GPR01
Globalisierungs-Kritik im Tourismus-Tempel

Die Abteilung Video-Kunst des Guggenheim Museums in Bilbao zeigt zwischen März und Juni 2019 eine kritisch-poetische Videokreation der beiden auf Puerto Rico arbeitenden Künstler*innen Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla. Die in Bilbao präsentierten Filme beschäftigten sich mit den negativen Folgen der Globalisierung. „Die tropische Apotheke“ ist der Titel der Ausstellung, die drei Videos umfasst und sich mit der lokalen Pharma-Industrie und den wiederkehrenden katastrophalen Hurrikanen befasst.

Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla aus Puerto Rico zeigen in der Abteilung Video-Kunst des Guggenheim Museums in Bilbao drei Filme, die sich mit den Folgen der Globalisierung auf der karibischen Insel beschäftigen unter dem Titel “Die tropische Apotheke“.

Dass ausgerechnet im Guggenheim-Museum von Bilbao eine globalisierungs-kritische Ausstellung gezeigt wird, mag wie ein Widerspruch wirken. Denn bekanntlich ist das Museum als Ableger der schwerreichen Guggenheim-Stiftung in New York ein Paradebeispiel globalisierter Kunstgeschäfte. Doch solche Gegensätze sind heutzutage Makulatur, denn was sich verkaufen lässt, wird verkauft, ob Tradition, Revolution, Koons-Kitsch oder Globalisierungskritik. Im Gegenteil, gerne schmücken sich die dominanten Kunstpaläste in pluralistischer Geste mit kritischen Geistern – im Fall Bilbao waren dies u.a. Jorge Oteiza, die rebellische Niki de Saint Phalle, die Widerstandskunst der Nazizeit, der Graffiti-Pionier Basquiat oder der schwule Francis Bacon.

GPR02Allora – Calzadilla

Globalisierungs-Kritik: Die aus Philadelphia stammende Jennifer Allora (1974) und der Kubaner Guillermo Calzadilla (1971) haben einen Großteil ihrer künstlerischen Karriere auf der seit 121 Jahren von den USA besetzten Karibikinsel Puerto Rico verbracht. Bekannt ist die Insel als letzte Kolonie der Vereinigten Staaten, als Opfer der jährlich vorbeiziehenden Hurrikane, die häufig verheerende Spuren hinterlassen und dafür, dass hier hervorragendes Basketball gespielt wird.

Der Kubaner Guillermo Calzadilla studierte Kunst in San Juan, Puerto Rico und im US-Staat New York. Die aus Philadelphia stammende Künstlerin Jennifer Allora studierte Technik in Virginia. Beide sind bekannt für Werke, die sich mit komplexen Überschneidungen zwischen Kultur, Geschichte, Politik, Kunst und Umwelt befassen. Mit Skulptur, Video, Performance und Sound haben die Arbeiten von Allora und Calzadilla einen provokanten und manchmal subversiven Charakter, der fortwährend die Kräfte von Globalisierung, Kolonialismus und Konsumismus benennt und herausfordert. Sie wurden auf mehreren Biennalen, darunter die in Venedig, sowie in Einzel- und Gruppen-Ausstellungen auf der ganzen Welt vorgestellt. Die drei im Guggenheim Bilbao vorgestellten Videos behandeln Schlüsselthemen der Insel Puerto Rico und ihre kolonialen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in der vergangenen 15 Jahren. (1)

Die Ausstellung zeigt zwei Projektionen auf gegenüber liegenden Wänden und einen dritten Film auf einem Bildschirm. Dabei gibt einer der Videos der Bilbao-Ausstellung ihren Namen: aus “Die Glocke, der Bagger und die tropische Apotheke“ wird „Die tropische Apotheke“. Der besagte Film ist eine Arbeit aus dem Jahr 2013, gedreht in einer verlassenen Pharmafabrik, die nach einem umstrittenen Kontaminationsfall geschlossen und deren Produktion anschließend in die USA verlagert wurde.

