Erinnerung im häuslichen Schutzbunker
Zum ersten Mal nach Ende des Franquismus kann der Gedenktag an die Bombardierung und Vernichtung der baskischen Stadt Gernika nicht stattfinden. Oder zumindest nicht in der gewohnten Form. Die Coronavirus-Pandemie hat es unmöglich gemacht, auf die Straßen zu gehen, schon gar nicht in Gruppen. Am 26. April 2020 sind es genau 43 Tage Alarm-Zustand, den die Zentralregierung über den gesamten Staat verhängt hat. Historische Erinnerung ist kein Ausnahmegrund, dem unerbittlichen Hausarrest zu entkommen.
Die am 14. März 2020 wegen der Coronavirus-Pandemie verhängte Ausgangssperre ist ein Schutz vor Ansteckung. Gleichzeitig macht sie das Gedenken an die Bombardierung und Vernichtung von Gernika durch die nazi-deutsche Legion Condor und die italienische Aviazione Legionaria am 26. April 1937 unmöglich. Eine alternative Erinnerung ist notwendig.
Seit über 40 Tagen steht die große Mehrheit der Bevölkerung im spanischen Staat praktisch unter Hausarrest, “Alarmzustand“ ist der juristische Begriff dafür. Die Häuser und Wohnungen dürfen nur verlassen werden, um zur Arbeit oder zum Einkaufen zu gehen oder um einen Arzt aufzusuchen. Angesichts der hohen Anzahl an Toten und Infizierten kann der Hausarrest als Schutz vor Ansteckung verstanden werden. Gleichzeitig verhindert er jegliche gemeinsame öffentliche Kundgebung, jeden Protest, jede Demonstration. Was bleibt ist das Töpfeschlagen auf dem Balkon.
Am Gedenktag ist es zur Gewohnheit geworden, um 15.45 Uhr die Alarm-Sirene ertönen zu lassen, zu genau jenem Zeitpunkt, an dem im Jahr 1937 die Bombardierung und Vernichtung der Stadt begann. Der Verkehr ruht, auf einem zentralen Platz gedenken die Anwesenden schweigend der Opfer des Bombenangriffs. Zivilgesellschaftliche Gruppen beschließen den Gedenktag traditionell mit einer Lichter-Demonstration.
Am Ende dieser Lichter-Demonstration wird üblicherweise ein Text verlesen, eine Erklärung. Weil in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie weder ein normaler Gedenktag stattfinden kann, noch gemeinsame Schweigeminuten, noch ein historisches Straßentheater, noch eine Lichter-Demonstration, musste die Erklärung vorgezogen werden. Am 23. April 2020 erschien sie in der Tageszeitung Gara, unterzeichnet von der Memoria-Gruppe Gernika Batzordea. “Wir möchten das Schreiben nutzen, um zur Teilnahme von Zuhause aufzurufen. Der Klang der Sirene lädt ein, die Fenster zu öffnen und aus unserer privaten und eigenen Zuflucht heraus mit kleinen Lichtern die historische Erinnerung zu erleuchten.“ Mit Kerzen, Taschenlampen, Mobiltelefonen wird es eine andere Lichter-Demonstration werden, doch soll niemand sagen, sie hätte nicht stattgefunden. Auch in der Notsituation sollen zwischenmenschliche Verbindungen und kollektive Verantwortung im Kampf für künftige gemeinsame Ziele im Vordergrund stehen. “Dies ist die sicherste Zuflucht.“
Beitrag von Gernika Batzordea
Der 83. Jahrestag der Bombardierung von Gernika hat uns im Schutzbunker ereilt. Wegen des Ausnahme-Zustandes, den wir erleben, sind viele Projekte plötzlich stehengeblieben. Viele zivilgesellschaftliche Akteure und Individuen haben sich in der Vergangenheit um die historische Erinnerung bemüht. Dazu gehören auch Personen, die von außerhalb zu uns gekommen sind, aus Sartaguda und Lleida zum Beispiel, um unser Erinnern, welches auch das ihre ist, zu teilen. Das wird in diesem Jahr nicht möglich sein. Zweifelsfrei ein ungewöhnlicher Jahrestag.
Am Tag der Bombardierung zerstörten sie die Häuser, jetzt sind sie zu unserer Zuflucht geworden. Die Schutzmaßnahmen haben erneut das gesamte Bewusstsein ergriffen, eine faktische Macht. Die meisten von uns schützen sich gegenseitig, wir teilen die Angst und kümmern uns umeinander. Doch gibt es andere Akteure, die eine besondere Vorstellung von Schutz haben. Es sind jene, die das Leben taxieren, und die der Solidarität und dem Engagement einen Preis aufdrücken. Indem sie dem Schutz der wirtschaftlichen Werte Vorrang einräumen, stellen sie Geschäfte, Transaktionen und Gewinne über die menschlichen Bedürfnisse. Indem sie mit dem Leben aller spekulieren, um ihre Ökonomie vor dem “Koma” zu retten, setzen sie die Menschlichkeit einer großen Gefahr aus. Wir machen es ihnen nicht leicht. Mit unserer Arbeit ist Gernika aus der Asche wiederauferstanden, auch heute haben wir gemeinsame Ziele, die wir erreichen können, indem wir die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Leben in den Mittelpunkt stellen. Dem lauten Medien- und Angst-Bombardement werden wir mit kollektiver Verantwortung entgegnen.
