Träumen von der Krise
Unter dem Projektnamen „Words Alive“ hat der aus Madrid stammende Urban-Art-Künstler SpY im Jahr 2015 in Bilbo zwei Wandbilder realisiert, die aus riesigen Buchstaben bestehen. Landesweit ist er einer der bekanntesten Künstler der noch relativ jungen Kunstrichtung Urban-Art. Weil er möchte, dass allein seine Werke für sich sprechen, bevorzugt er die Anonymität. „Künstler aus Madrid, Autodidakt, Generation 75“. Mit diesen kargen Worten im Telegrammstil resümmiert SpY seine künstlerische Laufbahn.
(2015-12-10) Die beiden letzten Werke des Street-Art-Künstlers SpY tragen die Titel „Soñar“ (Träumen) und „Crisis“ (Krise). Das erste ist in übergroßen Buchstaben weithin sichtbar an einer Hauswand zu lesen, beim zweiten handelt es sich um ein Wandbild aus Geldmünzen, das bereits 24 Stunden nach seiner Fertigstellung wieder verschwunden war. Das Projekt „Lebende Worte“ (Words Alive) versteht sich als Beitrag zum Thema Öffentliche Kunst: Gestaltungen und Prozesse, die einerseits einem künstlerischen Konzept oder Projekt folgen, und die andererseits vorzugsweise in einem öffentlichen und offenen Kontext ausgeführt werden.
Zwei recht verschiedene Orte des Stadtbildes von Bilbo hat der „Spion aus Madrid“ SpY für seine beiden Street-Art-Kunstwerke ausgewählt. Der erste Ort ist eine große Hausfassade im Stadtteil Olabeaga, der vom Stadtzentrum aus hinter dem modernen Euskalduna-Kongress-Zentrum flussabwärts liegt, bis in die 80er Jahre von Hafentätigkeiten geprägt war und heute ein Barrio ist, das abseits der Modernität und Umgestaltung Bilbos sein schlichtes, ursprüngliches Bild bisher weitgehend erhalten hat. Etwas mehr Aufmerksamkeit erregt Olabeaga, seit das neue Fußballstadion San Mames Barria auf die Flussniederungen herabblickt. Der zweite Standort, eine große Treppe im klassischen Stil, war ein beabsichtigtes Intermezzo am Rande eines Beamten-Viertels der Innenstadt. Das Wort „Crisis“ ausgerechnet dort anzubringen, wo die Krise den Anliegerinnen die wenigsten Probleme bereitet hat, zeigt Fingerspitzengefühl. In einem Interview beschreibt der Künstler seine Motivation und Herangehensweise (1).
Warum haben Sie für Ihre letzten beiden Werke „Soñar“ und „Crisis“ gerade Bilbao ausgewählt?
In Bilbao arbeite ich gewöhnlich mit der kleinen Kunst-Galerie „SC Gallery“ zusammen (2). Der Geschäftsführer und Kurator hat mir beide Projekte unterbreitet und gemeinsam haben wir ihre Durchführbarkeit geprüft.
Haben Sie die beiden Werke alleine ausgeführt oder mit Unterstützung, in Anbetracht der Dimensionen?
In beiden Fällen arbeiteten wir mit einem Team zusammen, das im Bereich Fassaden-Arbeiten spezialisiert ist und uns bei der Realisierung half. Der Fall „Soñar“ stellte eine besondere Herausforderung dar, vor allem wegen der miserablen Wetterbedingungen.
Ihr habt 50.000 Zwei-Cent-Münzen an eine Wand geklebt und damit das Wort „Crisis“ geformt. Ist das nun eine typisch bilbainische Übertreibung oder eher ein gezielter Widerspruch? (3)
Für mich war es eher eine visuellen Konfrontierung. Meine Absicht mit diesem Werk war, dass es so schnell wie möglich wieder verschwinden sollte – genauso war es. Die Geldstücke dienten lediglich als Hilfsmittel zur Gestaltung des Wortes, das dem Gesamtwerk wiederum seine Bedeutung gab.
Es dauerte keine 24 Stunden ...
Während der Gestaltung wollten viele Passantinnen wissen, wieviel Geld an dieser Wand zusammen kam, aber wir gaben darüber keine Auskunft bis nach seinem Verschwinden. Die Idee mit den 1.000 Euro machte Sinn wegen der Zahl selbst (4) und wegen des zur Verfügung stehenden Budgets, wegen der Größe der Buchstaben ...
