Geiselbefreiung und Waffenstillstand
Die von den Mainstream-Medien gezeigten Bilder von Jubel-Gesten, sowohl in Gaza wie in Israel, sind absurd angesichts von 50.000 Toten. Vor allem, weil der ungleiche Krieg noch lange nicht zu Ende ist. MZ: “Die ersten Geiseln, drei Frauen, sind Ende Januar 2025 von der Hamas-Gefangenschaft befreit worden. Der Deal, der diesem Akt vorausging, war mitnichten selbstverständlich. Man darf behaupten, dass er nicht zustande gekommen wäre, wenn es nach Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ginge.“
Der Artikel “Israel: Geiselbefreiung und Waffenstillstand” erschien am 25. Januar 2025 im Overton-Magazin, Autor ist Moshe Zuckermann.
Es ist in diesem Rahmen schon mehrfach dargelegt worden, dass Netanjahu an der möglichst ausgedehnten Fortsetzung des Krieges interessiert ist, weil sie ihm den Machterhalt, mithin die Aushöhlung der noch bestehenden Gewaltenteilung in Israel durch drastische Schwächung des Justizsystems und somit die mögliche Auszehrung seines Prozesses ermöglicht. Ein Bonus wäre zudem die Verhinderung einer für ihn bedrohlichen staatlichen Untersuchungs-Kommission über das Versagen von Regierung und Militär am 7. Oktober 2023.
Verbündet im Desinteresse an einem Deal mit Hamas zur Beendigung des Krieges (bzw. in dessen kategorischer Ablehnung) ist der israelische Premier mit den Faschisten in seiner Regierungskoalition, Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Bei ihnen spielt auch parteiliche Ideologie in ihre Positionierung mit herein: Beide erstreben die militärische Eroberung des Gazastreifens und seine jüdische Neubesiedlung. Ben-Gvir ist bereits aus Protest gegen den Deal aus der Regierung ausgeschieden. Smotrich ist vorerst geblieben, allerdings mit der offenen Drohung, aus der Koalition auszuscheiden, wenn nach dem Vollzug der ersten Phase des Deals (der Befreiung von insgesamt 33 Geiseln innerhalb von 42 Tagen) Israel die Kampfhandlungen nicht wieder aufnimmt. Beide gehen mit der ihnen gegebenen Macht manipulativ um, und schaffen es in der Tat, Netanjahu und seine Regierungskoalition unentwegt in Schach zu halten.
Zum Deal kam es, weil die Amerikaner ihn wollten. Es ist ausgemacht, dass ein direkter Druck in diesem Sinne von Trump auf Netanjahu ausgeübt wurde, und zwar in der dem US-Präsidenten eigenen Rabiatheit; Netanjahu fürchtet Trump, er weiß genau, mit wem er es zu tun hat. Es wird gleichwohl auch hervorgehoben, dass der Deal eigentlich der Biden-Regierung zu verdanken sei; sie sei es gewesen, die an seinem Entstehen in einem erschöpfenden diplomatischen Prozess beharrlich elaboriert hat.
Die Israelis haben den Deal nicht gewollt
Wie dem auch gewesen sein mag, festzuhalten ist, dass nicht die Israelis den Deal gewollt und entsprechend herbeigeführt haben, sondern eben die Amerikaner. Für sie geht es dabei primär um geopolitische Interessen, vor allem um die Festigung der bilateralen Beziehungen mit Saudi-Arabien, welche in der “Normalisierung” der saudischen Beziehungen mit Israel verankert zu sein hätte, die aber ihrerseits ohne Beendigung des laufenden Gaza-Krieges nicht zu haben ist. Geeinigt hat man sich vorerst auf einen Waffenstillstand, von dem es aber abzuwarten gilt, ob er standhalten bzw. nach der ersten Phase des Deals verlängert werden wird.
Entstanden ist also die Situation, dass Netanjahu Trump die Beendigung des Krieges zugesagt, zugleich aber Smotrich versprochen hat, den Krieg nach Ablauf der ersten Dealphase wieder aufzunehmen. Nicht von ungefähr adressierte Haaretz-Journalist Amir Tibon die Mitarbeiter Trumps mit der Schlagzeile: “Trump Team, Beware: Netanyahu Is Lying and Trying to Sabotage the Gaza Cease-fire Deal” (Achtung, Trump-Mitarbeiter: Netanjahu lügt und versucht den Waffenstillstand-Deal zu unterwandern).