Wir haben die Pflicht, die einmal entfachte Flamme unserer historischen Erinnerung zu bewahren, indem wir die Bombardierung dem Vergessen entreißen. Beim Gedenktag im Jahr 2020 wollen wir einige Aspekte aus dem riesigen Datenmeer nicht vergessen.
Wir wollen an die baskischen Landsleute erinnern, die den gegenwärtigen Arrest weit weg von zu Hause und allein verbringen. Die auf Rache und Zerstörung basierende staatliche Gefängnispolitik wirkt in diesem Ausnahmezustand umso härter. Voller Schmerz stellen wir fest, dass die verantwortlichen Politiker auf diese Notlage mit Schweigen und Verachtung reagieren.
Erinnern wollen wir auch an die vielen anderen Gernikas, an die Menschen, die derzeit den Schrecken von Bombardierungen erleiden. Wir erinnern an die Flüchtlinge, die in Folge von Kriegen ihre Familien, Häuser und Länder verlassen mussten und sich nach einer Todesfahrt zusammengepfercht in Elendslagern befinden. Erinnern wollen wir auch an die Frauen, die zu Hause in Schrecken mit denen leben müssen, die sie misshandeln. Schließlich wollen wir daran erinnern, dass nach diesem Ausnahme-Zustand eine andere Gesellschaft entstehen wird, die auf anderen Fundamenten basiert: Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit.
Teilnahme an den Gedenkfeiern
Bereits seit langer Zeit sind es nicht nur Menschen aus Gernika und dem Baskenland, die am Gedenktag für die Vernichtung der Stadt teilnehmen. Aus Hiroshima und anderen Orten kommen Vertreter, die ähnliche (oder schlimmere) Erfahrungen gemacht haben. Die bundesdeutsche Partnerstadt Pforzheim ist regelmäßig vertreten. Dazu Gruppen wie der Arbeitskreis Regionalgeschichte aus der Gegend Wunstorf, einer Stadt in Niedersachsen, die einer der Ausgangspunkte der Legion Condor war. Dieser von den Nazis heimlich aufgebaute Fliegerverband wurde von den Aufständischen in den Spanienkrieg gerufen und war verantwortlich für schwere Bombardierungen gegen die Zivilbevölkerung, nicht nur in Gernika. Seit mehr als 20 Jahren pflegt der Arbeitskreis Regionalgesichte Neustadt einen regelmäßigen Austausch mit Gernika, mit Besuchen im Baskenland und Gegenbesuchen in Deutschland. Auch in diesem Jahr war ein Besuch geplant, die Reise gebucht, alles musste storniert werden.
Seit einigen Jahren nehmen an dem Gedenktag auch Personen aus Katalonien teil, sowie aus Nafarroa (span: Navarra), einer autonomen Region, die historisch und kulturell ebenfalls zum Baskenland zählt. Das katalanische Lleida erlebte 1937 einen vernichtenden Bombenangriff wie einige Monate zuvor Gernika. Der im navarrischen Süden liegende Ort Sartaguda gilt als das “Dorf der Witwen”, nachdem die aufständischen Franquisten dort alle waffenfähigen Männer an die Front schickten oder umbrachten.
Gedenk-Programm
Die Initiativgruppe "Guernica-Gernikara" hat für die Tage 24., 25. und 26. April ein Programm entwickelt, das - wie könnte es anders sein - zum Großteil virtuell sein wird. Es handelt sich um Interviews, die über die Webseite ausgestrahlt werden (siehe beiligendes Bild). Darunter Interviews mit den Historikern Ingo Niebel und Angel Viñas. Zudem gibt es künstlerische Einlagen, Ausstellungen, musikalische Auftritte, eine Filmvorführung, Gruß-Botschaften aus New York, Lleida und Sartaguda. Wie im Artikel beschrieben, sollen um 15.45 Uhr alle Fenster geöffnet werden, wenn die Sirene von 1937 aufheult, um Schweigeminuten einzuläuten. Den Abschluss bildet um 21 Uhr eine Lichter-Demonstration, ebenfalls von den Fenstern und Balkonen aus. Eine letzte Meldung besagt, dass die baskischen Behörden eine Ausnahmegenehmigung erteilt haben, die es erlaubt, am 26. am Friedhof eine Kranzniederlegung für die Opfer der Bombardierung zu durchzuführen. (Anmerkung: Der Name der Initiative, zu der verschiedene Antifa- und Friedensgruppen gehören, erklärt sich folgendermaßen: mit Guernica ist das Gemälde von Picasso gemeint, Gernikara ist Baskisch und bedeutet "nach Gernika"; die Botschaft seit vielen Jahren ist, dass Picassos Bild nach Gernika gebracht und dort ausgestellt werden soll.)
ANMERKUNGEN:
(1) Der vorliegende Artikel gründet auf einer Publikation in der baskischen Tageszeitung Gara vom 23. April 2020. Der baskische Originaltext von Gernika Batzordea sollte am Gedenktag nach einer Kundgebung verlesen werden, was aufgrund der Corona-Ausgangssperre nicht möglich ist. Für das Internet-Portal Guernica Gernikara wurde er ins Deutsche übersetzt. Die Redaktion Baskultur.info hat Übersetzung und Begleittext für eine verständlichere Lektüre verändert und ergänzt. Der Originaltext ist verfügbar. (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Guernica Gernikara (naiz)
(2) Guernica Gernikara (eldiario)
(3) Guernica Gernikara (eitb)
(4) Guernica Gernikara
(5) Gedenk-Programm 2020
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-04-25)