende September 2017 eröffnete die Künstlerin in Tokio ihr eigenes Museum. Es wird von einer Stiftung betrieben, die Yayoi Kusama gründete, um die Ausstellung ihrer Bilder und Installationen nach ihrem Tod sicher zu stellen. Halbjährlich wechselnde Ausstellungen sind geplant. Das fünfstöckige Gebäude befindet sich im Stadtviertel Shinjuku. In der Nähe liegen das Atelier der Künstlerin und die psychiatrische Klinik, in der sie seit 1977 freiwillig lebt.
ANMERKUNGEN:
(1) “Llega al Guggenheim el universo hipnótico de Yayoi Kusama, la artista que vive recluida en un psiquiátrico”( Das hypnotische Universum von Yayoi Kusama, der Künstlerin, die in einer psychiatrischen Klinik lebt, kommt ins Guggenheim), Tageszeitung El Correo, 2023-06-26 (LINK)
https://www.elcorreo.com/culturas/llega-guggenheim-universo-hipnotico-yayoi-kusama-artista-20230626120917-nt.html
(2) Yayoi Kusama, Wikipedia (LINK)
https://de.wikipedia.org/wiki/Yayoi_Kusama
ABBILDUNGEN:
(1) Yayoi Kusama (cnn)
(2) Yayoi Kusama (lasfurias)
(3) Yayoi Kusama (elconfidencial)
(4) Yayoi Kusama (thecollector)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-07-09)