Dass Netanjahu lügt, ist nun freilich keine Sensation. Er ist seit langem als perfider Hetzer und Demagoge bekannt, der die politische Lüge zur wahren Meisterschaft gebracht hat. Und da er in eine wirkliche Klemme geraten ist – zwischen der existentiellen Abhängigkeit (Israels) von USA/Trump einerseits und der zu wahrenden Existenz seiner Regierungskoalition andererseits –, greift er zum altbewährten Mittel der manipulativen Lüge und der eklatanten Unzuverlässigkeit seiner Versprechen, um Zeit zu gewinnen und zu überdauern. Das, wie gesagt, kann nicht überraschen. Aber wie steht es in diesem Zusammenhang mit der israelischen Bevölkerung?
Diese Frage stellt sich mit umso größerer Notwendigkeit, als klar ist, dass der nun ausbedungene Deal schon im Mai/Juni 2024 zu haben gewesen wäre. Itamar Ben-Gvir hat letzte Woche offen bekundet, dass er es war, der die seit Monaten zur Disposition stehenden Deals mit der Drohung, die Regierungskoalition zu Fall zu bringen, systematisch vereitelt habe.
Es ist also augenfällig, dass ungeachtet der von Hamas in den Deal-Weg gelegten Steine Netanjahu (ob als von Ben-Gvir und Smotrich Erpresster oder aus genuinem Eigeninteresse) die Deal-Angebote aus heteronomen Gründen hat auffliegen lassen. Er wollte den Krieg nicht beenden und hat daher das Leben der gemarterten Geiseln und der immer weiter kämpfenden IDF-Soldaten (von den palästinensischen Opfern im Gazastreifen erst gar nicht zu sprechen) bewusst und ohne sichtbare Bedenken aufs Spiel gesetzt. Sein erklärtes Ziel war ja die Verwirklichung des “totalen Sieges”, die mit der Behauptung einherging, dass einzig eine Steigerung der Militärgewalt die Befreiung der Geiseln zu erwirken vermöchte.
Beides ist empirisch widerlegt worden: Der “totale Sieg” war von vornherein nicht zu erlangen (Militärexperten und selbst hochrangige IDF-Funktionäre haben das schon seit vielen Monaten klargemacht), und die Möglichkeit der Geiselbefreiung ist nicht durch Militäroperationen, sondern eben durch den diplomatisch generierten Deal zustande gekommen.
Bruch im zionistischen Ethos
Die Reaktionen auf die befreiten drei Frauen aus der Hamas-Gemeinschaft, wie sie sich in Israels Medien widerspiegeln, sind Bekundungen überbordender Freude und tränenreicher Rührung. Man bewundert die Standhaftigkeit der Frauen, ist besorgt um ihren gesundheitlichen Zustand, äußert viel Mitgefühl und ist allgemein beglückt, dass sie wieder zuhause sind. Zugleich ist aber der Übergang zur Ideologie unüberhörbar: Nun habe doch der wahre Geist des Zionismus gesiegt, das Postulat, Juden in Not, wo auch immer, zu retten, niemanden “auf dem Schlachtfeld zurückzulassen” und dergleichen mehr.
Die bittere Wahrheit ist, dass die Lüge größer nicht sein könnte. Was immer der “wahre Geist des Zionismus” gewesen sein mag, mit dem, was an ihm jetzt ideologisch hochgejubelt wird, hat das, was seit dem 7. Oktober mit den Geiseln passiert ist, nichts zu tun. Einige reflektiert-kritische Publizisten haben das auf den Punkt gebracht. So schrieb Yoana Gonen: “Diesmal haben sich die Euphorie und die Erleichterung angesichts der nach Hause kehrenden Frauen mit Scham, Schmerz und hauptsächlich Wut vermischt. Scham darüber, dass wir sie nicht früher zurückgebracht haben. Schmerz über das viele Leben, das in den vielen Monaten, in denen ein fast identischer Deal auf dem Tisch lag, verloren ging. Und eine gewaltige Wut auf einen Premierminister, der eines fremden politischen Führers bedurfte, der ihn zwang, seine gefangenen Bürger zu befreien, und auf eine verrottete Regierung, in der Minister ihren Abschied nehmen, weil Entführte zurückkehren, und nicht weil sie verantwortlich sind für deren Entführung.”
