Antirassismus und Antikapitalismus
Pastora Filigrana ist Rechtsanwältin, Mitglied der linken andalusischen Gewerkschaft SAT, Aktivistin und Roma-Feministin. Auf Einladung von AMUGE, der Vereinigung der Roma-Frauen des Baskenlandes, hielt sie im Bürgerzentrum des Stadtteils Bilbo-Otxarkoaga einen Vortrag über Rassismus aus der Sicht einer Roma-Frau und Juristin, die sich als Feministin versteht. "Mit Hass-Diskursen wird gerechtfertigt, dass es Menschen ohne Rechte gäbe". Antikapitalismus ohne Feminismus und Antirassismus ist undenkbar.
Die Gemeinschaft der Roma, im spanischen Staat Gitanos-Gitanas genannt, sind bis heute die gesellschaftlich größte von Rassismus betroffene Gruppe. In den vergangenen Jahrzehnten sind ihre Stimmen lauter geworden. Frauen wie Pastora Filigrana, Rechtsanwältin, Feministin und Gewerkschafterin, tragen dazu bei, dass diese Stimmen nicht mehr überhört werden können.
Im Anschluss an ihren Vortrag in Otxarkoaga, wohin in den 1960er Jahren hunderte von Roma-Familien zwangs-umgesiedelt worden waren, gab Pastora Filigrana ein Interview. Sie erklärte, weshalb sie Jura studierte: "Wenn in deiner Familie vorher nie jemand eine Universität besucht hat, dann wählst du Jura oder Medizin". Sie stellte fest, dass unter den Tätigkeiten, die sie ausübt und die sie definieren, ihr die Facette als Anwältin für Arbeitsrecht am liebsten ist.
Während ihres Referats stellte sie klar, dass mit Hass-Diskursen versucht werde, bestehende Ungleichheiten in der Gesellschaft zu rechtfertigen, um zu beweisen, dass "die Armen ihre Armut verdient haben". Zum Interview (1):
Ist die feministische Bewegung in der Lage, in Kategorien von Mehrfach-Diskriminierungen zu denken, wenn es um feministische Roma-Frauen geht?
Bis jetzt war das nicht der Fall. Es stimmt, dass sich das in den letzten Jahren etwas geändert hat. Vor allem im Rahmen dessen, was soziologisch als vierte Welle des Feminismus bezeichnet wird. Wir können mit dieser Bezeichnung einverstanden sein oder auch nicht. Diese vierte Welle begann 2018 mit dem massiven Auftreten des Feminismus auf der Straße und vor allem mit den Diskursen über die Vielfalt innerhalb der feministischen Bewegung. Seitdem stehen bestimmte dekoloniale und antirassistische Theorien zur Debatte, die innerhalb der feministischen Bewegung in breiten Kreisen angenommen werden. Viele Jahre lang war eine Vielfalt innerhallb des Feminismus kein Thema gewesen, obwohl es immer auch feministische Kollektive gab, die diese Vielfalt einforderten und natürlich auch praktizierten.
(Anm: Die 4. Welle des Feminismus ist stark auf Ereignisse im spanischen Staat bezogen, aus dem 8. März wurde ein Generalstreik gemacht. Die gesellschaftliche Realität war geprägt von skandalösen Prozessen wegen Massenvergewaltigungen in Pamplona und Cordoba, viele junge Frauen begannen, sich in der feministischen Bewegung zu engagieren.)
Gibt es vonseiten der feministischen Roma-Frauen einen Bedarf an nicht-gemischten Räumen?
Die Roma-Frauen organisieren sich bereits in ihren eigenen Verbänden, so dass diese nicht-gemischten Räume bereits existieren, auch wenn sie sie nicht so nennen. Der erste Verband von Roma-Frauen im spanischen Staat wurde in den 1990er Jahren in Granada gegründet, hier in Bilbao existiert der Verein AMUGE.
Sind Klassenkampf, Antirassismus und Feminismus unterschiedliche Kämpfe oder gibt es Überschneidungen?
Wir alle haben ein Geschlecht, ein Alter, eine ethnische Zugehörigkeit, ein Gebiet, in dem wir wohnen. Die Vorstellung, das hätte keinen Einfluss, ist ein Fehler des weißen westlichen Denkens. Wir alle sind von etwas durchdrungen. Daher haben die Unterdrückungs-Verhältnisse, die sich aus Klasse, Herkunft, Geschlecht, Territorium oder sexueller Identität ergeben, eine gemeinsame Basis.
Die Gewerkschaftsbewegung muss antirassistische und geschlechts-spezifische Positionen aufnehmen, denn die billigste Arbeitkraft ist eine von Rassismus betroffene und feminisierte Arbeitskraft. Deshalb können wir sagen, dass sich die Ausbeutung der Arbeitskraft auch auf Rassismus und Patriarchat gründet. Insofern muss jeder Arbeitskampf diese Perspektive beinhalten. Denn die Arbeitgeber sind sich über die Existenz von Mehrfach-Diskriminierungen sehr wohl bewusst (Intersektionalität). Sie wissen, dass Frauenarbeit billiger ist, sie wissen, dass nicht-weiße Frauen billigere Arbeitskräfte sind. Und wenn die Frau nicht weiß und außerdem eine Immigrantin ist, ist sie eine noch billigere Arbeitskraft.
