Der nicht endende Franquismus
Anna Miñarro (Barcelona, 1959) ist als Psychologin spezialisiert auf die Arbeit mit Opfern des Franquismus. Für sie ist das offene Sprechen über die erlebte politische Repression ein Heilverfahren gegenüber dem aufgezwungenen Vergessen. Miñarro stellt unmissverständlich fest, dass fortgesetztes Schweigen die Grundlage für die Straffreiheit der Kriegs- und Diktatur-Verbrecher ist. Auf dieser Straffreiheit wurde die heutige Demokratie aufgebaut. Aufarbeitung sei ein unverzichtbares Menschenrecht.
Die katalanische Psychologin Anna Miñarro hat sich auf die psychologische Betreuung von Opfern der faschistischen Diktatur im spanischen Staat und deren Nachkommen spezialisiert, um die Traumata der Repression aufzuarbeiten.
Anna Miñarro ist in Hunderten von Gesprächen mit direkten und indirekten Opfern des Franquismus zu der Überzeugung gekommen, dass auch die heutige Gesellschaft den Tausenden von Repression betroffenen Frauen und Männern nach wie vor nicht genügend Gehör schenke. Die klinische Psychologin und Psychoanalytikerin ist Ko-Direktorin der Studie "Fosas cerradas y heridas abiertas" (Geschlossene Massengräber und offene Wunden). Dabei handelt es sich um die erste Studie im spanischen Staat, die sich mit dem von der franquistischen Repression verursachten psychischen Trauma befasst. Die fortgesetzte Unmöglichkeit, über dieses Trauma zu sprechen oder es zu bearbeiten führe zu einer Übertragung auf folgende Generationen. "Diejenigen, die heute fordern, nicht mehr über alte Geschichten zu sprechen, setzen das von der Diktatur auferlegte Schweigen fort". (1)
Ein Interview im Internet-Magazin Rebelión:
Rebelión: Im Laufe Ihrer Karriere als Psychologin haben Sie etwa 1.400 Zeugenaussagen von Familienmitgliedern und Opfern des Franquismus gesammelt. Folgt die Geschichte dieser Personen einem bestimmten Muster? Ist sie bei Männern und Frauen ähnlich?
Anna Miñarro: Nein, die Aussagen folgen keinem Muster. Aber in allen Fällen hat das einfache Erzählen bereits eine klare therapeutische Wirkung. Wir sehen einen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Männern fällt es in der Regel schwer, ihre Gefühle auszudrücken und Emotionen zuzulassen. Frauen hingegen tragen Tränen, Traurigkeit und Melancholie mit sich, sie reden viel mehr. Männer neigen zum Beispiel dazu, Gespräche mit Anekdoten zu beginnen.
Zuhören ist wichtig, aber nicht nur bei den direkten Opfern, sondern auch bei Opfer-Angehörigen aus der zweiten, dritten und vierten Generation. Ich mache diese Arbeit des Zuhörens seit 2003 und stelle fest, dass viele dieser Personen eine enorme Fähigkeit haben, Schmerz in Kampfgeist zu übertragen: Sie haben ihre Verletzlichkeit in Stärke umgewandelt, indem sie ihre persönliche, traumatische und private Wunde in ein gemeinsames soziales Handeln umgewandelt haben.
Wie ist es um die psychische Gesundheit der Angehörigen von Opfern des Franco-Regimes bestellt?
Zunächst einmal müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Angehörigen unter der Verachtung und der Repression der Behörden zu leiden hatten, die sie diffamierten, schikanierten und in einigen Fällen sogar bedrohten. Bei meiner Arbeit in Katalonien höre ich zum Beispiel viele Aussagen von Personen, die sich als Immigrant*innen betrachten, obwohl sie oder ihre Eltern im spanischen Staat geboren sind. Natürlich sind sie es nicht, aber sie fühlen sich wie Flüchtlinge. Sie sind Flüchtlinge in ihrem eigenen Land. Sie wurden ins Exil geschickt, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurden, oder nachdem sie wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, weil sie verfolgt wurden.
Die psychische Gesundheit all dieser Personen ist beeinträchtigt, insbesondere die der Frauen, die die Hauptlast der sozialen Katastrophe und des Traumas tragen. Wir leben in einem vom Franco-Regime vererbten Staat, in dem alle repressiven Elemente intakt geblieben sind.
