dubuffet1Rohe Kunst im Titanbau

“Jean Dubuffet und die Schönheit des Gewöhnlichen“ ist seit Ende Februar im Guggenheim-Museum Bilbao zu sehen. Die Ausstellung zeigt den Kampf des Künstlers gegen die Vorherrschaft der Kunst-Akademiker und gegen die Vorstellung von Kunst als Übernatürlichem. Dubuffet entwickelte ein Konzept der “Rohen Kunst“, abseits der bestehenden ästhetischen Ideale. Rohe Kunst bedeutete neue Darstellungsformen, naiv, aus verschmähten Stoffen, eine Provokation im damaligen Status Quo. “Inbrünstiges Feiern“.

Jean Philippe Arthur Dubuffet (1901 - 1985) war ein französischer Maler, Bildhauer, Collage- und Aktionskünstler. Er zählt zu den prominentesten Vertretern der französischen Nachkriegskunst. Dubuffet war zudem ein einflussreicher Kunst-Schriftsteller, er hat den Begriff “Art brut“ geprägt (Rohe Kunst).

Im Alter von 17 Jahren trat Jean Dubuffet 1918in die renommierte Académie Julian in Paris ein, schloss sein Kunststudium jedoch nicht ab. Obwohl er mit Avantgarde-Künstlern wie Raoul Dufy, Juan Gris und Fernand Léger in Verbindung stand, war er der Meinung, dass seine Ideen sich noch nicht vom Konzept der sublimierten Schönheit und von der Betrachtung der Kunst als etwas Übergeordnetem befreit hatten. Wie sollte er dieses Konzept ändern, um die Schönheit des Natürlichen und Gewöhnlichen hervorzuheben? (1)

dubuffet2Die Ausstellung in Bilbao beantwortet diese Frage unter dem Titel "Jean Dubuffet: Ferviente celebración“ (JB: Inbrünstiges Feiern). Sie beginnt mit einer merkwürdigen Landschaft: statt Bäumen, Wolken und Bergen nur braune Erde mit Steinen und anderen Elementen. Der Künstler gab dem Werk den paradoxen Titel "Hügel der Visionen". Der Kurator der Ausstellung, David Max Horowitz, erklärt warum: "Es ist eine Provokation gegenüber der Wahrnehmung und dem Konzept der schönen Landschaft, eine Metapher für den Untergrund der Erinnerung".

Die Mehrheit der ausgestellten Werke stammen aus dem Guggenheim in New York, einige aus der Peggy Guggenheim Collection in Venedig. Dubuffet unterhielt eine enge Beziehung zum New Yorker Museum, die sich in mehreren Ausstellungen und zahlreichen Ankäufen niederschlug. In Bilbao stand der Werdegang des Künstlers zwischen Ende 2003 und Anfang 2004 im Mittelpunkt der Ausstellung "La huella de una aventura" (Spur eines Abenteuers). (1)

Biografie

Dubuffet wurde als Sohn einer großbürgerlichen Familie von Weingroßhändlern in Le Havre geboren. Als Schüler belegte er 1916 Abendkurse im Zeichnen an der École des Beaux-Arts in Le Havre. Nach dem Abitur 1918 ging er nach Paris, um Literatur, Sprache und Musik zu studieren. In den zwanziger Jahren malte er im Umkreis der Pariser Surrealisten gegenständliche Kompositionen, gab die Kunst aber bald auf. Nach langer Schaffenspause, in der er als Weinhändler arbeitete, begann er 1942 erneut mit naiven Gemälden. Seine erste Einzelausstellung fand 1944 in einer Pariser Galerie statt. In der Nachkriegszeit erregte er mit seinen “primitiven“ Materialbildern einen Skandal, erlangte aber bald internationale Bekanntheit, insbesondere in den USA. Dort stellte er in der Galerie Pierre Matisse in New York bereits 1947 aus. Dubuffet entwickelte das Konzept einer anti-intellektuellen Kunst, die er als “Art brut“ bezeichnete. Das verteidigte er auch kunsttheoretisch in Texten und Vorträgen. 1949 veröffentlichte er sein Manifest “L'Art brut préféré aux arts culturels“ (Der Vorzug Roher Kunst vor Kulturkunst). (2)

