2020: Ein Franquist wird verhört
In den bürgerlichen Medien gilt Spanien als Modellfall des Übergangs von einer Diktatur zu einer Demokratie. Dabei wurden und werden die Schattenseiten bewusst übersehen. Denn die franquistische politische Klasse blieb nach dem Tod des Massenmörders Franco im Amt: Polizei, Justiz, Militär. Wer sich Politiker nannte, ersetzte das Falange-Hemd durch ein Demokraten-Hemd. Eine Amnestie sorgte für Straffreiheit. Dennoch wurde nun einer der Hemdenwechsler verhört, von einer argentinischen Richterin.
Martín Villa war Minister im Franco-Regime und nach dem Tod des Massenmörders erneut in Minister-Funktion tätig. Er ließ in Gasteiz streikende Arbeiter erschießen, in Pamplona kam es zu tödlichen Schüssen bei der Fiesta. Seit Jahren ist eine argentinische Richterin hinter Martín Villa her, weil in ihrem Land eine Klage vorliegt und Menschenrechts-Verletzungen überall anklagbar sind.
Nur wenigen ist bewusst, dass im Jahr 1977 parallel zur schwer erkämpften Amnestie der politischen Gefangenen auch eine Amnestie für alle Verbrechen des Franquismus beschlossen wurde. Die juristische Verfolgung von Verbrechen im Krieg und während der Diktatur (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) wurden dadurch unmöglich gemacht. Tatsache ist, dass 45 Jahre nach Francos Tod und 41 Jahre nach der Verabschiedung einer “demokratischen“ Verfassung noch kein einziger der Räuber, Vergewaltiger, Mörder und Folterer des ehemaligen Regimes zur Verantwortung gezogen wurde. Die Justiz beruft sich auf dieses Amnestie-Gesetz.
Die UNO kritisiert das und fordert die Abschaffung des Amnestie-Gesetzes, wie es den Richtlinien der Menschenrechts-Erklärung entspricht, die auch von einer spanischen Regierung ratifiziert wurde. Denn Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit können weder verjähren, noch können sie amnestiert werden. Weil die Menschenrechte als universelle Rechte international überall einklagbar sind, läuft seit 10 Jahren die sogenannte “argentinische Klage“ gegen die wenigen übrig gebliebenen Franquisten.
Die argentinische Klage
Ihr haben sich in der Zwischenzeit Dutzende von Opfern des Franquismus und Nachkommen von Opfern von Repression, Folter und Mord angeschlossen. Darunter eine große Zahl von Baskinnen und Basken, denn in den “Verräter-Provinzen“ waren zuerst extralegale Erschießungen, später harte Repression und danach systematische Folter an der Tagesordnung. Bis weit über den Franquismus hinaus. Nirgendwo anders gab es während der Diktatur einen so ausgeprägten antifranquistischen Widerstand (nicht zuletzt durch ETA), und nirgendwo derart viele politische Gefangene wie im Baskenland.
Die argentinische Richterin Maria Servini hat nach der eingereichten Klage die Ermittlungen übernommen. Mehrfach hat sie Vernehmungen von überlebenden franquistischen Politikern und Folterern beantragt, immer wurde sie von der Zentralregierung abgeblockt oder ausgebremst. Sie hat einst sogar einen Auslieferungs-Antrag gestellt, der von der rechten spanischen Regierung unter Rajoy (selbstverständlich) abgelehnt wurde. Die Zeit spielt gegen die Klage, denn inzwischen starben mehrere der Übeltäter, wie der Hardliner-Franquist Utrera Molina, oder der Folterer Pacheco an Altersschwäche oder Covid.
Dass sich der ehemalige Franco-Minister Martin Villa schließlich “freiwillig“ zu einer Vernehmung bereit erklärte, ist ebenso überraschend wie verdächtig. Denn wirkliche rechtliche Konsequenzen hat er keine zu befürchten. Alles deutet darauf hin, dass es sich um eine Propaganda-Aktion handelt, bei der Villa den Mythos der angeblichen Demokratie und der aktiven Teilnahme der Faschisten am Übergangs-Prozess (Transition) unter Beweis stellen will. Unterstützung fand er dafür bei vier spanischen Ex-Präsidenten, die (zum Teil) nicht zum ersten Mal ihren Ruf als Demokraten riskieren. Insbesondere der Sozialdemokrat Felipe Gonzalez, der bekanntermaßen in den 1980er Jahren von staatlicher Seite eine Todesschwadron auf die Beine stellen ließ, um baskische Flüchtlinge (im Zusammenhang mit ETA oder auch nicht) jenseits der Grenze in Iparralde ermorden zu lassen (1) (2) (3) (4).
