Kritische Betrachtung der aktuellen Reisepraxis
Tourismus spielt sich immer mehr in anonymen und statischen Massen ab. Die besuchten Orte werden zu Disney-Ländern und für die Einheimischen zunehmend unbewohnbar. Im Gleichschritt wird der touristische Erfahrungswert reduziert auf fotografische Dokumentation ohne jeglichen Tiefgang. Individualität, Eigeninitiative und persönliches Erleben sind undenkbar. Mit der Pandemie musste der weltweite Massen-Tourismus auf Null gefahren werden. Nun wird ein Neubeginn vorbereitet. Zu den alten Formen zurück?
Massen-Tourismus ist zutiefst unökologisch. Die Kreuzfahr-Unkultur verseucht Meere, Luft und die Hirne der bürgerlichen Mittelklasse. Die Coronavirus-Pandemie kam einer radikalen Zäsur gleich. Der Neustart beginnt mit der großen Frage, ob jemand aus den Fehlern gelernt hat. Eine zynisch-kritische Betrachtung.
Touristen schauen sich nicht um, sie machen Fotos. Das Wesentliche nach Abschluss einer Reise ist ein Selfie am Piccadilly Circus, am Brandenburger Tor, oder vor dem Guggenheim Museum in New York oder Bilbao. Voller Stolz werden sie direkt an die Freunde in der Heimat geschickt. Der letzte Winkel der Erde wird von Massen-Tourismus kolonisiert, die Suche nach neuen Geheimtipps ist ein katastrophal tödliches Wettrennen.
Tourismus als unterhaltsame Aktivität zum Erleben anderer Orte, zum Kennenlernen anderer Menschen oder zur Erfahrung fremder Kulturen verschwindet. Tourismus ist zu einem gesellschaftlichen Akt der Wohlhabenden geworden, der sich selbst rechtfertigt. Aus der ehemaligen intellektuellen Neugier ist globalisiert-kapitalistische Routine geworden. Der Tourismus ist in neue Dimensionen vorgestoßen: oberflächlich, gekünstelt, stilisiert, unwürdig und neokolonial.
Der heutige Tourist praktiziert keinen Tourismus, er macht eine touristische Erfahrung. Egal wo: in Kopenhagen, Prag, London oder an den Niagara-Fällen. Zielorte dienen nur noch dazu, den Preis der Heldentat abzuschätzen, die Nachbarn zu übertrumpfen, über malerische Gastronomie zu fabulieren und Denkmäler zu sammeln, die man auf keinen Fall verpassen sollte. Der Ort spielt bei der Essenz der touristischen Erfahrung eine absolut untergeordnete Rolle, ob es sich um Rom, Johannesburg, San Sebastián oder Lisboa handelt. Die Unterschiede sind nebensächlich und verschwinden im Abstraktions-Prozess teurer Spiegelreflex-Kameras.
Oslo, Bilbao, Zagreb, Istanbul – der Ort ist lästige Nebensache bei der Auswahl unter Dutzenden von billigen City-Break-Zielen. Dann die anstrengende Praxis. Du bist letzte Nacht angekommen, müde von den Warteschlangen am Flughafen, der ermüdenden Gepäck-Abholung und dem Stress, noch vor den Reisekonkurrenten ein Taxi zu bekommen. Der Eindruck drängt sich auf, dass es dich schlimmer getroffen hat, als es warnend angekündigt war in den Reise-Blogs, die du studiert hast zur Vorbereitung dieser touristischen Maximal-Erfahrung deines Lebens. Schwamm drüber! Früh aufstehen, nach dem schlechten Kaffee mit Croissant beginnt der Prozess, die lokalen Einzigartigkeiten abzugrasen. Du gehst zum Louvre, zur Akropolis, zur Bizkaia-Schwebebrücke, zum Vatikan … alle Ziele haben ihre abstrakte heilige Essenz. Wissen ist Luxus, dabei sein ist alles.
Je näher du dem Paradies kommst, merkst du: eine riesige Menschenmasse hat dasselbe Ziel. Aus allen Richtungen. In allen Hautfarben. Aus allen Ländern. Du hörst das spanische Geschrei, nimmst die Ordnung der Deutschen zur Kenntnis, fühlst die italienische Leichtigkeit. Chinesen, Japaner, Tschechen, Russen, Nordamerikaner, Engländer, Mexikaner, wo du auch bist, in Florenz, im Buckingham-Palast oder im Kreml, der Ort ist austauschbar. Du siehst nicht Venedig, sondern die Massen, wie sie sich auf die Brücken Venedigs stürzen. Oder die Menschenmenge auf den Teotihuacan-Pyramiden. Du siehst nicht Bilbao, sondern die Warteschlange vor dem Museum mit dem jüdischen Namen.
Der Reiseführerin mit buntem Schirm folgen große Gruppen. Die Menschheit folgt der Leaderin nach Volksstämmen geordnet in Richtung der Monumente. Mit ihren Handys machen alle Teilnehmer dieselben Fotos, mit Menschen-Massen vor den historischen Gebäuden und Sehenwürdigkeiten. Auf der Stelle werden Tausende von Selfies an die Kollegen zu Hause geschickt, als Beweis für die kulturelle Großtat. Die Kollegen rächen sich, mit eigenen Selfies, von Massen, die sich um den Eiffelturm herumschieben oder sich beim Warten vor der Seilbahn in Lisboa langweilen. Jeder hat seine eigene touristische Erfahrung und das dringende Bedürfnis, sie unmittelbar dem Rest der Welt mitzuteilen. Denn ohne äußere Anerkennung wäre die Investition umsonst.
