82 Jahre später keine Rückgabe in Sicht
Carmen García wurde von einem Gericht in Navarra vorgeladen, an einem Schlichtungsverfahren teilzunehmen. Verklagt hatte sie der Bürgermeister von Yesa, Roberto Martínez. “Sie haben meinen Vater erschossen, haben uns Land weggenommen und jetzt wollen sie, dass ich den Mund halte”. Diese Aussage sollte sie nach dem Willen von Martinez zurücknehmen. Denn als Mittäter war der Name von Martinez‘ Großvater gefallen, unter Franco ebenfalls Bürgermeister und an der illegalen Enteignung von Gütern beteiligt.
Die Aufarbeitung von Krieg, Diktatur und Verbrechen des Franquismus in Spanien geht langsam voran. Wenn überhaupt, dann ist die Rede von den Toten, den illegal Erschossenen, den Sklavenarbeitern. Noch fast unberücksichtigt ist das Thema der willkürlichen Enteignungen von Privatpersonen, die der republikanischen Seite zugerechnet wurden.
Carmen García Pellón ist 90 Jahre alt. Dennoch hat sie ihre Geschichte präsent, als wäre sie in ihr Gedächtnis gebrannt worden. (1) Sie war gerade acht Jahre alt, als ein gerichtlicher Vertreter in Begleitung zweier Guardia-Civil-Polizisten an die Tür ihres Hauses klopfte. Sie kamen, um ihren Vater, Mariano García Illazorza, damals Landwirt, Gemeinderat von Yesa und in der Gewerkschaft UGT (2) organisiert, abzuholen. Sie brachten ihn in die Kaserne. Am selben Abend brachte Carmen ihm zusammen mit ihrer Mutter etwas zu essen und seine Baskenmütze. Dort saß er zusammen mit weiteren sieben Personen, die per Fußfesseln an ein Tischbein gekettet waren. “Sie sagen, sie würden uns zum Verhör nach Pamplona bringen“, teilte ihnen der Vater mit. “Gib deinem Vater einen Kuss. Ich gehe nicht davon aus, dass du ihn jemals wiedersehen wirst“, sagte die Mutter zu ihrer kleinen Tochter.
Willkürliche Erschießungen
Genauso war es. Das Mädchen verließ die Kaserne in Tränen aufgelöst. In derselben Nacht wurden die Gefangenen von einem Lastwagen abgeholt. Auf halbem Weg nach Pamplona, nach ca. 30 Kilometern, wurden sie in einem kleinen Ort namens Monreal (baskisch: Elo) aufgefordert, abzusteigen und wurden alle an Ort und Stelle erschossen. Ihre Überreste liegen noch immer in einem Massengrab am Straßenrand, dort wo ihre Henker sie “im Namen Gottes und Spaniens“ (3) niederstreckten. 83 Jahre später hoffen die Nachkommen des Gewerkschafters nun, seine Reste im Herbst 2019 endlich bergen zu können, um ihn würdevoll auf dem Friedhof beizusetzen.
“Mein Vater hätte am Tag zuvor entkommen können. Ein Verwandter kam mit seinem Taxi, um ihn wegzubringen. Aber mein Vater sagte, er wolle bleiben, er hätte nichts Unrechtes getan. Es spielte keine Rolle. Sie haben ihn getötet“, sagt Carmen. Ihrer Erzählung nach haben die Gewinner des Krieges sich einen Teil des Familiengrundstückes und auch andere Ländereien der Gemeinde angeeignet. Unter anderem übernahmen sie den Hühnerhof und weitere kleine Landstücke. Einer dieser “Räuber“ war der Großvater des heutigen Bürgermeisters.
Verbot, die Wahrheit auszusprechen
Im Mai 2019 musste Carmen vor einem Schlichtungsrichter erscheinen. Nicht etwa, um den Mord an ihrem Vater anzuzeigen oder die Repression während der Diktatur anzuprangern. Auch nicht, um die Ländereien einzufordern, die ihrer Familie weggenommen worden waren. Sie erschien vor dem Richter, weil sie eine gerichtliche Vorladung erhalten hatte. Der Bürgermeister der Kleinstadt, Roberto Martínez, brachte sie vor den Richter, um sie zu zwingen, ihre in einem Interview gemachten Aussagen zurückzunehmen. Darin hatte sie den Großvater des klagenden Bürgermeisters, Isidoro Martínez, ehemals franquistischer Bürgermeister, als einen derjenigen identifiziert, die sich Ländereien ihrer Familie angeeignet hatten. Er forderte die Rücknahme eines bei Youtube veröffentlichten Interviews, in dem Carmen diese Episode ihres Lebens der Franquismus-Forscherin Nekane Ruano erzählt, im Kontext einer historischen Untersuchung. Doch Carmen weigerte sich, ihre Feststellungen zurückzunehmen. Sie hat diese Geschichte erlebt. Sie weiß, wovon sie spricht.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat Carmens Entscheidung zur Folge, dass der Bürgermeister von Yesa weitere juristische Schritte einleitet. Die können sowohl zivilrechtlich als auch strafrechtlich sein. Carmens Familie liegen derzeit keine Informationen vor. Laut Gesetz hat er nach dem Schlichtungstermin ein Jahr Zeit, um Klage einzureichen. Eine Kontaktaufnahme mit dem Rathaus von Yesa, um die Version des Bürgermeisters zu erfahren, führte zu keiner Antwort.
