Die Entschlüsselung des „Guernica“-Bilds
Die Geschichte und Ikonografie von Pablo Picassos Bild „Guernica“ beschäftigt Historiker*innen wie Kunstexpert*innen gleichermaßen. Was oder wieviel hat das Bild mit der Zerstörung der baskischen Stadt Gernika (baskischer Name) zu tun? Welche Symbolik haben die Figuren, die auf dem Bild erscheinen? Der Kunsthistoriker Jörg Martin Merz hat eine neue Interpretation von Picassos Antikriegs-Gemälde vorgelegt. Dargestellt wird sie im SZ-Artikel „Warum 'Guernica´ nichts mit Guernica zu tun hat“.
Picassos Gemälde „Guernica“ hat viele Erklärungen und Interpretationen erlebt. Richtiges und Falsches. Weil er selbst sich nicht explizit dazu geäußert hat, wird es weiter neue Deutungen geben.
Stierhoden, Brüste und Zoophilie: Der Kunsthistoriker Jörg Martin Merz hat eine Lösung für die Rätsel gefunden, die Pablo Picassos ikonisches Antikriegs-Gemälde schon immer aufwarf. In der Flanke des Pferdes klafft eine riesige Wunde, gleich daneben steckt auch der Schaft einer Lanze. Das Tier bricht im Todeskampf zusammen, den Kopf wirft es wild wiehernd nach hinten, die Glieder geraten in Konfusion. (1) Der folgende Text dokumentiert den Artikel, ergänzt und korrigiert, wo es nötig ist (Original in Normalschrift, Baskultur.info kursiv).
Auch sonst dominieren Vernichtung und Leid dieses riesengroße Bild, es ist acht Meter breit und dreieinhalb Meter hoch. Auf der rechten Seite klagt eine brennende Frau vor einem brennenden Haus, am Boden liegen Kopf und Arme eines Mannes, ein zerbrochenes Schwert in der Hand, links daneben jammert eine Frau mit einem Kleinkind in den Armen. Nur der Stier über ihr wendet sich stoisch von all dem ab. Während eine Frau mit Kerze in der Hand die Szene ebenso erleuchtet wie eine Glühbirnensonne.
Was haben Stier, Lichtträgerin und Glühbirne zu bedeuten? Gesteigert wird das rätselhaft Katastrophische des Bildes noch dadurch, dass alles kubistisch fragmentiert und streng in Schwarz und Weiß und Grau gehalten ist.
Die Hundertschaften von Touristen, die täglich in Madrids Museo Reina Sofía zu diesem Bild pilgern, werden denn auch stets etwas ruhiger und nachdenklicher, wenn sie vor diesem Menetekel der Gewalt stehen. „Guernica" ist das größte, bekannteste und erschreckendste Bild von Pablo Picasso und eines der berühmtesten Gemälde der Moderne (der baskische und offizielle Name der Stadt ist Gernika).
(Anmerkung:) Pablo Picasso hatte 1936 von der republikanischen Regierung den Auftrag erhalten, ein Bild für den spanischen Pavillon der Weltausstellung zu malen, die 1937 in Paris stattfand. Anfang des Jahres begann Picasso mit Entwürfen zum Bild, das anfangs keinen Titel hatte. Diese Entwürfe fanden Eingang in das endgültige Bild, Fotos vom Entwicklungsprozess belegen das. Einige Figuren hatte er bereits in früheren Werken benutzt. Manche Stimmen sprechen von einer Schaffenskrise, die Picasso in jener Zeit erlitt. Dann kam es zur Zerstörung von Gernika. Das Konzept des Gemäldes stand, nun kam der Name dazu. Gestalterisch floss die Bombardierung nicht mehr in das Bild ein, weshalb die immer wieder gestellte Frage wenig Sinn macht. Wann genau Picasso das große Bild malte, ob es bereits vor Gernika begonnen wurde, lässt sich nicht sagen. (2)
„Guernica" ist aber auch eine linke Ikone, der Kunst gewordene Protest gegen Krieg und Faschismus, gegen Franco und den Spanischen Bürgerkrieg. Denn der Titel meint die gleichnamige baskische Kleinstadt, die am 26. April 1937 von deutschen Bombern zerstört wurde. Hitler hatte den Angriff zur Unterstützung Francos angeordnet. Die Opfer dieses Massenmordes waren vor allem Frauen und Kinder, die öffentliche Empörung ging um die Welt.
