Der stagnierende Friedensprozess
Im Gefängnis eingesperrte Mütter können ihre Kinder bei sich behalten bis zum Alter von drei Jahren. Dann werden sie der Familie übergeben und können nur noch monatliche Besuche machen. Wenn sich das Gefängnis 800 Kilometer vom Wohnort der Familie befindet, bedeutet dies entsprechend lange Reisen und enorme Kosten. Seit 30 Jahren wird dieses Prinzip der Haftverbüßung im spanischen Staat praktiziert. Gegen baskische Gefangene. Es ist eine Strafe für die Angehörigen und Freundinnen. Zwei Beispiele.
“Dispersión“ ist der Begriff für die Zerstreuung der baskischen politischen Gefangenen auf Gefängnisse im ganzen Staat, bevorzugt in Galicien, Murcia, Valencia oder Andalusien. Möglichst weit entfernt. Sechzehn Familienmitglieder kamen auf diesen langen Besuchsreisen bei Unfällen bereits ums Leben. Für die Familien bedeutet es einen kaum vorstellbaren psychischen Stress. Besonders für die beteiligten Kinder. Rucksack-Kinder.
Irati ist weit weg
Im Baskenland gibt es 87 “Rucksack-Kinder”. Was ist darunter zu verstehen? Gemeint sind Kinder von baskischen politischen Gefangenen, die weit entfernt vom Baskenland eingespererrt sind. Sowohl im französischen wie im spanischen Staat. Wenn die kleine Irati am kommenden 8. März (2021) drei Jahre alt wird, muss sie das Gefängnis von Aranjuez verlassen und fortan mit ihren Großeltern in Bilbao leben. Um ihre Eltern im Knast zu sehen, wird sie dann hunderte von Kilometern reisen müssen, ein Mal im Monat. Denn sowohl die Mutter wie der Vater sind eingesperrt. (1)
Eztizen Artola und Pili Caballero liegen altersmäßig 48 Jahre auseinander. Doch sie teilen eine gemeinsame Erfahrung. Die eine als Tochter eines Ex-Gefangenen und die andere als Großmutter einer Enkelin, deren Mutter (ihre Tochter) wie Vater eine Strafe in Aranjuez verbüssen, südlich von Madrid gelegen, 456 Auto-Kilometer von Bilbao entfernt.
Pili Caballero ist 68 Jahre alt, ihre Tochter ist politische Gefangene. Deren Tochter, Irati, ist zweieinhalb Jahre alt. Iratis Lebensalltag ist zweigeteilt. Drei Wochen verbringt sie mit ihrer Mutter im geschlechter-gemischten Trakt von Aranjuez. Danach eine Woche mit ihren Großeltern in einem gemieteten Bungalow, auf einem in Gefängnisnähe gelegenen Campingplatz.
Ende des Doppellebens
Wenn Irati am 8. März drei Jahre alt wird, geht dieses Doppelleben zu Ende. Denn dann wird sie bei ihren Großeltern in Bilbao leben. Ihre Mutter wird von Aranjuez in ein anderes Frauen-Gefängnis gebracht werden, ihr Vater in ein anderes Männer-Gefängnis. Niemand weiß wohin und wie weit diese Knäste von Bilbao entfernt sein werden. Die kleine Irati wird in Freiheit leben, aber ihr kindliches Gemüt wird belastet sein von einer Strafe, die der spanische Staat ihr mit seiner Zerstreuungs-Politik auferlegt.
Zerstreuung bedeutet, dass baskische politische Gefangene ihre Strafen weit entfernt von zu Hause verbüssen müssen, bis zu 1.000 Kilometer entfernt. Der dafür benutzte Begriff ist “Dispersion“, Zerstreuung, eine Gefängnis-Politik, die nicht die Gefangenen bestraft, sondern die Familien, das Umfeld. Und die Kinder. Irati wird unter diesen Umständen zwischen 800 und 2.000 Kilometer zurücklegen müssen, um als Familienangehörige einen Besuch mit Körperkontakt mit einem ihrer Elternteile zu absolvieren.