Wieviele Personen waren am Abbau Ihres Kunstwerks beteiligt?
Ich selbst sah nur den ersten Teil verschwinden während der ersten Nacht. Aber ich habe mir erzählen lassen, dass einige sich geraume Zeit damit aufhielten, die Münzen von der Wand zu kratzen.
Welche Interpretationen gab es seitens der Öffentlichkeit bezüglich Ihres Werks „Crisis“? Stimmten sie überein mit Ihrer ursprünglichen Absicht?
Im Allgemeinen passen die Interpretationen der Leute zu den harten Zeiten, in denen wir leben und zur aktuellen Situation, nicht nur, was die wirtschaftliche Lage im spanischen Staat betrifft, sondern auch im internationalem Maßstab gesehen. Letztlich wollte ich nur einen Gedankenanstoß zu diesem Theme geben und zwar mit meinen Mitteln, in Form einer urbanistischen Gestaltung.
Welche Botschaft wollen Sie mit dem Werk „Soñar“ vermitteln?
Das Wort Träumen lässt der Interpretation viel Spielraum. Mir gefällt es, wenn die Leute ihre eigenen Schlüsse ziehen und die Werke auf sich wirken lassen. Als Künstler habe ich eine persönliche und sensible Beziehung zu meinen Arbeiten. Die Frage ist, ob sie wirksam sind, um andere Personen anzusprechen und ihnen etwas zu vermitteln.
Waren es nicht die Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils Olabeaga selbst, die das Wort auswählten?
Der Nachbarschaft in Olabeaga wurden mehrere Worte zur Auswahl vorgeschlagen und sie entschieden sich für das Wort „Träumen“. Danach kam die Diskussion auf, ob das Wort in baskischer oder spanischer Sprache geschrieben werden sollte und letztendlich fiel die Entscheidung für die spanische Version. Das Wort passt sehr gut zu den Dimensionen der Fassade und regt zu positivem Denken an.
Welche weiteren Worte wurden den Nachbarinnen vorgeschlagen?
Leben, Fliegen, Friede, sowohl auf Baskisch als auch auf Spanisch. Aber wie gesagt, die Wahl der AnwohnerInnen fiel auf ein spanisches „Träumen".
Haben Sie weitere Plätze in Bilbao oder einem anderen Ort im Baskenland im Auge, um eines Ihrer Projekte umzusetzen?
Zusammen mit SC Gallery sind wir gerade dabei, neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Baskenland auszuloten. Ich arbeite sehr gerne hier, ich liebe das baskische Essen und genieße es die Zeit hier.
In Ihren Zeiten als Graffiti-Künstler waren Sie bekannt unter dem Namen Doquier (irgendwo). Das mag egozentrisch wirken. Hingegen bewahren Sie die Anonymität. Gibt es dafür eine Erklärung?
Ich denke, es ist produktiver, meine Werke für sich selbst sprechen zu lassen und das Bild meiner Person außen vorzu lassen.
Ich nehme an, Familie und Freunde kennen Ihr Geheimnis. Befürchten Sie, dass Ihre Identität eines Tages aufgedeckt wird?
In meiner näheren Umgebung ist meine Anonymität kein besonderes Thema. Und ich will das auch nicht predigen oder verklären. Es gefällt mir einfach nicht, im Licht der Scheinwerfer zu stehen und ich versuche, das so beizubehalten.
Wenn Ihre Werke nicht zum Verkauf stehen, wovon lebt ein Künstler wie Sie?
Natürlich habe ich auch Werke zum Verkaufen, jedoch immer weniger. Es handelt sich um großformatige fotografische Reproduktionen für Ausstellungen und zum Verkauf, die mir dabei helfen, meine Straßenkunst weiter zu pflegen.
Sie sind selbständig, haben kein Interesse an Vermarktung und können nicht auf öffentliche Gelder setzen ... Zahlen Sie die Werke aus der eigenen Tasche?
Einen Großteil meiner Arbeiten stelle ich tatsächlich auf autonome Weise her. Das heißt, ohne jegliche finanzielle Beteiligung von Institutionen, die die Entwicklung in Form und Inhalt beeinfluussen könnten. Allerdings arbeite ich auch mit Galerien, Museen und städtischen Institutionen zusammen, wenn es sich um Skulpturen im öffentlichen Raum handelt.
