Vom Wesen des modernen Tourismus
Seit es Menschen auf der Erde gibt, war Reisen eine Notwendigkeit. Immer galt es zu entdecken, was sich hinter dem Horizont verbirgt, entweder um neue Lebensorte zu finden oder neue Welten zu erleben. Letztendlich ist das ganze Leben eine Reise, ein Weg, von dem wir oft nicht wissen, was sich hinter der nächsten Kurve verbirgt. Wie schon vor 500 Jahren ist das Reisen jedoch denen vorbehalten, entweder die Mittel haben oder ausreichend Abenteuerlust. Statt Peru wird heute Bilbo bereist und kolonisiert.
Der moderne Tourismus zeichnet sich nicht mehr durch Neugier und Verstehen aus, sondern durch oberflächliche Schnelleindrücke, die auf Fotografien festgehalten werden: im Zeitraffer über die Erde. Dabei wird die Gegenwart der Besuchsziele beschädigt und die Zukunft des Planeten in Frage gestellt.
Das Phänomen des Massentourismus stammt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die einfachen Leute fuhren vorher nicht in Urlaub, man besuchte Familienangehörige in anderen Regionen oder in seinen Ursprungsort, Touristen konnten an einer Hand gezählt werden. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden von Wohlhabenden romantische oder diplomatische Reisen gemacht, oder solche, um Völker und Landschaften zu studieren und Bücher zu schreiben. Erinnern wir uns, mit welcher Begeisterung Wissenschaftler und Literaten wie Wilhelm Humboldt, Louis Lucien Bonaparte oder Kurt Tucholsky aus Frankreich, Deutschland oder England ins Baskenland kamen. Die Grenze zu überqueren, bedeutete für sie den Eintritt in eine imaginäre, andere und exotische Welt.
Romantiker
Wir müssen nur ihre damaligen Texte lesen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie erstaunt und verzaubert sie waren von jedem sorgfältig zurückgelegten Kilometer. Landschaften, Wege, Herbergen, Gebräuche, alles wurde studiert, bewundert und schriftlich festgehalten, Fotokameras waren damals noch rar. Es handelte sich um Entdecker einer unbekannten Welt, in ihrer großen Mehrheit Männer. Nachzulesen sind solche Zeugnisse bei Richard Ford, T. Gautier, Ticknor, Washington Irving, Alexandre Dumas, Victor Hugo, Christian Andersen, Kurt Tucholsky, Gerald Brenan und Jean-Charles Davillier oder Gustavo Doré. In damaligen Zeiten gehörten die Strände den Fischern. Heute ist uns die ganze Welt zu klein geworden.
Jene Männer aus vergangenen Jahrhunderten waren Reisende, Beobachter und Entdecker von neuen Realitäten, Lichtjahre entfernt von der Realität, die den Tourismus heute im Allgemeinen prägt. Die modernen Tourist*innen bewegen sich schnell, sie machen Tausende von Fotografien, die in irgendwelchen Verzeichnissen für die Ewigkeit abgelegt werden: in Gasteiz (Vitoria) von der alten Kathedrale und dem Virgen-Blanca-Monument; in Donostia (San Sebastian) vom Rathaus, dem Kursaal und dem Concha-Strand; in Bilbo (Bilbao) vom Titan-Museum und der hübschen Altstadt. Dazu auf jeder Brücke und im Gemüsemarkt ein Selfie. Wie die Bienen von Blüte zu Blüte fliegen sie von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit: 15 Minuten Gaztelugatxe, dreißig Minuten Weinmuseum, eine halbe Stunde Salzterrassen Gesaltza. Sie dringen überall ein: in die Altstädte, in die Fischmärkte, bis die Einheimischen diese Orte zu meiden beginnen. Doch moderne Tourist*innen beobachten und analysieren nicht, sie integrieren sich nicht ins Ambiente, sprechen nicht mit den Menschen, die sie vorfinden. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass der exzessive Tourismus den Tourismus töten kann, und es in einigen Fällen bereits getan hat.