“Art brut“ (frz, rohe Kunst) ist ein Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern, Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder Behinderung und von gesellschaftlichen Außenseitern, etwa Insassen von Gefängnissen, aber auch gesellschaftlich Unangepassten. Die Bezeichnung war das Ergebnis von Dubuffets eingehender Beschäftigung mit einer naiven und anti-akademischen Ästhetik. “Art brut“ ist sozusagen Kunst im Rohzustand, jenseits etablierter Formen und Strömungen. (3)

dubuffet3Seine frühen Gemälde sind vom Bildvokabular von Kindern, Naiven und Geisteskranken inspiriert, die für ihn die Künstler der “Art brut“ sind. Angeregt durch die Graffiti-Fotografien von Brassaï setzte sich Dubuffet mit dem Thema Mauer und den darin eingeritzten Graffitis auseinander. Dabei war ihm der “körperlich-materielle Herstellungsvorgang“ der Wand und der Graffitis wichtig. Deshalb versuchte er den Entstehungsprozess der Mauer auf der Leinwand nachzuempfinden, indem er viele Farbschichten dick auftrug und ihnen Zeit zum Reagieren gab. Graffiti vollzog er technisch als Einritzungen in die Ölfarbe auf der Leinwand nach, so verband er Trivial- mit Hochkunst, woraus sich eine positive Neubewertung von Graffiti ergibt, die viele Parallelen mit der “Art brut“ aufweisen. (2)

Dubuffet experimentierte parallel intensiv mit Druckgrafik: Holzschnitt (Ler dla campane, 1948) und Lithografie (Les murs, 1945). Herausragend ist sein umfangreicher Zyklus “Les Phénomènes“ (1958/1959). Nach 1962 entwickelte Dubuffet seine Serie “Hourloupe“, zellenartige Strukturen, die sich auf die Farben Rot, Weiß, Schwarz und Blau beschränken. Ende der 1960er Jahre übertrug er die grafischen Elemente der “Hourloupe-Serie“ in die Skulptur. Es entstanden bemalte felsartige Gebilde aus Polyester, großformatige Freiplastiken und teilweise begehbare Labyrinthe wie “Jardin d’Email“ (1972/1973) im Kröller-Müller Museum im niederländischen Otterlo. Im Jahr 1959 war Jean Dubuffet Teilnehmer der Documenta 2. Auch an den Documenta-Ausgaben 3 (1964) und 4 (1968) in Kassel nahm er teil. (2)

“Unwürdige" Materialien

Unter dem Titel "Jean Dubuffet. Ferviente Celebracion" (Inbrünstiges Feiern) ist die Vision des Künstlers, die das Guggenheim-Museum nun präsentiert, die eines Schöpfers, der die Vitalität der Kunst feiert, die außerhalb institutioneller Kanäle entstand und die mit "unedlen" Materialien, außerhalb der Norm, hergestellt wurde. Kalk, Sand und Zement, mit Ölfarbe bestrichen, ermöglichten es ihm, "auf physisch betonte Art zu arbeiten und eine Alchemie zwischen den Materialien zu schaffen", so Horowitz. Manchmal ähneln die Oberflächen der Gemälde den Fassaden von Gebäuden, eine weitere Einladung, die im Alltäglichen verborgene Schönheit zu entdecken. Dubuffet fügte gefundene Gegenstände wie Steine, Seile und Alufolie in sein Werk. In der Ausstellung sind mehrere Beispiele dieser Werkreihe zu sehen. Spätere Künstler wie Anselm Kiefer und Miquel Barceló, und Informalisten wie Tàpies haben in ihrer Malerei ähnliche Verfahren angewandt. (1)

Beginn der Künstler-Karriere

Dubuffets Karriere kam in Schwung, als er 1947 das vom Vater geerbte Weingeschäft verkaufte, mit dem er bis dahin seine Zeit verbracht hatte. Mit dem Geld aus dem Verkauf konnte er sich seiner Berufung widmen. In den frühen 1950er Jahren stellte er das Modell der weiblichen Schönheit mit den expressionistischen Strichen seiner Serie "Frauenkörper" in Frage. "Er kritisierte Idealisierungen des Körpers und vermittelte mit seinen Porträts die Botschaft, dass Menschen schöner sind, als sie glauben" (Horowitz). (1)