Ein geflügeltes Wort sagt, wer unauffällig bleiben will, sollte nicht unbedingt die fluoreszierende Weste von Bauarbeitern tragen.
Es ist schlicht eine Form, mich ins Alltagsleben zu integrieren, um in Ruhe arbeiten zu können.
Wurden Sie trotz Tarnung einmal auf frischer Tat ertappt? Erhielten Sie Geldbußen oder wurden Sie gar festgenommen?
Es kam vor, dass mir Behördenvertreter in die Quere kamen, aber letzlich war bisher alles verbal zu regeln.
Einmal wurden Sie von einem Polizisten erkannt. Aber anstatt Sie zu ermahnen, hielt er den Verkehr auf, um Ihnen zu ermöglichen, ein Foto Ihres Werks zu machen. Das muss Sie doch verblüfft haben, nicht wahr?
Ja, das war eine besondere Erfahrung. Wir kannten uns aus früheren Jahren, in denen wir beide aktiv waren im Graffiti. Als er das Wandbild sah, erkannte er sofort, dass es von mir war, und als er mich dann mit der Fotokamera auf der Straße erkannte, entstand diese skurrile Szene.
Vermutlich gibt es Leute, die Ihre Werke schätzen und andere, die Sie verfluchen wegen Verschmutzung der Straßen. Was ist die größte Schmeichelei und die härteste Kritik, die Sie bisher erhielten?
Es gefällt mir Reaktionen zu provozieren. Ich versuche, mit meinen Arbeiten zu einem klareren Bewusstsein beizutragen. Humor fördert dabei die Komplizenschaft mit dem Betrachter, schafft einen Dialog und macht die Leute glauben, dass das Werk etwas vermittelt, mit dem sie sich identifizieren können. Wenn das Werk den Vorübergehenden gefallen hat, sehen sie es wie einen romantischen Akt und nehmen einen Teil dieser Gestaltung mit sich. Was das Publikum betrifft, das meine Werke wahrnimmt, so habe ich ganz unterschiedliche Meinungen gehört, die allermeisten jedoch positiv. Manche sehen darin den selbstlosen uneigennützigen Charakter, mit dem sie sich identifizieren können, für andere wiederum sind die Gestaltungen bloßer Vandalismus.
Sie haben eine konstruktive Grundhaltung, nicht eindringend. Beantragen Sie eine Erlaubnis für die Ausführung von Wandgestaltungen?
Großstädte sind ein gutes Aktionsfeld. Sie bieten die Grundlage für viele Möglichkeiten der Gestaltung. Die Mehrzahl der Aktivitäten gehen auf mein Konto, was gleichbedeutend ist mit: nicht legal. Für ihre Durchführung gibt es keine behördliche Erlaubnis. Ich suche mir die beste Option und Uhrzeit für die Umsetzung. Die Arbeiten werden in der Regel in Großstädten organisiert, dort entstehen und überdauern sie, und provizieren den Dialog mit den Betrachterinnen. Mein Ziel ist, über die Veränderung der städtischen Landschaft Kommunikation zu erzeugen.
Sie versuchen, das Bewusstsein der Vorbeigehenden anzustoßen. Gehen wir denn wie ferngesteuert durchs Leben?
Tagtäglich werden wir überschwemmt mit Bildern und Dingen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Die Begegnung mit künstlerischen Darbietungen auf der Straße scheint eine erfreuliche Reaktion auszulösen in Anbetracht dieser ganzen Massenproduktion. Das bedeutet keine ablehnende Haltung gegenüber dem aufgezwungenen Panorama, vielmehr geht es um eine Einladung zum Nachdenken bezüglich der Flut an Bildern, die unser Stadtbild prägt. Viele meiner Arbeiten mahnen zur Reflexion, sie sollen kleine Appetitanreger sein, die dazu beitragen, unser routiniertes Stadtleben aufzubrechen.