Unter dem Titel “Hoffen auf die argentinische Justiz“ hat die deutsche Wochenzeitung FREITAG einen kritischen Artikel publiziert, den baskultur.info an dieser Stelle vollständig dokumentiert. Titel: “Martín Villa: Der Fall wirft Licht auf den beklagenswerten Zustand des spanischen Rechtsstaats und der spanischen Politik“ (5):
Der Franquist Martin Villa
Schon wieder eine peinliche “Einheitsfront“. Die Medien berichten von einem Brief, unterzeichnet von allen lebenden Ex-Präsidenten: Felipe González, José María Aznar, José Luis Zapatero und Mariano Rajoy. Er ist an die argentinische Richterin María Servini gerichtet, die nach jahrelangen Ermittlungen 2014 einen internationalen Haftbefehl gegen Martín Villa wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen hatte, zusammen mit weiteren 19 Verantwortlichen für Verbrechen der Franco-Diktatur. Sie berief sich diesbezüglich auf das “universale Recht“, auf dem ja auch die Verfahren des Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte“ in Den Haag gründen. Die Unterzeichner betonen das makellose Verhalten und die politischen Verdienste von Martín Villa, Führungsfigur des Franco-Regimes.
Spanien verweigerte seinerzeit die Verhaftung und Auslieferung der 20 Angeklagten an die argentinische Justiz und berief sich dabei auf das Amnestie-Gesetz von 1977, das allen Verbrechern der Franco-Diktatur Straffreiheit garantiert. Nach langem Ringen der Richterin mit Spanien und der eigenen argentinischen Justiz blieb nur noch die Anklage gegen Martín Villa übrig, und nach Aufhebung des Haftbefehls nach Zahlung einer Kaution gestattete Spanien ein Verhör per Videokonferenz von der argentinischen Botschaft in Madrid aus. Termin 3. September.
Der Vorgang wirft einmal mehr Licht auf den beklagenswerten Zustand des spanischen Rechtsstaats und der spanischen Politik: Trotz mehrfacher Ermahnungen seitens der Vereinten Nationen seit dem Jahr 2009 ist dieses Amnestie-Gesetz nach wie vor in Kraft. Ja mehr noch: Auf seiner Basis wurde seinerzeit dem Richter Baltasar Garzón der Prozess gemacht, weil er sich erdreistete, bestimmte Verbrechen der Franco-Diktatur zu untersuchen.
“Knüppel des demokratischen Übergangs“
Eine weitere Peinlichkeit ist die erwähnte “Einheitsfront“ und ihre Verfestigung. In ihr intervenieren inzwischen, immer wenn es um den Versuch geht, die “Kloaken“ des spanischen Staats etwas auszumisten, alle “elder statesmen“, von rechts bis links. Protagonist ist dabei der ehemalige sozialistische Präsident Felipe González. Sein letzter Auftritt war erst kürzlich: Mit anderen politischen “Mumien“ unterschrieb er ein Manifest zur Ehrenrettung des geflüchteten spanischen Ex-Monarchen Juan Carlos I, in dem dessen unauslöschliche historische Verdienste gepriesen werden und gegen seine “Beschmutzung“ protestiert wird. Unter den Unterzeichnern eine Riege bekannter Figuren wie Alfonso Guerra (ehemaliger Vizepräsident unter González) oder Esperanza Aguirre (ehemalige Präsidentin der Region Madrid und Rechtsaußen der Partido Popular), denen gemeinsam ist, dass sie strafrechtlichen “Dreck am Stecken“ haben. David Torres spricht anlässlich dieser Lobpreisung des Ex-Monarchen in publico.es vom Club der “lameculos“ (Arschlecker), ein anerkanntes Amt am britischen Königshaus bis ins Jahr 1901.
Diese “Einheitsfront“ hat sich im aktuellen Fall Martín Villa auf verstörende Weise erweitert um ehemalige Gewerkschaftsführer und um Josep Borrell, Veteran der sozialistischen Partei PSOE, für die Außenpolitik der EU zuständig, und als Katalane bekannt für seinen gnadenlosen Kampf gegen die Unabhängigkeits-Befürworter. Immerhin hat sich die Gewerkschaft UGT umgehend von ihren früheren Vorsitzenden distanziert und der argentinischen Richterin für ihre Standfestigkeit gedankt.
