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Zum Verwechseln ähnlich!

Eigentlich hätte die Ausstellung „Hyperrealistische Bildhauerei 1973 bis 2016“ im Museum der Schönen Künste von Bilbao bereits am 7. Juni 2016 auf Sendung gehen sollen. Dazwischen kam jedoch ein Streik der Angestellten, die sich gegen die prekären Arbeits-Bedingungen wehren mussten, die ihnen von dem privaten Betreiber-Unternehmen aufgezwungen waren. Nachdem die Streikforderungen erfüllt wurden, konnten die wahrhaft spektatulären Werke des Hyperrealismus der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

„Hyperrealistische Bildhauerei 1973 bis 2016“ ist der Titel der Ausstellung von 34 Werken internationaler Künstlerinnen, die das Museum der Schönen Künste von Bilbao bis zum 16. September zeigt. Organisiert wurde die Ausstellung vom Tübinger Institut für Kulturaustausch, ihre weiteren Stationen werden Mexiko und Kopenhagen sein. „Hyperrealistische Bildhauerei“ (Escultura Hiperrealista) umfasst 34 Werke von 26 Künstlerinnen und Künstlern aus der Zeit zwischen 1973 und heute. Es ist die erste umfassende Darstellung der Kunstrichtung Hyperrealismus seit ihrer Entstehung vor mehr als 50 Jahren. (1 – Museum)

„Der Hyperrealismus, auch Superrealismus, ist eine Kunstrichtung, die Malerei und Skulptur, aber auch Fotografie und Film umfasst. Der Realismus war immer ein wichtiges Element in der Reihe der Stilrichtungen in der Kunst. Der Hyperrealismus ist eine Weiterentwicklung des Realismus und benachbart zur Pop Art. Sein Ideal ist nicht unbedingt eine exakte lebenstreue Nachbildung, wie sie typisch für den Realismus ist, sondern eine fotorealistische Übersteigerung der Wirklichkeit, eine 'überschärfte Realität´. Die Abstraktion wird zurückgewiesen. Wesentliches Element des Hyperrealismus ist der Verzicht auf subjektive Interpretation durch den Künstler. Der Hyperrealismus nutzt Ausdrucksmittel des Fotorealismus, bei dem Bildinhalte mit einer an eine Fotografie erinnernden Detail-Genauigkeit gemalt werden. Während der Fotorealismus durch die brillante, realistische Darstellung vor allem schön sein will, stellt der Hyperrealismus in der Darstellung kühl und profan 'überspitzt verstörender´ Wirklichkeit die Frage nach dem Wesen der Dinge in einen fast schon ironischen, existentialistischen Kontext“. (2 – Wikipedia)
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Vorweg sei angemerkt, dass die Ausstellung zwangsläufig den Eindruck von Voyeurismus erweckt. Irritierend genug ist, dass die Betrachterin in bestimmten Situationen Ausstellungs-Besucher nicht von Kunstobjekten unterscheiden kann, weil beide gleich realistisch sind. Dies gilt jedoch nur für die bekleideten Objekte, bei den nackten ist klar, wer welche Rolle spielt. Genau an diesem Punkt kommt der Voyeurismus ins Spiel, denn mit einer Ausnahme sind es vorwiegend Frauen-Körper, die den Hyperrealismus-Künstlern (in der Mehrheit Männer) zur Veranschaulichung zur Seite stehen. Ältere Männer über 60 mit der Handykamera vor einer entblößten Vagina zu sehen erweckt somit unbedingt den Eindruck von Versachlichung und Voyeurismus. Ein Sachverhalt der einmal mehr deutlich macht, dass Kunst männerdominiert ist und sich mit nackten Frauen-Körpern mehr Effekt erzielen lässt als mit Männer-Figuren.