Die Tageszeitung “Diario de Noticias de Navarra“ veröffentlichte am Tag nach der Vorladung, der Bürgermeister habe vor dem Richter erklärt, Carmen habe seinen Großvater beschuldigt, “alles gestohlen zu haben, was er nur konnte, ein Dieb zu sein, sich alle Ländereien im Dorf angeeignet zu haben und das Land der Erschossenen übernommen zu haben“. Die ehemalige Dorfbewohnerin (Carmen lebt heute in Madrid) hingegen antwortete mit einer konkreten Aufzählung der Grundstücke, die ihrer Familie weggenommen worden waren und verlangte deren Rückgabe. Der Bürgermeister insistierte, sie solle ihre Worte mit Beweisen belegen.
Verschwundene Original-Dokumente
“Sie erschossen meinen Vater, sie nahmen uns Land weg und jetzt, mit 90 Jahren, wollen sie, dass ich den Mund halte. Aber das wird nicht passieren. Sie wollen, dass ich schweige, aber das werde ich nicht tun. Welche Art Schlichtung strebt er an? Wie kann er von mir verlangen, dass ich den Mund halte? Sie sind im Besitz von Grund und Boden, der nicht ihrer ist“, bekräftigt Carmen. Sie erzählt, dass ihre Familie Mitte der 70er Jahre Schritte unternommen hat, einige ihrer Besitztümer zurückzuerhalten und dass auf diesem Behördenweg einige der originalen Besitzurkunden im Rathaus verschwanden. Carlos, der Sohn von Carmen, berichtet, dass sie bereits mehrere Klagen vor Gericht gewinnen konnten, sich in der Gemeinde von Yesa aber nichts verändert habe.
Jetzt warten Mutter und Sohn auf die Entscheidung des Bürgermeisters. Wird er die Sache auf sich beruhen lassen oder wird er tatsächlich Klage gegen Carmen einreichen? Die 90-jährige Frau spricht mit der Sicherheit derjenigen, die die damalige Situation aus eigener Anschauung kennt. “Wir wissen nicht, was von nun an passieren wird. Sie versuchten meine Mutter zum Schweigen zu bringen und einzuschüchtern. Sie dachten, sie könnten sie mit juristischen Drohungen klein kriegen, aber meine Mutter bleibt beharrlich“, erklärt Sohn Carlos.
Franquistische Straffreiheit
Bis zum heutigen Tag wurde kein einziger der in der Franco-Diktatur an Verbrechen beteiligten Verantwortlichen jemals vor ein Gericht geladen, geschweige denn verurteilt – eine eklatante Ungerechtigkeit! Grund dafür ist das Amnestiegesetz von 1977, mit dem sich die Franquisten und Postfranquisten absolute Straffreiheit für ihre Verbrechen sicherten.
Allein in Navarra wurden von den Franquisten mehr als 3.500 Morde begangen. Niemand musste Rechenschaft ablegen über die Aneignung von Besitztümern von Erschossenen oder über die Funktion am Gerichtshof für die Beschlagnahmung von Eigentum, der in Navarra seit November 1936 aktiv war. Stattdessen wurde Carmen vorgeladen. Mit ihrer Zeugenaussage und ihrer hartnäckigen Insistenz will sie das Ausmaß der Repression verdeutlichen, um jene Personen namentlich zu identifizieren, die sie für die Repression und ihre Leiden verantwortlich macht.