Glücklicherweise weiß ich, dass die Gewerkschaft LAB im Baskenland bereits ein Referat für Antirassismus eingerichtet hat und weiter ausbauen will. Es gibt bereits eine Tendenz, die Ausbeutung der Arbeitskraft aus einer feministischen Perspektive zu betrachten. Jedoch nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil es eine Tatsache ist, dass Frauen in diesen prekären Arbeitsbereichen zu finden sind.
Und umgekehrt?
Antirassismus muss über Ausbeutung und Prekarität bei der Arbeit sprechen, weil der Arbeitsmarkt nach rassistischen Kriterien aufgebaut ist. Wer über Antirassismus spricht, muss die Tatsache mitdenken, dass es keinen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Wohnungsmarkt oder zur Bildung gibt. Die Kämpfe für soziale Rechte und Arbeitsrechte, die aus der Perspektive des Antirassismus geführt werden, müssen zwangsläufig die Perspektive des Klassenkampfes einnehmen.
Das gleiche gilt für den Feminismus. Wenn wir für alle Frauen in der Welt Gleichstellung erreichen wollen, müssen wir über ein anderes Modell reden. Ein Modell, das die Organisation von Produktion und Arbeit weltweit umfasst, sodass Frauen nicht diese unsichtbaren, unbezahlten oder schlecht bezahlten Arbeiten übernehmen müssen, insbesondere die Reproduktionsarbeit. Deshalb ist es schwierig, einen Feminismus zu verstehen, der nicht klar antirassistisch und antikapitalistisch ist.
Rechte und Ultrarechte machen sich oft Begriffe zu eigen, die ursprünglich von gefährdeten oder unterdrückten sozialen Gruppen geprägt wurden. Gilt das auch für den juristischen Bereich?
Ja. Hass-Delikte wurden in der Rechtsprechnung als spezifische Vergehen aufgenommen, dessen Definition auf der Grundlage der Forderungen gefährdeter, hauptsächlich von Rassismus betroffenen Gruppen formuliert wurde. In den Vereinigten Staaten wurde die Definition für schwarze oder jüdische Gemeinschaften geschaffen, in Europa in ähnlicher Weise.
Diese Delikt-Definitionen wurden von unterdrückten Gemeinschaften eingefordert. Sie wurden geschaffen als Garantie, als spezifischer Schutz für Gruppen, die sich in einer benachteiligten Situation befinden. Mit der Idee, dieser sozialen Ungleichheit ein Ende zu setzen. Jetzt sehen wir jedoch, wie die politische Macht Hass-Delikte benutzt, um ausgerechnet jene zu schützen, die sich an den Schaltstellen der Macht befinden. An diesen Schaltstellen werden soziale Ungleichheiten überhaupt erst produziert. In der Folge werden Personen wegen Hass-Delikten angeklagt, weil sie die Polizei, Nazigruppen oder den König angreifen. (Anm: Oder weil sie im Fußball-Stadion soziale Ungerechtigkeiten oder Völkermord anprangern).
Vergehen und Strafrecht sind Machtinstrumente, die es ermöglichen, Ungleichheiten aufrechtzuerhalten. Wenn wir diese Instrumente benutzen, tun wir das mit größter Vorsicht. Diese Instrumente werden gerade von den Machthabern zur Unterdrückung benutzt. Daher ist es immer problematisch, sie für emanzipatorische und befreiende Ziele zu nutzen. Alles, was der Logik der Bestrafung folgt, richtet sich gegen unterdrückte Gruppen.
Welche Instrumente könnten da nützlicher sein?
Von einigen sozialen Gruppen werden Modelle der wiederherstellenden Gerechtigkeit gefordert. Das bedeutet, ein Modell von Justiz, bei der denjenigen Personen, die Opfer einer Diskriminierung, eines rassistischen Übergriffs oder einer anderen diskriminierenden Handlung geworden sind, eine Wiedergutmachung zuteil wird. Das heißt, dass wir ein Instrument entwerfen müssen, das die Wiedergutmachung der Opfer in den Mittelpunkt stellt.
Die Gesetzgebung ist in der Regel darauf ausgerichtet, Täter zu bestrafen, vernachlässigt jedoch die Bedürfnisse der Opfer. Sie brauchen Unterstützung beim Heilungsprozess und eine Art von Wiedergutmachung. Erwartet wird zudem eine Rechenschaft sowohl des Täters als auch seitens der Gesellschaft. Und zwar nicht aus dem Blickwinkel, das Problem hätte sich zwischen zwei Personen abgespielt, sondern als Problem einer Gesellschaft, die strukturell rassistisch ist.