GPR03Puerto Rico – rechtsfreier Raum

Hintergrund dieses 20-minütigen Videos ist die Geschichte der Pharma-Industrie auf Puerto Rico. Weil die Insel als „frei assoziierter Staat“ nur halb zu den Vereinigten Staaten gehört, gab es hier andere Regeln und Gesetze. Zum einen erhielten Pharma-Unternehmen Steuervergünstigungen für Anlagen auf der Insel, zum anderen waren die Umweltvorschriften für die Gift produzierenden Unternehmen nicht halb so streng wie auf dem US-Kontinent. Geschaffen wurden praktisch rechtsfreie Zonen, die verschiedene Schmutz-Industrien nutzten. Auf Puerto Rico wurden bis vor kurzer Zeit acht der zehn meistkonsumierten Medikamente der USA produziert, einschließlich des bekannten Antidepressivums Prozac. Eine Reihe von Unternehmen erfreute sich dieser Freiräume und baute Labors und Produktionsstätten. Die Profite waren ebenso enorm wie die Umweltverschmutzung. Als im Jahr 2006 die Gesetze geändert und die Vergünstigungen gestrichen wurden, verlagerten viele Firmen die Produktion zurück aufs Festland und stießen Tausende von Personen in die Arbeitslosigkeit.

Tropische Apotheke

Allora und Calzadilla, die auch schon Ausstellungen im New Yorker Museum of Modern Arts (MOMA) und in der Tapiès-Stiftung in Barcelona hatten, ließen sich den Abriss einer der Chemie-Produktionsstätten – des auch im spanischen Staat vertretenen Unternehmens GlaxoSmithKline – nicht entgehen und filmten den Vorgang. Der Video zeigt die Labors und Produktionsstätten vor, während und nach dem Abriss: Duschen, Spinds, Hallen, Büros, technische Installationen. Er hat drei antagonistische Klangebenen: die absolute Stille der sterilen Räume, das leise Eigengeräusch verschiedener Gegenstände (wie der eines tropfenden Wasserhahns) und der ohrenbetäubende Lärm, wenn die Glockenramme wie ein um sich schlagender Dinosaurier durch die Produktions-Hallen tobt.

Vor dem Abriss der Anlagen ersetzten Allora und Calzadilla die Ramme eines Abriss-Baggers durch eine große gusseiserne Glocke, die heftig durch die Wände des Gebäudes kreist und gleichzeitig einen klangvollen Soundtrack für den Abbruch erzeugt. In dem Maße, wie der modifizierte Bagger Trümmer produziert, wird die schwingende Glocke mit ihren Schlägen zu einem faktischen Mahnmal für die zerbrechliche puertoricanische Wirtschaft und ihre lange Abhängigkeit innerhalb der neokolonialen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten.

GPR04Totengeläute

“In den Kirchen werden Glocken geläutet, um die Zeit zu markieren, um auf Notfälle aufmerksam zu machen oder Beerdigungen anzukündigen. Deshalb haben wir zur Vertonung Glockenschläge gewählt“, sagte Guillermo Calzadilla bei der Vorstellung der Ausstellung im Guggenheim-Museum. “Ein Ingenieur hat uns dabei geholfen, die schwere Kirchenglocke an dem 10 Meter langen Baggerarm zu befestigen“. Bei jeder vernichtenden Bewegung – nach oben, nach unten, zur Seite – schlägt der Klöppel in der Glocke und begleitet die Zerstörung. Calzadillas Botschaft lautet: “Das Unternehmen zeigte eine neokoloniale Haltung: sie kommen, beuten aus und verschwinden, wenn sie kein Interesse mehr haben an der Insel“. (2 elco)

Neo-Kolonialismus

Tatsächlich nutzten die USA das zwischen Hispaniola und den Jungfrau-Inseln liegende Eiland für allerlei dunkle Geschäfte, die auf dem Festland problematisch gewesen wären. Nicht nur die Pharma-Industrie war präsent, intensiv praktiziert wurde in Küstengebieten auch die Erdölverarbeitung. Mehr als 10% der Insel war Militärgebiet, auf der Insel Vieques wurden echte Bombardierungen geprobt. Die Umweltschutz- und Arbeitsschutz-Gesetze waren derart vorteilhaft für Unternehmen, dass in den 1960er Jahren viele den Schritt in die Karibik machten. Dazu kamen interessante Rohstoffe wie Nickel oder Kupfer, die im großen Stil abgebaut wurden und für die Vergiftung von Grundwasser und Boden der Insel sorgten. Kaum bekannt ist, dass die USA auf Puerto Rico das Herbizid Agent Orange ausprobierten, bevor es in Vietnam eingesetzt wurde. Auch wurden Experimente mit radioaktiven Strahlen gemacht, um die Wirkung der Strahlen auf Vegetation und Tiere zu testen. (3)