Weil "der Künstler nicht Dubuffet sein wollte, der Dubuffets macht", so Horowitz weiter, änderte er seine Arbeitsweise, um sich neuen Herausforderungen zu stellen. Daraus entstanden seine Radierungen, von denen 54 aus einer Sammlung von mehr als 300 Exemplaren ausgestellt sind, sowie die Serie "Hourloupe", die leicht an den ineinander verschlungenen Zellmustern mit parallelen Farbstreifen zu erkennen ist. Durch die aufeinander folgenden, ähnlichen aber niemals gleichen Figuren komponierte er "ausgedehnte" Wandbilder, die beliebig erweitert werden können, ohne den Gehalt der Komposition zu stören. Darin sind Gesichter versteckt, um zur Wahrnehmung anzuregen. Eines dieser Werke trägt den Titel "Coucou bazar", ein "visuelles Spektakel", so Horowitz, begleitet von einer Skulptur auf Rädern, die vor dem Werk steht, um dessen spektakulären Charakter durch Bewegung zu verstärken. (1)

dubuffet4Mit “Coucou Bazar“ schuf Dubuffet 1972 ein Gesamtkunstwerk aus Malerei, Skulptur, Theater, Tanz und Musik. Dabei agieren mehrere kostümierte Figuren miteinander ebenso wie mit den Bühnenelementen. Dieses Spektakel wurde nur dreimal aufgeführt: 1973 in New York und Paris sowie 1978 in Turin. Die letzte Inszenierung wurde in einem Film festgehalten. “Coucou Bazar“ kann heute aus konservatorischen Gründen jedoch nicht mehr als Ganzes aufgeführt werden. Zwei Kostümfiguren können noch bewegt werden und waren 2016 in der Ausstellung der Fondation Beyeler zu sehen. (2)

Neben seiner Kunst nahm Dubuffet Einfluss über sein Engagement für “Art brut“: die Schöpfungen von Geisteskranken, gesellschaftlichen Außenseitern und Sonderlingen, die er sammelte und förderte. Vor dem Hintergrund dieses Interesses besuchte er auch die umfangreiche Sammlung Hans Prinzhorns von Bildwerken psychisch Kranker in Heidelberg. Dubuffets Art-Brut-Sammlung wird heute in der Collection de l’Art Brut in Lausanne verwahrt. (2)

Kooperations-Vertrag mit New York

Die Ausstellung ist Teil der 2014 erneuerten Vereinbarung des Guggenheim-Bilbao mit der New Yorker Zentrale. Dazu gehört alle zwei Jahre eine Ausstellung mit Werken aus der New Yorker Sammlung (in der Vergangenheit eine Sammlung mit impressionistischer und postimpressionistischer Kunst, zuletzt Kandinsky). Die Ausstellung von Jean Dubuffet ist nach der Eröffnung der “Meisterwerke des Musée d'Art Contemporain de Paris, vom Fauvismus bis zum Surrealismus“ das zweite große Kunst-Ereignis des Jahres, mit dem das Museum in Bilbao sein 25-jähriges Bestehen feiert. (1)

ANMERKUNGEN:

(1) “Dubuffet y la belleza de lo ordinario, en el Guggenheim“ (Dubuffet und die Schönheit des Gewöhnlichen, im Guggenheim) Tageszeitung El Correo, Iñaki Esteban, 2022-02-24 (LINK)

(2) Jean Dubuffet, Wikipedia (LINK)

(3) Art brut: Rohe Kunst. Im anglo-amerikanischen Sprachraum ist auch der Begriff Outsider Art (Außenseiter-Kunst) gebräuchlich, der sich zunehmend auch im deutschen Sprachraum verbreitet. Beide Begriffe sind teilweise umstritten. Wikipedia (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Dubuffet (artmajeur)

(2) Dubuffet (artelista)

(3) Dubuffet (voz galicia)

(4) Dubuffet (FAT)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFI 2022-03-10)

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