Rucksack-Kinder
Eztizen Artola ist zwanzig Jahre alt und hat vieles von dem, was Irati bevorsteht, bereits hinter sich. Ihr Vater war eingesperrt bis sie dreizehn Jahre alt war. Eztizen ist eine fröhliche und energische Person. Sie erklärt, dass sie regelmäßig zum Psychologen geht, um am Umgang mit ihren Emotionen zu arbeiten. Vor Jahren spürte sie in sich eine schwere Last. Im Jargon der Angehörigen der baskische Gefangenen wird deren Nachwuchs “Rucksack-Kinder“ genannt, weil sie jahrelang mit Koffer und Reisetaschen unterwegs sein müssen, um ihre Eltern zu sehen.
Derzeit (Dezember 2020) gibt es 87 solcher Rucksack-Kinder. Vier davon leben noch mit ihren Müttern in Gefängnissen, in Aranjuez und Picassent. Wenn sie ihren dritten Geburtstag feiern, müssen die Kinder die Strafanstalten (und ihre Mütter) verlassen. Dann fängt die Kilometer-Fresserei an. Sie oder ihre Bezugspersonen müssen irgendwann entscheiden zwischen “Park und Straße oder Koffer und Autobahn“, fasst Eztizen zusammen.
Keines der 87 Kinder kann seine Väter oder Mütter in baskischen Gefängnissen besuchen. Nach der Erklärung der Friedens-Konferenz von Aiete am 20. Oktober 2011 erklärte die Untergrund-Organisation ETA das Ende ihrer bewaffneten Aktionen. Das ist neun Jahre her. Am 3. Mai 2018 löste sich die Organisation auf.
Gemeinsame Erfahrungen
Pili und Eztizen sind Freundinnen geworden. Pili sieht in Eztizen “eine große Hilfe“ auch wenn “sie fast noch ein Mädchen ist“, Eztizen hat erkannt, dass Pili einen Panzer um sich aufgebaut hat und empfiehlt ihr, den wieder abzunehmen. “Das macht keinen Sinn“, sagt sie mit ihrer gesammelten Erfahrung aus Kindheit und Jugend.
Auch Pili hat beschlossen, zur Psychologin zu gehen. Es macht ihr Angst, dass sie Irati eines Tages erzählen muss, dass ihre Mutter nicht “arbeiten geht“, sondern dass sie eine Gefangene ist. Und dass sie deshalb hunderte von Kilometern zurücklegen muss, um sie einmal im Monat zu sehen: “Solange der Körper es aushält“. Seit neun Jahren gehört dies zu Pilis Alltag. Soto del Real (nördlich von Madrid), Jaén (zwischen Cordoba und Granada), Córdoba, Aranjuez (südlich von Madrid) seit das Kind geboren wurde. “Das zehrt an deiner Gesundheit, es ist eine dauernde Spannung, Frustration, Wut und Traurigkeit. Das sind sehr widersprüchliche Gefühle“, beschreibt sie. Das Wort Folter liegt in der Luft.
Das Leben ist keine Fernseh-Serie, obwohl – wer hat “Patria“ nicht gesehen? (2) Pili erkennt sich in der im Film dargestellten stereotypisierten Mutter nicht wieder. Aber sie ist Mutter: “Meine Tochter weiß, dass sie immer auf mich zählen kann.“ Zum Besuch fahren, auf die kleine Irati aufpassen, sich um beide kümmern. Zur entfernten Unterbringung der Gefangenen (dispersión) sagt sie: “Es hat eben gerade mich erwischt, das ist wie ein Lotterie-Spiel, bei dem niemand gefragt wird.“
Traumatisch
Als sie klein war, wurde Eztizen ebenfalls erzählt, dass ihr Vater wegen Arbeit weit weg sei. Eines Tages wurde klar, dass das nicht stimmt. Kinder steuern auf die Wahrheit zu. Der Knackpunkt war in ihrem Fall der erste Besuch mit Trennscheibe und Gittern. Eztizen war gerade zehn Jahre alt geworden. Von diesem Alter an dürfen Kinder keine Kontaktbesuche mehr machen bei ihren Eltern. Um die wenige Zeit mit ihrem Vater zu kompensieren, bat sie ihre Mutter um einen Besuch mit Scheibe und Gittern. Vierzig Minuten lang nahm sie sich zusammen, erzählte ihrem Vater Geschichten aus der Schule, doch zu ihrer Mutter sagte sie: nie wieder. “Das war traumatisch“, fasst sie zusammen.