Kein Interesse an unabhängiger Geschichtsforschung
Die Lehrerin und Historikerin Nekane Ruano, die Carmens Erinnerungen auf Video dokumentiert hat, betont die Bedeutung dieser Art von Zeugenaussagen für die notwendige historische Aufarbeitung. Tatsächlich war das Interview mit Carmen García Pellón integriert in ein Forschungsprojekt, das Zeugenaussagen von Frauen zwischen 1939 und 1945 zusammentrug. “Diese Art von Aussagen von Zeitzeuginnen sind ein Schlüssel. Sie stellen eine ganz wesentliche Quelle dar. Sie liefern uns zeitliche und andere Angaben, die uns bei der Archivarbeit helfen. Sie tragen dazu bei, verschiedene Quellen vergleichen zu können und diese Epoche unserer Geschichte zu dokumentieren. Wenn solche Zeitzeugnisse denunziert werden, wird damit auch unsere Forschungsarbeit torpediert“, erklärt die Historikerin.
Massive Bereicherungen
Ruano weist darauf hin, dass es viele Hinweise gibt, dass es in der Region Navarra neben der blutigen Repression auch eine ökonomische Repression gab. Als Beispiel führt sie einen anderen Fall mit verschiedenen Protagonisten an. Dieser Fall ist wie der der Familie García Illazorza im Buch “Navarra 1936. De la esperanza al terror“ (Navarra 1936: Von der Hoffnung zum Terror) beschrieben (4). Der folgende Abschnitt erzählt die Geschichte: “Am 5. September wurde eine weitere Familie zerstört, vermutlich aus ökonomischen Motiven. Die Eheleute Francisca Alonso und Filemón Losantes, Eltern dreier Kinder, hatten Ländereien gemietet, die laut Zeugenaussagen andere begehrten. Dem Bruder von Francisca, Gregorio Alonso, einem gut situierten Viehzüchter, wurden seine Herde und seine Metzgerei weggenommen. Alle drei wurden auf die andere Seite des Ebro-Flusses verschleppt und in der Nähe des Ortes Recuenco de Calahorra erschossen (5). Francisca konnte sich schwer verletzt zwei Kilometer weit schleppen, bis zu einem Gehöft, wo sie mit letzter Kraft um Hilfe bat. Statt ihr zu helfen, wurde sie erneut verraten und definitiv erschossen. Der jüngere Bruder Amancio Alonso wurde neun Tage später in Zaragoza erschossen. Dort hatte er Theologie studiert und als Lehrer gearbeitet“.
In der Buch-Ankündigung des Txalaparta-Verlags heißt es: “Dieses Buch ist zweifellos eines der eindrucksvollsten und bewegendsten Dokumente in der Geschichte Navarras. Mit seinem Erscheinen 1986 wurde das Schweigen gebrochen, das zuerst durch das Franco-Regime und dann durch den Übergang auferlegt wurde. Jeder sollte das Ausmaß der Tragödie kennen. Die aktualisierte zehnte Ausgabe erhöht die Zahl der Vergeltungsmaßnahmen deutlich: 355 weitere Menschen wurden ermordet, davon 114 aus Navarra. Neue Daten, wie der verschwundene Zirkus in Lodosa, kommen zum ersten Mal ans Licht. Wir nähern uns dem Ende. Zumindest die Erinnerung an das Geschehene wird gewährleistet sein. Gerechtigkeit und Wiedergutmachung dieser Barbarei, warten noch immer. Dieses Buch, bereits ein Klassiker, ist nach wie vor auf dem neuesten Stand. Und es schreit weiter gegen die Straflosigkeit der Verbrecher an.“ (4)
Franquisten hatten freie Hand
Die Beispiele zeigen, dass es nicht unbedingt nötig war, auf Seiten der legitimen republikanischen Regierung gekämpft zu haben, oder Anarchist oder Sozialist gewesen zu sein. Es reichte aus, im Besitz von interessanten Ländereien, Gebäuden, bis hin zu Möbelstücken zu sein, um bestohlen, verschleppt oder erschossen zu werden. Bestes Beispiel ist die Familie Franco selbst, die sich während der Diktatur ein Millionenvermögen zusammenschaufelte. (6)
Der erwähnte Widerspruch wird auch am kürzlich gefällten Urteil gegen Teresa Rodriguez deutlich. Die Spitzenkandidatin des andalusischen linken Wahlbündnisses “Adelante Andalusia“ wurde dazu verurteilt, 5.000 Euro an die Nachkommen des 2017 verstorbenen Franco-Ministers José Utrera Molina zu bezahlen, einen bis zu seinem Tod überzeugten Faschisten. Den hatte Rodriguez in sozialen Netzen als einen der Verantwortlichen für den Mord an dem katalanischen Anarchisten Salvador Puig Antich im März 1974 bezeichnet (7). Salvador Puig Antich war die letzte Person im spanischen Staat, deren Hinrichtung mittels der Garrotte vollstreckt wurde (8).