Schwein am Autogrill

Allora und Calzadilla arbeiten mit den Elementen von Vertreibung und Verfremdung, indem sie den Kontext auf unerwartete Weise verändern, um mehr Aufmerksamkeit für die Gesellschaft zu gewinnen. Eine weiteres in Bilbao vorgestelltes Projekt ist “Sweat Glands, Sweat Lands“ (Schweißdrüsen, Schweißland) aus dem Jahr 2006. Das krasse Wortspiel des Titels spiegelt die absurde Situation wider, die im Video dargestellt wird. Auf einem verwahrlosten Grundstück wird in der Nacht ein Schwein gegrillt. Angetrieben wird der Grill von einem Auto, dessen Hinterachse aufgebockt ist, das Hinterrad ist mit der Grillstange verbunden. Im Auto sitzt ein rauchender Mann. Wenn er den Motor beschleunigt, dreht sich der Kadaver des Tieres schneller, es mischen sich der Rauch aus dem Grillfeuer, aus dem Auspuff des Autos und von der Zigarette des Fahrers. Akkustisch untermalt wird das surrealistische Video von sechs Minuten mit einem Rap-Gedicht, welches das Künstler-Duo verfasste und das von der puertoricanischen Reggaeton-Sängerin Residente Calle 13 auf Spanisch rezitiert wird. In einer Wörterflut von Insekten, Fledermäusen und Körperteilen symbolisiert der Text das Durcheinander und die Barbarei einer überbevölkerten, eingeschränkten und erstickenden Gesellschaft, ein zukunftspessimistisches Szenario einer Gesellschaft im Zeitalter der militarisierten Globalisierung.

GPR05Deadline – Letzte Frist

Über einen Fernsehbildschirm zu sehen ist der Kurzvideo “Deadline“, der 2007 in der puertoricanischen Hauptstadt San Juan gedreht wurde. Der dreiminütige 16-Millimeter-Film besteht aus einer einzigen Bildeinstellung von zwei Palmen. Zwischen ihnen hängt ein heruntergefallener Palmwedel, der von einer Angelschnur gehalten wird. Die Silhouette schwingt im Wind hin und her und symbolisiert eine Spannung zwischen Gehen und Bleiben, Hängen oder Fallen, oder zwischen Leben und Tod. Das Werk ist ein Sinnbild der Umweltkrise in Puerto Rico nach dem Hurrikan George, einem tropischen Sturm, der katastrophale Schäden auf der gesamten Insel verursachte. Es erinnert unweigerlich an den jüngsten, noch schlimmeren Hurrikan Maria, der die Insel am 16. September 2017 heimsuchte. (2)

Museumsbesuch

Wer sich die drei Filme der “tropischen Apotheke“ ohne begleitenden Kopfhör-Assistenten anschaut, wird drei verschiedene Eindrücke mitnehmen: eine langweilige und unverständliche Einstellung unter Palmen; ein abgefahrener Schweinegrill, der jede Veganerin zum Glühen bringt; und ein ohrenbetäubender Zerstörungsfilm, der akkustisch belästigt, aber alle Zu-Schauer-Hörerinnen bis zum Schluss fesselt. Wie häufig in der Kunst erklären sich die Werke nicht von allein. Ohne zu wissen, dass die Filme auf Puerto Rico spielen, ohne die Geschichte der Insel auch nur in Grundzügen zu kennen, verkommt das Dreier-Spektakel zu einem visuellen Fragezeichen. Kopfhörer seien beim Besuch insofern unbedingt empfohlen. Die Film-Ausstellung “Die tropische Apotheke“ von Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla ist im Guggenheim Museum Bilbao zu sehen bis zum 23. Juni 2019.

(Publikation Baskultur.info 2019-05-07)

ANMERKUNGEN:

(1) Audio-Begleiter Guggenheim-Museum in deutscher Sprache

(2) Artikel “Por quién doblan las campanas en Puerto Rico?” (Wem schlagen die Glocken in Puerto Rico), Tageszeitung El Correo, 2019-03-16

(3) Broschüre “Kolonie der USA? Puerto Rico libre!“, Transatlantische Schriften, 500 Jahre Kolonialismus – 500 Jahre Widerstand, Hg. Archiv 92, Bremen 1992

ABBILDUNGEN:

(1) Glockenschläge (FAT)

(2) Allora-Calzadilla (art basel)

(3) Tropische Apotheke (FAT)

(4) Schweinegrill (FAT)

(5) Hurrikan PR (spiegel.online)

Für den Betrieb unserer Webseite benutzen wir Cookies. Wenn Sie unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, akzeptieren Sie unseren Einsatz von Cookies. Mehr Information