Schärfer und noch pointierter äußerte sich Rogel Alper (auch er wie Gonen Haaretz-Publizist): Die Entführten “kehren in die Arme einer Gesellschaft zurück, deren dominanter Teil ihre Rückkehr nicht gewollt hat, und in den Augen eines Teils von ihnen sie noch immer eine Niederlage, Schwäche und einen katastrophalen Fehler symbolisieren. Was die israelische Gesellschaft anbelangt, ist ihre Befreiung im besten Fall das Resultat eines auf Benjamin Netanjahu durch äußere – außerhalb der israelischen Gesellschaft liegende – Kräfte verübten Aktes.”
Aber selbst die vollständige Befreiung ist vorläufig mitnichten garantiert. Bereits vier Tage nach der Loslösung der ersten drei Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft hat der für seine Gossensprache bekannte Minister für Zusammenarbeit zwischen Regierung und der Knesset, David Amsalem, in einem Interview verkündet: “Die zweite Phase des Deals wird nicht stattfinden. Israel wird nach Vollendung der ersten Phase mit gesteigerter Gewalt zum Krieg zurückkehren und nicht zur zweiten Phase übergehen.” Was das für die verbliebenen Geiseln bedeutet, weiß jeder in Israel.
Ob die Worte Amsalems seiner Großmauligkeit entstammten oder einer Beschwichtigungstaktik gegenüber seiner kriegsgeil-frustrierten Likud-Klientel, sie widerspiegeln aufs Prägnanteste die Attitüde der gegenwärtigen politischen Führung Israels. Und es ist ebendiese Attitüde, die einen eklatanten Bruch im zionistischen Ethos, wie er sich immer verstanden und selbst dargestellt hat, markiert: Der Verrat an den Geiseln, das politische Übergehen ihrer horrenden Not, die bewusste Verfolgung eigener Interessen auf Kosten ihrer Errettung bedeutet zugleich die Abwendung von einem der Grundpostulate des Zionismus: der fundamentalen Verantwortung für die Sicherheit von notleidenden Juden in der Welt, mithin dem Vertrauen in die elementare Solidarität von Juden untereinander.
Es geht dabei um mehr als bloß um die formale Verpflichtung eines Staates, für seine Bürgerinnen und Bürger Sorge zu tragen. Der politische Zionismus entstand als Reaktion auf den sich in Europa verbreitenden Antisemitismus im 19. Jahrhundert, also als Lösung für die in Erscheinung tretende gesellschaftliche Not der Juden (die sogenannte “jüdische Frage”). Ungeachtet der Frage, wie verlogen der Zionismus dabei vorging und ideologisch in Widersprüche geriet, war doch seine Gesinnung von der Matrix der Sicherheitsgarantie und der mit dieser einhergehenden Emphase der innerjüdischen Verbundenheit und Treue bestimmt. Und genau an diesen Grundforderungen ist der Verrat begangen worden: Seit dem 7. Oktober hat sich erwiesen, dass weder die Sicherheit garantiert wurde noch von Verbundenheit und Treue die Rede sein konnte. Schändlicher konnte sich eine Regierung ihren in schwerer Not befindlichen Bürgern kaum verhalten.
Das Vertrauen ist zerstört. Und es ist nach dieser grausamen Erfahrung – die, wie gesagt, noch lange nicht beendet ist – nur schwer vorzustellen, wie und vor allem mit wem sie wiederhergestellt werden kann. Nicht nur an PalästinenserInnen im Gazastreifen hat der Staat Israel Schlimmstes verbrochen, auch seine eigenen jüdischen BürgerInnen hat er nicht verschont.
ANMERKUNGEN:
(*) “Israel: Geiselbefreiung und Waffenstillstand”, Overton-Magazin, Autor: Moshe Zuckermann, 25. Januar 2025 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Gaza (R.I.Elcano)
(2) Gaza (info-bae)
(3) Gaza (bbc)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2025-01-29)