“Von Kindheit an fühlte ich mich verlassen und frustriert, ich musste über Dinge entscheiden, die für mich eine Nummer zu groß waren. Mein Vater war weit weg, ich verstand nicht, was Dispersión bedeutete und die Situation führte dazu, dass ich meinen Vater ablehnte“, erzählt sie. Ihr Vater war im Gefängnis bis sie 13 Jahre alt war. Kein Kind von normalen Gefangenen muss eine solche Situation durchmachen, normal ist, dass die Strafe in der Nähe des Wohnortes verbüßt wird. “Die Dispersión basiert auf Rache, sie provoziert Hass, Ablehnung und Spaltung in den Familien. Irati ist für nichts verantwortlich. Im März 2021 wird sie damit konfrontiert, dass ihr Vater und ihre Mutter hunderte von Kilometern von ihr entfernt sind. Sie wird nicht einmal verstehen, warum. Das ist unmenschlich und verletzt die Rechte von Kindern“, unterstreicht Eztizen mit einem Anflug unterdrückter Wut.
Aufgestaute Gefühle drängen sie dazu, ihre eigene Geschichte zu erzählen. “Manchmal gerätst du in ein Loch ohne Boden und ohne Licht. Die Situation ändert sich nicht, aber wir müssen uns darin bewegen und erzählen, was passiert. Wenn die Schicksale keine Namen haben, werden sie von der Geschichte entmenschlicht. Das scheint nicht wirklich wahr zu sein, aber Irati ist real.“ Wie auch Eztizen.
Der Journalist Landaburu
Am 15. Mai 2001 erhielt der Journalist Gorka Landaburu in seinem Haus in Zarautz ein Bombenpaket. Nach der Explosion mussten ihm ein Fingerglied an der rechten und vier an der linken Hand amputiert werden, im Gesicht und am Körper hatte er weitere Verletzungen. Die Gefangene Oskarbi Jauregi verbüsst eine Strafe, unter anderem wegen des Attentats gegen Landaburu. Vor einem Monat wurde sie in das Martutene-Gefängnis von Donostia gebracht. Nachdem die Verlegung bekannt wurde, schrieb der Journalist bei Twitter: “Ich freue mich nicht für sie, aber ich freue mich für ihre Familie“. Die Gefängnis-Politik des spanischen Staates gleicht der Situation der politischen Gefangenen: hunderte von Kilometern von der baskischen Gesellschaft entfernt. Es ist schwierig, mit Leuten ein Gespräch zu führen, die diese Politik wünschen und sie verteidigen.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind 30 Gefangene in französischen Knästen und 210 in spanischen. Nur 15 Gefangene verbüßen ihre Strafe in Baskenland (was dennoch erwähnenswert ist, weil es den Bruch mit einem bisherigen Dogma darstellt, alle Verlegungen wurden unter der Regierung Sanchez vorgenommen). Ein paar befinden sich bedingt in Freiheit wegen schwerer Krankheiten, erklärt der Sprecher der Organisation SARE, Joseba Azkarraga telefonisch (Sare = Netz). Er ist auf dem Weg zum Albocàsser-Gefängnis nahe Valencia. In den vergangenen Wochen kam es zu verschiedenen Verlegungen in Gefängnisse, die in der baskischen Nachbarschaft liegen: 17 kamen nach Rioja, 5 nach Kantabrien, Burgos und Soria, weitere fünf Verlegungen sind geplant.
Die Hand der Gerechtigkeit
Etwa 70% der Verlegungen betreffen Gefangene, die drei Viertel ihrer Strafe abgesessen haben. Einige davon haben bereits dreißig Jahre hinter sich – für die Familie bedeutet dies: dreißig Jahre Reisen. Zwischen 70 und 80 Gefangene sind weiterhin in Andalusien, Galicien, Murcia oder der Region Valencia (die entferntesten Orte).