Hyperrealistische Bildhauerei 1973-2016

Hyperrealistische Bildhauerei begann in den 60er Jahren mit dem Interesse einiger Künstlerinnen, die menschliche Existenz lebendig und originalgetreu darzustellen. Mit traditionellen Techniken wie Nachformen, Gießen und Malerei wurden Körper ungefähr nachgebildet, in der Absicht, in zeitgenössischen Maßstäben eine Interpretation des figürlichen Realismus zu schaffen. „Auch wenn ich der Oberfläche viel Zeit widme, ist mir das Innere doch wichtiger“, so die Worte des australischen Hyperrealisten Ron Mueck. In fünf Abteilungen enthüllt die Ausstellung die verschiedenen Techniken, den menschlichen Körper darzustellen: Menschliche Nachbildungen (Réplicas humanas), Einfarbige Skulpturen (Esculturas monocromas), Körperteile (Partes del cuerpo), Spiel mit den Dimensionen (El juego de las dimensiones) und Deformierte Wirklichkeiten (Realidades deformadas). Die ausgestellten Werke überraschen die Besucherin in jedem Fall durch ihre überzeugende Ähnlichkeit mit der Realität. Klar wird, mit welch unterschiedlichen Techniken es gelingen kann, die künstlerische Aufgabe der Darstellungen von Körpern umzusetzen. Zum Vorschein kommen die verschiedenen Ausdrucksformen der Kunstgeschichte und ihre technische Entwicklung, von den Anfängen der Hyperrealismus-Bewegung bis zur digitalen Epoche.hiper3

Die Ausstellung umfasst die meisten der maßgeblichen Bildhauerinnen und Bildhauer des Hyperrealismus, angefangen bei den nordamerikanischen Pionieren George Segal, Duane Hanson und John DeAndrea. Die Liste der Bewegung geht weiter mit dem Spanier Juan Muñoz, dem Italiener Maurizio Cattelan, der Belgierin Berlinde de Bruyckere, den Australierinnen Ron Mueck, Sam Jinks und Patricia Piccinini oder dem Kanadier Evan Penny. Deutlich wird der internationale Charakter des Hyperrealismus und auch seine Aktualität: zum ersten Mal ist das Werk „Lisa“ von John DeAndrea öffentlich ausgestellt, erst vor Kurzem wurde es fertig gestellt. Für diese globale Ansicht hat das Institut für Kulturaustausch in Tübingen – mit dem das Museum der Schönen Künste Bilbao bereits 2014 in der erfolgreichen Ausstellung zum Thema Hyperrealistische Malerei zusammengearbeitet hat – zahlreiche Leihgaben aus aller Welt erhalten, so der Ausstellungs-Kommissar Otto Letze. Im Folgenden die verschiedenen Abteilungen der Ausstellung …

1. Menschliche Abbildungen

In den 60er Jahren fertigten Duane Hanson und John DeAndrea Skulpturen an, die den Eindruck machen, als wären sie Menschen aus Fleisch und Blut. Dafür benutzten sie neuartige Materialien, der Arbeitsprozess war aufwendig. Die Wirklichkeitsnähe dieser Werke ruft in der Betrachtung der Besucherinnen die Illusion von Echtheit wach, die Zuschauerinnen können den Eindruck haben, vor einem Spiegel der Realität zu stehen. Bestes Beispiel ist das vielleicht unspektakulärste Werk der ganzen Ausstellung: Eine junge Frau, die, ihr Gesicht verbergend, an der Wand steht, als wolle sie nicht weiter zuschauen, als ziehe sie sich gerade den Pullover vom Kopf oder zähle vor dem Suchspiel von zwanzig abwärts. Der Einfluss dieser beiden genannten Künstlerinnen war entscheidend für die Entwicklung der Bildhauerei in den vergangenen 50 Jahren. Wichtige Vertreter: Duane Hanson (USA 1925 - 1996), John DeAndrea (USA, 1941), Daniel Firman (Frankreich, 1966), Paul McCarthy (USA, 1945).
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2. Esculturas monocromas