Der durch den Putsch faschistischer Generäle am 18.Juli 1936 ausgelöste Krieg wird häufig „Spanischer Bürgerkrieg" genannt. Dies trifft insofern nicht zu, dass es in diesem Konflikt im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs eine starke internationale Beteiligung gab: die Sowjetunion, die Internationalen Brigaden auf Seiten der Republik; das faschistische Italien und Hitler-Deutschland auf Seiten der Putschisten um die Generäle Franco und Mola. Der Krieg endete im April 1939 mit dem Sieg der Faschisten, leitete eine fast 40 Jahre lange Diktatur ein. Fast unmittelbar folgte der Überfall der Nazis auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg einleitete.
Falsch ist die Behauptung, Hitler hätte den Angriff auf Gernika angeordnet. Historiker*innen streiten vielmehr darüber, ob Franco den Befehl gegeben habe, oder ob die Kommandanten der Legion Condor selbst die Entscheidung getroffen hatten. Für letzteres spricht die Tatsache, dass sich die Nazis für ihren Einsatz in Spanien den Oberbefehl über die gesamte vorhandene Luftwaffe hatten zusichern lassen. Das heißt, sie befehligten auch die italienischen und die beschränkten Luftkräfte der Franquisten. Franco war Oberbefehlshaber von allem, dennoch ist nicht davon auszugehen, dass er alle Einsatzbefehle persönlich gab. Schriftliche Befehle existieren so gut wie keine. Es ist davon auszugehen, dass der Kommandeur der Legion, Hugo Sperrle, und vor allem ihr Chef Wolfram von Richthofen verantwortlich waren für die Festlegung des Ziels und den Einsatz, wie in vielen anderen Fällen auch. So das Forschungsergebnis der Historiker Angel Viñas und Xabier Irujo.
Picasso hat „Guernica" vor 80 Jahren im Mai 1937 für die Pariser Weltausstellung gemalt. Das Bild durfte nach dem Willen des Künstlers erst nach Francos Tod nach Spanien kommen, seit 25 Jahren hängt es im Reina Sofía (Museum). Dort wird es in der Dauerausstellung als Fanal gegen Faschismus und Krieg inszeniert. Genauso wie jetzt in der zum Doppeljubiläum veranstalteten Schau „Piedad y terror en Picasso" (Mitleid und Schrecken bei Picasso), die die gängige Deutung um den im Titel formulierten bildungsbürgerlichen Bezug zur Tragödiendefinition bei Aristoteles bereichert, ansonsten aber keine neuen Erkenntnisse zu bieten hat.
Picasso hat testamentarisch verfügt, dass sein Bild erst dann wieder nach Spanien zurückkehren darf, wenn eine republikanische Verfassung wiederhergestellt sei. Ob das aktuelle Spanien diese Bedingung erfüllt, darf bezweifelt werden: Franco verfügte die Wiedereinführung der Monarchie, der König schwor seinen Eid auf Franco und die faschistischen Werte, nicht auf die demokratische Verfassung; Spanien ist weder Republik noch Föderalstaat; in der Amnestie von 1977 wurden die Kriegsverbrechen der Faschisten und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit völkerrechtswidrig straffrei gelassen; die faktischen Mächte des Franquismus – Polizei, Guardia Civil, Justiz, Militär, Politiker – blieben in Amt und Würden. – Picassos Gemälde befindet sich seit 36 Jahren in Madrid, anfangs im Prado, seit 25 Jahren im Reina Sofia.
Die Ausstellung des Picasso-Werkes als „Fanal gegen Faschismus und Krieg“ zu bezeichnen ist zynisch in Anbetracht des Hinüberrettens des alten franquistischen Regimes über den Tod des Diktators hinaus. Die spanischen Behörden wollten das Bild nicht in republikanische Hände gelangen lassen, in baskische Hände erst recht nicht. Vielmehr ist es dieselbe kommerzielle Attraktion in Madrid wie es die Mona Lisa in Paris darstellt oder das Guggenheim im Bilbao. Madrid hat an der Geschichte und Aussage des Bildes nicht das geringste Interesse, die spanischen Regierungen nach Franco haben bis heute nicht einmal die Lüge Francos zurückgenommen, die Basken selbst hätten Gernika angezündet – Picassos Vermächtnis wird sträflich ignoriert.
In Gernika hängt eine maßgetreue Nachbildung des Gemäldes. Darunter steht „Guernica Gernikara“ – das Guernica-Bild soll nach Gernika gebracht werden. Das fordert die Stadt Gernika, zurecht, denn das Werk trägt ihren Namen und verkörpert ihre Geschichte. Auch die baskische Regierung unterstützt diese Forderung, zuletzt wurde sie zum 80. Jahrestag der Bombardierung und Vernichtung Gernikas gegenüber der spanischen Regierung deutlich gemacht.