Sie haben erklärt, dass Hass-Delikte die Grundlage des gesellschaftlichen Systems bilden. Dennoch sind sie strafbar.
Hass-Delikte werden dank des Kampfes von gefährdeten Gruppen sanktioniert und bestraft. Aber wir werden ihnen nicht allein durch das Gesetz ein Ende setzen, denn bei Hass-Delikten geht es in Wirklichkeit um die Rechtfertigung, dass manche Menschen nicht wirklich als solche betrachtet werden und somit nicht die gleichen Rechte verdienen wie alle anderen. Die praktische Realität des heutigen Wirtschaftssystems besteht darin, dass viele Menschen in Situationen geraten, in denen sie keinen gleichberechtigten Zugang zu Rechten haben.
Mit anderen Worten: Hass-Delikte dienen dazu, materielle Probleme, die bereits bestehen, ideologisch zu rechtfertigen und Personen weniger Rechte zuzugestehen. Solange wir die ungerechte Ordnung der Gesellschaft und der Wirtschaft nicht umkehren und solange es Personen gibt, denen weniger Wert und weniger Zugang zu Rechten zugestanden wird, werden wir Hass-Delikte nicht abschaffen können.
Roma-Frauen haben zu vielen Foren keinen Zugang, in denen diese Themen diskutiert werden. Wie wirkt sich dies auf die Debatte über Hass-Delikte aus?
Wenn die Stimme einer bedeutenden Personengruppe, die unter Hass-Delikten leidet, nicht gehört wird, sind die gezogenen Schlussfolgerungen zwangsläufig voreingenommen oder unvollständig. Vor allem sind die Lösungen subjektiv. Hass-Delikte sind Ausdruck einer ungleichen Gesellschaft. Wenn man nicht genau weiß, wie sie funktioniert, kann man auch nicht die richtigen Lösungen auf den Tisch legen. Dazu müssen wir auf die Stimmen derjenigen Personen hören, die von Hass-Delikten betroffen sind, denn sie leiden täglich unter einer ganzen Reihe von Diskriminierungen.
Reagiert die Linke adäquat auf antirassistische Forderungen?
Das ist nicht der Fall. Offensichtlich hat die Mehrheit in der Linken eine weiße Hautfarbe und auch ihre Kultur ist weitgehend weiß. Die institutionelle Linke stammt aus der weißen Mittelklasse und ist von diesem Hintergrund geprägt. An der Basis gibt es auch Leute aus der Arbeiterklasse, aber in diesem Land hier sind es in der Regel weiße Menschen. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten sind Arbeitsmigrant*innen hinzugekommen. Die Roma-Bevölkerung hat begonnen, im öffentlichen Raum eine Rolle zu spielen, vor allem deshalb, weil es eine neue Generation von Roma gibt, die auch an Universitäten studiert. Erst jetzt beginnt die Linke zu verstehen, dass der antirassistische Kampf ebenfalls ein antikapitalistischer Kampf ist.
Dennoch gibt es weiterhin Teile der Linken, die sich gegen diese Einsicht wehren und behaupten, Antirassismus würde den Klassenkampf unterlaufen. Kapitalismus und die damit einhergehende Ausbeutung von Menschen kann nicht verstanden werden, wenn wir nicht begreifen, wie Rassismus funktioniert, wie Arbeit und Rohstoffe, also Ressourcen und Arbeitskraft nach rassistischen Kriterien verteilt werden und Personen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit klassifiziert werden.
Was müssen wir unter den lebensfeindlichen Monstern verstehen, von denen Sie in Ihrem Vortrag sprachen?
Gemeint ist der Kapitalismus, heute Neoliberalismus genannt. Es sind auch die Besitzer oder Eigentümer des größten Teils des Reichtums der Welt, die gnadenlos weiterhin Reichtum anhäufen. Auch wenn dies bedeutet, die Ressourcen der Natur und der Menschheit weiter auszubeuten. Immer mehr Menschen, immer mehr Ressourcen, immer mehr Rohstoffe … Eine Anhäufung, die keine Grenzen kennt.
Dieses Thema muss aus einer umfassenden Perspektive betrachtet werden, um zu erkennen, wie all diese Ausbeutungs-Mechanismen ineinandergreifen und Leben verschlingen. Sowohl das Leben in der Natur wie auch menschliches Leben. Denn um dieses schädliche Niveau der Anhäufung von Reichtum aufrechtzuerhalten, ist es notwendig, im wahrsten Sinne des Wortes Leben zu verschlingen.
ANMERKUNGEN:
(1) “Los discursos de odio pretenden justificar que hay gente que no es humana del todo”, Tageszeitung Gara, 2023-06-24, Interview mit der Roma-Feministin und andalusischen SAT-Gewerkschafterin Pastora Filigrana (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Pastora Filigrana (naiz)
(2) Pastora Filigrana (naiz)
(3) Pastora Filigrana (voz del sur)
(4) Pastora Filigrana (el diario)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-07-03)