Die Martín Villa vorgeworfenen Straftaten beziehen sich interessanterweise auf die Zeit nach Francos Tod im November 1975, also die Periode des sogenannten “demokratischen Übergangs“. Martín Villa war unter Franco Minister für “Gewerkschafts-Beziehungen“ und nach seinem Tod von 1976 bis 1979 Innenminister. Später stieg er in der Regierung von Calvo Sotelo sogar zum Vizepräsidenten auf. Seine Zeit als Innenminister war durch das Fortführen einer blutigen Repression gekennzeichnet, was ihm den Spitznamen “Knüppel des demokratischen Übergangs“ einbrachte. Drei Verbrechen aus dieser Zeit sind Gegenstand der Anklage in Argentinien.
Wichtiges Beweismaterial blieb spurlos verschwunden
Ein erstes am 3. März 1976: In Vitoria (Baskenland) umzingelt die damals so genannte “bewaffnete Polizei“ eine Kirche, in der sich 4.000 streikende Arbeiter versammelt hatten. Als diese nach Tränengas-Einsatz in Panik aus der Kirche flüchten, wird mit scharfer Munition auf sie geschossen: 5 Tote. Die Ermittlungen der Justiz werden schnell eingestellt.
Ein zweites Verbrechen fand am 23. Januar 1977 statt. Faschistische Banden schießen im Zentrum von Madrid auf Demonstranten, die Amnestie für die immer noch eingesperrten politischen Gefangenen fordern. Sie erschießen Arturo Ruíz García. Der Mörder, Fernández Guaza, wird identifiziert und flüchtet mit Hilfe der Polizei ins Ausland. Keinerlei Fahndung, keinerlei Haftbefehl. Die Ermittlungen werden mehrfach eingestellt, und im Jahr 2000 wird der Mord schließlich vom Nationalen Gerichtshof (Audiencia Nacional) für verjährt erklärt.
Ein drittes Verbrechen: Am 8. Juli 1978, während der berühmten “Fiesta“ San Fermín (Hemingway) in Pamplona, entrollt eine Gruppe in der ebenfalls berühmten Stierkampfarena ein Transparent, auf dem Amnestie für die immer noch einsitzenden politischen Gefangenen gefordert wird. Die Polizei schießt mit scharfer Munition: 10 Personen mit Schussverletzungen, ein Toter. Ein aufgefangener Polizeibefehl: “Schießt so viel ihr könnt. Tote spielen keine Rolle“. Einige Tage später ein weiterer Toter durch Schüsse der Polizei in San Sebastián. Auch hier wieder werden die Ermittlungen bald eingestellt. Ein Detail am Rande: Die Fernseh-Übertragung des Geschehens (das Fernsehen liefert regelmäßig ausführliche Berichte der “Fiesta“), wichtiges Beweismaterial, blieb spurlos verschwunden.
Das alles unter Martín Villa als verantwortlichem Innenminister. Es ist nicht zu erwarten, dass die Video-Vernehmung strafrechtliche Folgen für Martín Villa haben wird. Der spanischen Justiz geht es wohl eher darum, ihr international angeschlagenes Image kosmetisch etwas aufzuhellen.
ANMERKUNGEN:
(1) “Freund der Terrorschwadrone - Spanischer Ex-Präsident beschuldigt“, Baskultur.info (LINK)
(2) “Das Monbar-Attentat 1985 - Todesschwadrone in Iparralde aktiv“, Baskultur.info (LINK)
(3) “GAL – spanischer Staatsterror - Der Polizeimord an Lasa und Zabala“, Baskultur.info (LINK)
(4) "Franquismus-Aufarbeitung - Kampagne Prozess gegen Martin Villa", Baskultur.info (LINK)
(5) Wochenzeitung Freitag, Eckart Leiser: “Hoffen auf die argentinische Justiz. Martín Villa: Der Fall wirft Licht auf den beklagenswerten Zustand des spanischen Rechtsstaats und der spanischen Politik“, 2020-09-03 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Martín Villa, demokratische Geste (elplural)
(2) Polizei-Mord in Gasteiz (elcorreo)
(3) Richterin María Servini (infobae)
(4) Polizei-Mord in Pamplona (elconfidencial)
(5) Königliche Ehrung für MV (tercera informacion)
(6) Polizei-Mord in Gasteiz (elcorreo)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-09-08)