Danach zwei Stunden Schlange stehen für den Eintritt. Es ist heiß, zum Glück kommt ein Einheimischer vorbei, um eine Flasche mit warmem Wasser zum Apotheken-Preis zu verkaufen. Schließlich kommst du in die Kathedrale. Begeisterung. Zeitgleich werden Hunderte von Handys in die Höhe gereckt, um dieses und jenes farbige Kirchenfenster zu verewigen. Auf den Fotos sind vor allem Hände mit Handys zu sehen. Zwischen den Händen das Taj Mahal, Tiananmen oder das Guernica von Picasso. Ein Tourist schaut nicht, er macht Fotos. Zu Hause wird man schon sehen, was daraus geworden ist. Wenn dazu Zeit bleibt. Das Wichtigste ist das Selfie mit der Gioconda, auf dem ein halbes Dutzend Malaysier und ein Russe in gleicher Pose mit drauf sind. Du schickst es an die Arbeitskollegen, das übertrifft niemand. Dein Schwager, du weißt nicht einmal, wo er sich gerade aufhält, antwortet mit einem Nofretete-Selfie, aber du merkst sofort, dass es aus dem letzten Jahr ist, weil er mittlerweile dicker geworden ist und aufgedunsen wie ein Seelöwe aussieht. Man merkt ihm den Neid an. Deine touristische Erfahrung nähert sich ihrem Höhepunkt.
Du bleibst in der Kathedrale, in einer Menschen-Ansammlung, die den Turm von Babel übertrifft: du hörst viele Sprache, die du nicht identifizieren kannst. Heldin ist die Touristen-Führerin mit ihren beschwerlichen Ausführungen zum Tod eines österreichischen Kaisers, von dem die Zuhörer in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört haben. Auch nicht vom österreichischen Imperium. Die Masse reagiert erst, als sie erfährt, dass der Herrscher an Hämorrhoiden litt. Bei den mitfühlenden Chinesen, Japanern und Kanadiern entsteht der Eindruck, dass die europäischen Königshäuser an Hämorrhoiden zugrunde gingen. Ist aber auch egal.
Gedränge, Geschubse, fragwürdige Erklärungen über die Heiligen, die ärgerlich auf uns herabsehen und über die hier beerdigten Adligen. Laut Führerin haben es einige überhaupt nicht verdient, da oben fensterlich verewigt worden zu sein. Der Witz kommt an, künstliche Lacher. Der folgende Kirchenaustritt hat befreiende Momente. In großer Not stürzt sich die Touristen-Masse auf das Bier, dass in der Ali Baba Bar zum Verkauf angeboten wird. Nicht wenige, allen voran die Prostatiker, drängt es auf die Toilette. Das Schlimmste ist nicht, dass dafür bezahlt werden muss, denn du hast es bereits verinnerlicht, dass deine Anwesenheit in diesen Breitengraden dazu dienen muss, das Staatsdefizit schnellstmöglich auszugleichen; unerträglich ist die Warteschlange, denn bei dem stattlichen Nutzungspreis müsste die Notdurft-Einrichtung eigentlich erweitert werden können. Abgesehen vom Gestank.
Es wird spät, etwas zum Essen muss her. Bis zu diesem Zeitpunkt haben sich in der Reisegruppe verschiedene Überzeugungen eingespielt. Erstens, dass die Leute in diesem Land ziemlich seltsam sind. Zweitens, dass es sich nicht gerade um eine gastronomische Weltmacht handelt, weil das Menü ziemlich fett ausgefallen ist. Es liegt schwer im Magen. Dein Schwager hat es bereits festgestellt: in Neapel haben sie keine Ahnung davon, eine ähnlich gute Pizza zu machen wie in Kreuzberg, in Vallecas oder in Sankt Pauli. Das Urteil ist einstimmig. Deshalb isst man auf Mallorca am Besten typisch deutsch Sauerkraut und Knödel. Oder man geht eben ins China-Restaurant, die sind überall gleich.
Zwischen Hitze, lauwarmem Bier, Frühlingsrollen, Warteschlangen, Museen und all dem anderen, fällst du im Hotel völlig erledigt aufs Bett. Du bist platt. Aber vor dem Tiefschlaf schickst du noch die besten Selfies in die Heimat, damit die Anstrengung nicht umsonst gewesen ist. Dein Schwager reagiert mit Fotos von Massen auf dem Pisa-Turm, vor dem Weißen Haus oder vor dem Lenin-Mausoleum. Zur Philosophie des aktuellen Tourismus gehört einfach, Menschenmassen genießen zu können und zu vergessen, wo man sich gerade aufhält. Zur Philosophie dieses Tourismus gehört, auch vergessen zu können, welche verheerenden Konsequenzen deine touristische Erfahrung im Alltag der Einheimischen, der Indigenas, der Aboriginees, der unfreiwillig Störenden haben kann und hat.
ABBILDUNGEN:
(1) Touristen-Selfie (FAT)
(2) Tourismus Persiflage (FAT)
(3) Touri-Fotograf (FAT)
(4) Anti-Tourismus (FAT)
(5) Touristen-Boot (FAT)
(Alle Fotografien aus dem Foto-Archiv-Txeng)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-06-19)