Die politische Laufbahn von Azkarraga begann bei der Baskisch Nationalistischen Partei (PNV-EAJ) während des Franquismus. Nach 1989 ging es weiter mit der sozialdemokratischen PNV-Abspaltung Eusko Elkartasuna (EA – Baskische Solidarität), die den ersten Lehendakari-Ministerpräsidenten des Baskenlandes nach dem Franquismus stellte. Immer hat er politische Wege zur Lösung des spanisch-baskischen Konflikts verteidigt. Er war Kongress-Abgeordneter in Madrid, hatte einen Sitz im baskischen Regional-Parlament und war Justiz-Senator in der Regierung Juan José Ibarretxe. Nun ist er Sprecher von SARE, einem Netzwerk, das die Annäherung der baskischen Gefangenen Richtung Baskenland fordert. Zur Situation von Irati sagt er: “Das Delikt der Eltern ist eine Sache, aber das kann nicht auf dem Rücken der Kleinen und der Familie ausgetragen werden.“
Ein gemischter Trakt in Zaballa
Die Angehörigen und Freund*innen der Gefangenen haben verschiedene Typen von Besuchen, abhängig vom Verwandschaftsgrad. Intime Vis-a-Vis Besuche stehen nur den Beziehungs- oder Ehepartnern zu. Daneben gibt es familiäre Vis-a-Vis Besuche, die 90 Minuten dauern und ein Mal im Monat stattfinden können. Besuche der Lebensgemeinschaft, Mutter, Vater und Kinder, bis zu vier Stunden und ein Mal alle zwei Monate. Und schließlich die Besuche mit Trennscheibe, Gitter und einem schlechten Telefon, für Angehörige und Freund*innen, vierzig Minuten pro Woche, bis zu zwei Personen.
Die Plattform “Irati gurasoekin Euskal Herrira” (Los padres de Irati a Euskal Herria – Irati mit den Eltern ins Baskenland), bei der Eztizen und Pili mitarbeiten und die von bekannten Persönlichkeiten aus der baskischen Kultur unterstützt wird, fordert die Schaffung eines gemischten Trakts im neuen Zaballa-Gefängnis in der baskischen Provinz Araba (Alava). Dorthin sollen Iratis Eltern gebracht werden. Das würde sicherstellen, dass Irati beide jeden Monat sehen kann, nach einer Fahrt von weniger als einer Stunde.
Iratis Eltern
Mutter und Vater von Irati wurden im März 2011 festgenommen und in Präventivhaft gesteckt. Später wurden sie wegen “Terrorismus“ verurteilt: eine Autobombe gegen die Guardia-Civil-Kaserne in Burgos 2009, bei deren Explosion 60 Personen verletzt wurden; sowie ein tödliches Attentat gegen den Polizei-Inspektor Eduardo Puelles in Arrigorriaga. Bis 2003 lag die Höchstdauer einer Haftstrafe bei 30 Jahren. Danach wurde sie auf 40 Jahre erhöht. Irati wurde 2018 geboren, sie wurde also im Gefängnis gezeugt. Wie viele andere Kinder vor ihr.
Iratis Mutter Beatriz wurde nach ihrer Festnahme in den Kerkern der Guardia Civil gefoltert. Sie erstattete Anzeige, aber wie in vielen vergleichbaren Fällen zuvor wanderte diese Anzeige schnell in den Papierkorb. Die Anwältinnen brachten den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort wurde entschieden, dass die Rechte der Gefangenen verletzt wurden, indem der Anzeige nicht ausreichend nachgegangen wurde, wie es sich für eine demokratische Justiz gehört. Beatriz erhielt eine Entschädigung von 30.000 Euro zugesprochen. “Ich werde meine Tochter Beatriz nie wieder außerhalb des Gefängnisses sehen“, sagt Pili mit großer Klarheit. “Aber die Kinder können nicht für etwas bestraft werden, was die Eltern gemacht haben“, sagt sie als Großmutter.
ANMERKUNGEN:
(1) Artikel “La dispersión de Irati” (Die Dispersion von Irati), der Text wurde zum besseren Verständnis für deutschsprachige Leser*innen bei der Übersetzung geringfügig ergänzt. (LINK)
(2) Der Film “Patria” (Vaterland) von dem in Deutschland lebenden Schriftsteller Fernando Aramburu, nach dem gleichnamigen Roman, wurde im Sommer 2020 als achtteilige Mini-Film-Serie in einem privaten Fernsehkanal vorgestellt. Er handelt von sozialen Spaltungen, die durch die bewaffnete Aktion von ETA hervorgerufen werden. Die Serie wurde – je nach politischer Positionierung – sehr unterschiedlich aufgenommmen. Für die einen ist es eine Anklage gegen den Terror, für andere ein propagandistisches Machwerk, das nicht zur Aufarbeitung der Geschichte dient.
ABBILDUNGEN:
(1) Eztizen, Pili (elsalto, gessami forner)
(2) Mobilisierung (foku,naiz)
(3) Eztizen (elsalto, gessami forner)
(4) Pili (elsalto, gessami forner)
(5) Mobilisierung (foku,naiz)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-12-29)