Kunstfreunde fragten sich schon immer, was das Gemalte mit dem Angriff auf die Stadt zu tun habe
Die Ausstellung würde den Weg nach Madrid also eigentlich nicht lohnen. Doch gerade hat Jörg Martin Merz (3), er ist Professor für Kunstgeschichte in Münster, ein kleines Bändchen vorgelegt, in dem er nachweist, dass „Guernica" nichts mit Guernica (baskisch: Gernika) zu tun hat. Das wirkt erst mal wie Ikonoklasmus, wie Aufmerksamkeitsheischen. Aber nach Lektüre der 60 Textseiten, die durch stattliche 327 Fußnoten abgesichert sind, reist man befreit und begeistert nach Madrid, um „Guernica" völlig neu kennenzulernen.
Kunsttheoretiker und Kunstfreunde hatten schon immer Schwierigkeiten, den Titel des Bildes mit dem Gemalten zusammenzubringen. Keine Flugzeuge sind zu sehen, keine Bomben, keine Soldaten, keine Franquisten. Pferd, Stier, Vogel, Lichtträgerin, Glühbirne und die Überreste des altertümlichen Kriegers mit Schwert werfen etliche Rätsel auf. Was soll das alles mit der Bombardierung von Guernica zu tun haben?
Jörg Martin Merz ist beim Grübeln über diese ungelösten Fragen auf eine erhellende Erklärung Picassos vom Mai 1937 gestoßen: „In dem Bild, an dem ich arbeite und das ich Guernica nennen werde, und in allen meinen jüngst entstandenen Werken drücke ich deutlich meine Abscheu vor der militärischen Kaste aus, die Spanien in ein Meer von Leid und Tod gestürzt hat." Eine ähnliche Formulierung findet sich in einem französischen Zeitungsartikel, der Picassos Intention so zitiert: „Akt des Abscheus vor dem Attentat, dessen Opfer das spanische Volk ist."
Picasso aber ist immer auch der Maler seiner intimsten Leidenschaften
Mit der „militärischen Kaste" und dem „Attentat" ist der rechtskatholische Militärboss Francisco Franco gemeint, der am 17. Juli 1936, das Datum ist jedem Spanier geläufig, von Marokko aus gegen die Republik und die gewählte linke Regierung putschte. Es folgte ein dreijähriger Bürgerkrieg, den die Republik verlor. Dass Picasso den Putschisten Franco hasste, beweist der derbe Comicstrip „Sueño y mentira de Franco", Traum und Lüge Francos. Im Januar 1937 zeichnete Picasso 14 Radierungen, die den zukünftigen Diktator als molluskenhaften Popanz mit Schwert und Standarte auf verschiedenen von ihm geschundenen Reittieren zeigt: Pferd, Riesenphallus, Schwein. Zuletzt wird der mit seinem Reittier eins gewordene Militärhänfling dann von einem Stier aufgeschlitzt.
Das alles ist nichts anderes als hasserfüllte Propaganda. Wenige Tage bevor Picasso mit „Guernica" begann, überarbeitete er „Sueño y mentira" und fügte im Juni 1937 weitere vier Szenen mit Frauen hinzu, die aus der „Guernica"-Bildwelt abgeleitet sind. Der Bezug zwischen beiden Werken wurde schon immer gesehen und ist offensichtlich: Jedes zeigt den Sturz eines gestrigen Militärs durch einen Stier. Das wird, bessere Kunst ist immer vielschichtig, in „Guernica" überlagert und ergänzt durch das Motiv des gestürzten Reiterstandbilds. Merz zitiert dafür eine Reihe von Beispielen, die auch Picasso gekannt haben muss.
Wie Spanien dem Faschismus zum Opfer fiel
Im Gegensatz zu „Sueño y mentira" ist „Guernica" jedoch frei von Ressentiments und Hass. Versöhnlich drückt Picasso dem toten Krieger eine Blume in die Hand, der Stier enthält sich jeden Triumphes. Die Lichtträgerin, für die nicht nur Merz Auguste Bartholdis New Yorker Freiheitsstatue als Vorbild ausmacht, staunt ungläubig über das Geschehen, genauso die Frau, die mit ihr hereingelaufen kommt. Hier formuliert Picasso seine Utopie: die bald schon enttäuschte Hoffnung auf die Niederschlagung des Franco-Putsches.
Den größten Widerspruch wird Merz mit seiner Deutung der Kind-Frau-Stier-Gruppe links im Bild ernten. Anders als für alle anderen Bilddeuter ist für Merz das Kind nicht tot, sondern während des Stillens eingeschlafen. Zudem sieht er eine erotische Beziehung zwischen der Frau und dem Stier, die sich in der Nähe von Maul und Mund, von Hodensack und Brüsten realisiert. Das mag empören, scheint doch das Pathos des Antikriegstitels "Guernica" mit Zoophilie nicht vereinbar zu sein. Picasso aber ist immer auch der Maler seiner intimsten Leidenschaften. In der 1935 entstandenen Radierung „La Minotauromachie", einem seiner großen Meisterwerke, findet sich mit Pferd, Lichtträgerin, Stier(mensch) und Frau das gleiche Personal wie in „Guernica".