Over-Tourismus
In bestimmten Momenten ist Venedig (wie auch die Altstadt von Donostia) unbegehbar, wegen der Tausenden von Tourist*innen, die auf Invasionstour sind. An manchen Tagen kommen in Barcelona so viele Fähren an, dass die Einwohner*innen aus der Stadt fliehen, um Luft holen zu können. Die große Chinesische Mauer kann nicht besucht werden, weil sie voll ist von … Chinesinnen und noch mehr Chinesen. In Granada gibt es Tage, an denen derart viele Leute in die Alhambra drängen, dass deren maurischer Duft nicht mehr zu spüren ist. Ganz ähnlich in Dutzenden von anderen Orten, in denen die vielen kleinen Miniläden mit allen Arten von Souvenirs Made in China den Eindruck vermitteln, dass sie beim Reisen die Hauptsache sind und dass der eigentliche Charakter des Ortes (das Wesentliche) untergeht. So sieht der Massentourismus unserer Zeiten aus. Wo bleibt das Vergnügen, entspannt spazieren gehen zu können, ohne Eile, ohne Rempeleien, ohne Angst vor Taschendieben, mit dem Duft der traditionellen Küche in der Nase?
Nostalgie
Als Kind einer armen Arbeiterfamilie, war in den 1960er Jahren eine Woche im Zelt, auf einem Campingplatz keine 100 Kilometer entfernt, das höchste der Gefühle. Gleichzeitig musste ich beobachten, dass die reichen Verwandten aus Kanada in nur vier Wochen zwanzig europäische Hauptstädte besuchten. Um eine Vorstellung von der Route zu bekommen, nahm ich den Schulatlas zur Hand und war erstaunt. Viele Jahre später fand ich einen Begriff dafür: amerikanischer Tourismus. Nach Jahren habe ich Orte wieder besucht, an denen ich vor vielen Jahren gewesen war, als sie noch den Zauber des Originellen hatten. Die Jahre sind nicht spurlos vorbeigegangen, die Änderungen schlugen alle ins Negative um.
Ein Beispiel. Als ich zum ersten Mal den kantabrischen Ort Santillana del Mar besuchte, war ich fasziniert. Ein elegantes Dorf, mit Duft und adligem Charme, von echter Schönheit, in dem die Kühe auf der Straße zur Tränke trotteten und ihre duftenden Markenzeichen hinterließen ... Heute ist der Weg zur Tränke versperrt. Läden voller Krempel für die Tourist*innen prägen das Bild, der Geruch nach Feuerholz ist verflogen, der von frischen Kuhfladen ebenfalls. Die ursprüngliche Schönheit des Ortes ist geblieben, aber sie wurde derart domestiziert, dass sie wie ein Plagiat erscheint, wie ein Disneyland, sie wurde so sehr aufbereitet, um besucht und vermarktet zu werden, sie wurde derart poliert und geleckt, dass dieser Schönheit jegliche Authentizität verloren ging.
Dasselbe kann von unvergleichlichen Städten wie Rom, Paris, Istanbul, Madrid, den ägyptischen Pyramiden, Macchu Picchu und anderen Schlupfwinkeln der Erde berichtet werden, die ihren Geist durch massiven Tourismus und die Entwicklung von Geschäften und Handel verloren haben und deren Originalität sich in einem allumfassenden Konsumismus verflüchtigt hat. Doch scheinbar ist alles verloren, es sind die Zeichen der Zeit, die Zeichen der endlosen Globalisierung. Das amerikanische Modell hat die Welt erobert.
Globalisiert
Globalisierung bedeutet nicht nur die Möglichkeit, in wenigen Stunden das andere Ende der Erde erreichen zu können. Sie bedeutet auch eine Nivellierung der Kulturen und der Geschäftswelt. Um nicht zu sehr zu erschrecken, dürfen die vorgefundenen Kulturen nicht zu extrem wirken, sie müssen gezähmt vorgeführt werden. Ballermänner bevorzugen Sauerkraut und Saiten anstatt traditioneller mallorquinischer Küche. Das Geschäfts- und Konsum-Modell derer, die sich die Reisen leisten können, überlagert den Alltag im Besuchsort und verändert ihn. Nachhaltig. Wo vorgestern noch handgemachtes Fladenbrot aus Mais gebacken wurde, werden übermorgen Pommes Frites und Pizza in einer europäischen Ladenkette verkauft. Mallorca erscheint mehr Deutschland als die nordfriesische Küste. Die design-verfälschte Gaztelugatxe-Insel wird ihrer Geschichte beraubt und zu einem fantastischen Thron-Spiel irgendwo im Land der Illusionen gemacht – ein Selfie-Schnappschuss, und sie gehört dir. Dabei habe ich sie als Kind auf den Sonntags-Nachmittags-Ausflügen so geliebt. (Olatz)
ABBILDUNGEN:
(1) Kreuzfahrt Bilbo (elcorreo)
(2) Salzterrassen (eitb)
(3) Pirateninsel (saltaconmigo)
(4) Weinmuseum (euskadi)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-08-16)