Neue Kunstmeile Bilbos
SC Gallery + Art Management hat sein Lokal in der Cortes Straße im Stadtteil San Francisco in Bilbao. Die Galerie wurde im April 2008 eröffnet und widmet ihre Arbeit und den zur Verfügung stehenden kleinen Ausstellungsraum insbesondere der Verbreitung und Bekanntmachung zeitgenössischer Kunst. Künstlerinnen verschiedener Länder stellen aus, speziell Graffiti, Street Art, Illustration und Graphik. (2)
Dass sich der im vergangenen Jahrhundert etwas herabgewirtschaftete Bergbau-Stadtteil San Francisco wieder mit Leben und Kultur füllt, ist eine positive Tatsache. Dazu tragen zweifellos auch Projekte wie die SC-Gallery bei. Die Gefahr ist– wie in vergleichbaren Fällen anderer Städte beobachtet – dass sich die kulturelle Bereicherung zur gentrifizierenden Formel auswächst und dem Stadtteil auch jenen Anteil von positiven Charkter nimmt, der ihm noch geblieben war. Denn schnell folgt auf die subkulturelle Street-Art das exotische Spezialitäten-Restaurant, der unverwechselbare Modeshop, der Kunstbuchladen, die Ansiedlung von Boheme- und Yuppie-Kneipen etc. In Sanfran, wie die Bewohnerinnen sagen, hat diese Entwicklung ihren Anfang genommen, was sich nicht zuletzt an allgemeinen Preissteigerungen deutlich macht.
Träumen
Zum Träumen haben die Bewohnerinnen und Passantinnen von Olabeaga verschiedene Themen und Gründe. Die ehemaligen Noruega-Stammgäste träumen dem Verlust ihrer geliebten bodenständigen Gaststätte hinterher, in der ein Kabeljau-Gericht wie nirgendwo sonst serviert wurde. Die Stadtverwaltung träumt von einem neuen Terrain für Spekulation und Luxuswohnungen auf der gegenüber liegenden Halbinsel Zorrotzaurre, die aktuell zu Insel gemacht wird, was für Olabeaga zum Alptraum werden könnte. Die Bilbo-Fußball-Fans träumen weiter davon, irgendwann wieder einen Titel feiern zu können, obwohl sich der Club mit ausschließlich einheimischen Kickern eine autochthone Selbstbeschränkung auferlegt hat.
Eine Anerkennung muss dem Künstler aus Madrid in jedem Fall sicher: seine Kunststandorte hat er mit großer Sorgfalt und Bedacht ausgewählt – sowohl das Hafenviertel mit dem Traum-Motiv wie auch das Kommerz-Umfeld mit der Krisen-Assoziation. „Aurrera“ – bedeutet „weiter so“ auf Baskisch.
ANMERKUNGEN:
(1) Das Interview führte Arantza Rodríguez. Es erschien am 18.10.2015 unter dem Titel: “El proyecto Soñar fue un reto, especialmente por la climatología” in der baskischen Tageszeitung Deia
(2) SC Gallery + Art Management (Link SCGallery)
(3) Im Originaltext ist von Bilbainada die Rede, der Begriff hat zwei Bedeutungen: Bilbainada ist zum einen ein typisch bilbainischer Gruppen-Gesang von vorwiegend Männern, die von Kneipe zu Kneipe ziehen, eine Reihe von Weinchen trinken und dabei singen (txikitero). Gemeint war in diesem Fall jedoch die zweite Bedeutung, sie bezieht sich auf die Neigung zur Übertreibung und Überdimensionierung, die den Bewohnerinnen von Bilbo nachgesagt wird. Als Beispiel könnte gelten, dass das riesige Guggenheim-Museum als Hundehütte bezeichnet wird, weil ein Hund davor sitzt: die 12 m hohe mit Blumen bepflanzte Hundefigur „Puppy“ auf dem Eingangsplatz des Museums.
(4) Der Bezug zu 1.000-Euro: In der Zeit der Diskurse über Krisenfolgen und Arbeitslosigkeit der jüngeren Generation kam der etwas fragwürdige Begriff der „mileuristas“ auf, für Personen, denen keine 1.000 Euro zum Leben zur Verfügung stehen (mil-eurista = tausend Euro)
FOTOS:
(1) Verschiedene Perspektiven auf das „Traum“-Bild in Olabeaga-Bilbo. (Foto Arciv Txeng)
(2) Verschiedene Perspektiven auf das „Traum“-Bild in Olabeaga-Bilbo. (Foto Arciv Txeng)
(3) Verschiedene Perspektiven auf das „Traum“-Bild in Olabeaga-Bilbo. (Foto Arciv Txeng)
(4) Verschiedene Perspektiven auf das „Traum“-Bild in Olabeaga-Bilbo. (Foto Arciv Txeng)
(5) Verschiedene Perspektiven auf das „Traum“-Bild in Olabeaga-Bilbo. (Foto Arciv Txeng)