Nach der Vorherrschaft des Abstrakten lenkte Ende der 50er Jahre George Segal mit seinen einfarbigen Skulpturen die Aufmerksamkeit auf die Darstellung der menschlichen Figur. Dies beeinflusste nachfolgende Kunst-Generationen, wirklichkeitsnahe Skulpturen anzufertigen. Die Abwesenheit von Farben in seinen Werken reduziert zwar den Realitäts-Effekt. Demgegenüber wird die Anonymität der Figur herausgehoben, sowie die ästhetischen Qualitäten der Körper. Künstler wie Keith Edmier oder Juan Muñoz nutzten diese Aspekte zur Formulierung von Fragen zur Natur der Menschen. Protagonisten: George Segal (USA, 1924 - 2000), Juan Muñoz (Spanien, 1953 - 2001), Keith Edmier (USA, 1967), Xavier Veilhan (Frankreich, 1963), Brian Booth Craig (USA, 1968).
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3. Körperteile

In den 90er Jahren begannen viele Künstlerinnen, dem Hyperrealismus-Effekt neue Formen zu geben. Anstatt eine Illusion von Körpern zu schaffen, konzentrierten sie sich auf einzelne Teile des menschlichen Körpers. Diese wurden als irritierende und störende Botschaften benutzt, mitunter aber auch humorvoll. In den Werken von Robert Gober oder Maurizio Cattelan erscheinen Arme und Beine unabhängig vom Körper an der Wand, um Assoziationen zur Kindheit oder der zeitgenössischen Geschichte hervorzurufen. Ein Vorreiter dieser Tendenz war der Brite John Davies, dessen Köpfe in Originalformat scheinbar Verbindungen herstellen zu archäologischen Fragmenten alter Skulpturen. Repräsentativ für diese Ausdrucksform: John Davies (Großbritannien, 1946), Carole A. Feuerman (USA, 1945), Robert Gober (USA, 1954), Jamie Salmon (London, 1971), Maurizio Cattelan (Italien, 1960), Peter Land (Dänemark, 1966).
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4. Spiel mit den Dimensionen

In den 90er Jahren revolutionierte Ron Mueck die figurative Skulptur mit ungewöhnlichen Formaten, indem er die Größe der Figuren drastisch vergrößerte oder verkleinerte, so lenkte er die Aufmerksamkeit auf existenzielle Themen wie Geburt, Tod, Zerbrechlichkeit des Lebens und zeigte das menschliche Wesen aus einer neuen Perspektive. Folgende Künstler zählen zu dieser Gruppe: Ron Mueck (Melbourne, Australien, 1958), Sam Jinks (Australien, 1973), Zharko Basheski (Mazedonien, 1957), Marc Sijan (Serbien, 1946).
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5. Deformierte Wirklichkeiten

Wissenschaftliche und technische Fortschritte haben in den vergangenen Dekaden zu einer grundsätzlichen Veränderung in der Wahrnehmung und dem Verständnis der Wirklichkeit geführt. Künstlerinnen wie Evan Penny oder Patricia Piccinini sehen Körper mittlerweile aus der Perspektive von Verzerrung. Tony Matelli lässt sogar die Gesetze der Schwerkraft außer acht, und Berlinde de Bruyckere stellt mit ihren verdehten Körpern den Tod und die menschliche Existenz in Frage. Mit deformierten Wirklichkeiten haben gearbeitet: Evan Penny (Südafrika, 1953), Berlinde de Bruyckere (Belgien, 1964), Tony Matelli (Chicago, 1971), Mel Ramos (Kalifornien, 1935), Patricia Piccinini (Sierra Leone, 1965), Allen Jones (Großbritannien, 1937).
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ANMERKUNGEN:

(1) Museum der Schönen Künste Bilbao (Bilboko Arte Ederren Museoa / Museo de Bellas Artes Bilbao) (Link)

(2) Hyperrealismus (Wikipedia)

FOTOS:

(*) Fotos der Ausstellung „Hyperrealistische Bildhauerei 1973 bis 2016“, Museum der Schönen Künste Bilbao (Foto Archiv Txeng – FAT)

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