Schon in der früheren Radierung denkt Picasso das zentrale Personal des Stierkampfs konsequent weiter. In „Guernica" geht er dann noch weit darüber hinaus. In der „Minotauromachie" liegt eine Stierkämpferin, in der Picassos damalige Noch-Geliebte Marie-Thérèse Walter zu erkennen ist, nackt und ohnmächtig auf dem Pferd, das von dem Minotaurus mit einem Schwert bedroht wird. So mischen sich Privates, Mythisches und Erotisches genauso wie in „Guernica", wo die Frau mit Kind ein Hinweis sein könnte auf die mittlerweile von Picasso verlassene Marie-Thérèse.
Mit diesen Neuinterpretationen im Kopf wird „Guernica" im Reina Sofía zu einer spannenden Neuentdeckung. Wie unter Zwang muss der Betrachter wieder und wieder vor das Bild treten, um immer tiefer in dessen zwischen Hoffnung und Entsetzen schwankender Schwarz-Weiß-Welt zu versinken.
Am Rande nur wird ihn dabei die Frage beschäftigen, ob der Titel „Guernica" wirklich falsch ist. Was, wenn Picasso seiner Gewohnheit folgend dem Bild überhaupt keinen Titel gegeben hätte? Wäre „Guernica" dann zu jener Ikone der Kunst und des Protestes geworden? Oder wäre es einfach nur als ein typisch modernes Rätselbild in einem Museum verstaubt, das allenfalls akribische Forscher wie Jörg Martin Merz hätten entschlüsseln wollen?
Doch da gab es den Dichter, Kunsthändler und Picasso-Freund Paul Éluard, der von der Bombardierung Guernicas derart betroffen war, dass er zu „Sueño y mentira" eines seiner berühmtesten Gedichte schrieb, „La victoire de Guernica". Picasso war davon nicht erbaut, er schrieb ein eigenes Gedicht zu seinen Radierungen. „Guernica" aber war das Thema der Stunde, die Assoziation unvermeidlich. Weil die Entstehung des Bildes zufällig mit der Bombardierung Guernicas zusammenfiel, weil sich viele von Picassos links-intellektuellen Freunden über dieses Kriegsverbrechen entsetzten und das großformatige Gemälde ganz selbstverständlich als Protest gegen diese Barbarei empfanden. So war es letztlich ein Glücksfall, dass „Guernica" nicht unter dem sperrigen Titel „Akt der Abscheu vor dem Attentat, dessen Opfer das spanische Volk ist" in die Kunstgeschichte eingegangen ist.
Bis heute behaupten einige, Picasso habe das Bild nach der Bombardierung Gernikas konzipiert, gemalt und betitelt. Diese Darstellung ist weitgehend falsch. Gerne unterschlagen oder unter den Tisch gekehrt wird – wie auch im vorliegenden Artikel – die Tatsache, dass Picasso den Auftrag zum Expo-Bild zu Jahresbeginn 1937 erhielt. Für einen politisch engagierten Künstler ist es undenkbar, dass er die Monate zur Weltausstellung verstreichen ließ, ohne an diesem Auftrag zu arbeiten. Mit der Entwicklung neuer Theorien und Interpretationen lässt sich Bekanntheit erwerben, es lassen sich Bücher publizieren. Doch führen alle Ausführungen nicht an der Tatsache vorbei, dass sich die Zerstörung Gernikas an keiner Stelle des Bildes wiederspiegelt. Picasso hat ein Antikriegs-Bild gemalt, das durch Gernika, seine Vernichtung und die Lügen der Faschisten eine besondere Bedeutung erlangte. Dennoch geht es in seiner historischen, politischen und kunsthistorischen Bedeutung weit über Gernika hinaus.
ANMERKUNGEN:
(1) Artikel Süddeutsche Zeitung „Warum Guernica“ nichts mit Guernica zu tun hat“ von Reinhard Brembeck (Link)
(2) Die Dokumentation des SZ-Artikel ist in Normalschrift, Ergänzungen und Korrekturen sind kursiv
(3) Jörg Martin Merz: Guernica oder Picassos „Abscheu vor der militärischen Kaste". Rombach Verlag, Freiburg 2017. 88 S., 18 Euro. Piedad y terror en Picasso. Museo Reina Sofía, Madrid. Bis 4. September. Katalog 35 Euro.
ABBILDUNGEN:
(*) Picasso-Versionen in Gernika (FAT)