Niemand hat jemals für die Verbrechen im Namen des Franco-Regimes bezahlt. Wer jedoch die Verantwortlichen der franquistischen Verbrechen mit Namen nennt, bekommt die Härte der Justiz zu spüren. Eine durch und durch postfranquistische Justiz.
In der Internationalen Menschenrechts-Erklärung ist festgeschrieben, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weder amnestiert werden können noch verjähren. Insofern widerspricht das spanische Amnestie-Gesetz den Menschenrechten und ist illegal. Das hat die UNO in mehr als einem Fall angemahnt. Alle Versuche, franquistische Verbrecher vor Gericht zu bringen scheiterten jedoch genau an diesen beiden Argumenten: erstens gäbe es die Amnestie, zweitens seien die Verbrechen verjährt. Dies charakterisiert die spanische Realität auch 44 Jahre nach dem Tod des Massenmörders Franco. (9)
(Publikation Baskultur.info 2019-06-11)
ANMERKUNGEN:
(1) Zitate aus “Víctimas del franquismo: Fusilaron a mi padre, nos quitaron tierras y ahora, con 90 años, quieren que me calle”. Digitale Tageszeitung Publico, 24. Mai 2019. Autor: Alejandro Torrús. (LINK)
(2) Die Unión General de Trabajadores (UGT) ist eine 1888 in Barcelona von Pablo Iglesias Posse gegründete spanische Gewerkschaft ursprünglich marxistischer Prägung. Während der 2. Republik besaß die UGT einen starken politischen Einfluss, insbesondere in Madrid. Sie war von Anfang an eng mit der 1879 ebenfalls von Pablo Iglesias ins Leben gerufenen Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) verzahnt. Mitglieder der UGT, sowie der ebenfalls sehr starken anarchistisch orientierten Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) wurden während des Krieges von 1936-1939 sowie vom Franco-Regime gnadenlos verfolgt, gefoltert, hingerichtet. Alle Gewerkschaften waren während der knapp 40-jährigen Diktatur verboten. (LINK)
(3) Für Gott und Vaterland - Einer der Slogans, der die Ideologie des Franquismus verdeutlichte. Der Franquismus hatte verschiedene Komponenten (Falange, Traditionalismus, Nationalkatholizismus, Militarismus, Oligarchie, Nationalgewerkschaft). Die Symbole waren praktisch omnipräsent und wurden bei ihren Volksmobilisierungen für die falangistische Ideologie benutzt.
(4) Navarra 1936: De la esperanza al terror. Neue aktualisierte Auflage, Dezember 2018, Verlag Txalaparta, Tafalla-Navarra
(5) Erschießungen wurden in der Regel außerhalb der Gemeindegrenzen und oftmals in der Nachbarprovinz vorgenommen, um bewusst die Nachforschungen der Familie zu erschweren und administrative Hindernisse zu setzen. Diese Personen wurden im Gemeinderegister somit (fast) nie als tot registriert und gelten bis heute als verschollen.
(6) “Francos immenses Vermögen – Mit Mord und Enteignung reich geworden“, Artikel bei Baskultur.info (LINK)
(7) Salvador Puig i Antich (1948-1974, Barcelona) war ein katalanischer Anarchist. Sein Vater Joaquim Puig floh 1939 nach Frankreich, wurde dort im Internierungslager von Argelès-sur-Mer festgehalten, kehrte jedoch nach Spanien zurück und wurde dort zum Tode verurteilt. Er kam in Kontakt mit der MIL – Movimiento Ibérico de Liberación (Iberische Befreiungsbewegung). Beeindruckt von den Ereignissen des Mai 68 in Frankreich entschloss er sich, am Kampf gegen das Regime Francos teilzunehmen. Seine politische Aktivität begann bei der Gewerkschaftsbewegung Comisiones Obreras, seine Ansichten wandten sich rasch anarchistischen Ideen zu, die Hierarchien und Bevormundung in Gewerkschafts- und politischen Organisationen beim politischen Kampf um die Gleichberechtigung der Arbeiterklasse ablehnten. 1974 wurde er von der franquistischen Polizei gefasst und mit der Garrotte hingerichtet.
(8) Garrotte: wird auch Halseisen, Würgeisen oder Würgschraube genannt, es handelt sich um eine Vorrichtung, bei der der Verurteilte an einen Holzpfahl gefesselt wird. Von hinten wird ihm eine Metallschraube ins Genick gedreht, der schmerzvolle Tod tritt durch Ersticken ein.
(9) Artikel “Amnestiebewegung 1977 – Das erfolgreiche Ende des Franquismus“ (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Carmen García (publico)
(2) Enteignet (muyhistoria)
(3) Gefangen (elpais)
(4) Im KZ (vanguardia)
(5) Auf der Flucht (cadena ser)