Sie gehörten zu dem psycho-sozialen Team, das die Stadtverwaltung von Barcelona im Rahmen ihrer Initiative zur öffentlichen Anerkennung der Personen gebildet hat, die während des späten Franco-Regimes (1955-1977) unterdrückt wurden. Welche Erfahrungen haben Sie im Vergleich zu denen der Nachkriegszeit gemacht?
Einige von ihnen machten genau dieselben Erfahrungen wie die der ersten Generation, obwohl andere, nach dem Ende der großen Repression der Nachkriegszeit, alles etwas abgeschwächter erlebten. Aber alle haben ihre Identität, ihre Ideale, ihre Abwehrmechanismen und ihre Zukunftsträume verloren und waren von psychischem Leid gezeichnet.
1939 waren die vermeintlichen (faschistischen) Sieger in der Lage, eine unmittelbare Trauerarbeit zu leisten. Sie wussten, wo ihre Angehörigen begraben sind, und konnten die entsprechenden Rituale durchführen. Die Exhumierung von etwa 120.000 Leichen auf der Seite der Besiegten steht hingegen noch aus, obwohl die Arbeiten im Gange sind.
Viele Leute sagen, dass es nicht nötig sei, weiter über das Thema zu sprechen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Es gibt Themen, die viele Male gesagt und erklärt werden müssen. Die Aufarbeitung der Auswirkungen von Krieg und Repression, zusammengefasst unter dem Begriff "Memoria Histórica" (Historisches Andenken) finden ihren Niederschlag auf juristischem, sozialem, soziopolitischem, anthropologischem und journalistischem Gebiet. Die psychische Gesundheit wird dabei jedoch vernachlässigt.
Auf welche Traumata stoßen Sie im Allgemeinen, wenn Sie sich um die Opfer der franquistischen Repression kümmern?
Am häufigsten ist ein enormes Maß an Traurigkeit zu beobachten, ein unerträglicher stummer Schrei, bei Personen, die eine so lange, schmerzhafte und beschämende Geschichte hinter sich haben, schlägt er oft in Melancholie um.
Bei Frauen finden wir diese enorme Traurigkeit, die manchmal in Depression umschlägt und zu psycho-somatischen Erkrankungen wie Fibromyalgie und chronischer Müdigkeit führt. Für Allgemein-Mediziner oder Hausärztinnen, die nicht viel Zeit haben, sich um ihre Patientinnen zu kümmern, sind diese Krankheiten beziehungsweise ihre Symptome sehr schwer zu erklären.
Bis zu welchem Grad können diese Traumata aufgearbeitet werden? Oder werden sie von Generation zu Generation weitergegeben?
Viele Fachleute aus dem Bereich der psychischen Gesundheit werden benötigt, um den Opfern einen geschützten Raum zum Sprechen zu geben. Sie müssen begleitet werden. Ein Trauma wird nie vollständig aufgearbeitet, irgendwelche Spuren bleiben immer bestehen. Aber es gibt Personen, denen das Sprechen dabei verhilft, einen Teil des Traumas aufzuarbeiten.
Die Auswirkungen einer Zeitspanne, die jemand in ständiger Unterdrückung verbracht hat, können nicht vergessen werden. Es gibt kein Vergessen, und die Wunden, die bleiben, werden von Generation zu Generation weitergegeben.
In diesem Sinne kann die erste Generation, die das Trauma direkt erleidet, nicht darüber sprechen. Sie akzeptiert das vom Franco-Regime auferlegte Schweigen, auch wenn es in einigen Fällen ein Schweigen zum Schutz der Familie ist. Die erste Generation ist also völlig blockiert. Wenn das passiert, kann die zweite Generation es nicht benennen, weil sie absolut nichts weiß; und die dritte Generation weiß auch nicht, was mit ihr geschieht: Es ist, als ob ein Gespenst um sie kreist. Und all dies wird an die vierte Generation weitergegeben, die heutige Generation, in der wir aus diesem Grund viele psychische Krankheiten finden.
Sie plädieren dafür, diese traumatischen Erlebnisse zu benennen, der Gesellschaft vorzustellen und mit ihr zu teilen. Auf der anderen Seite befürworten die rechten Parteien das Schweigen und rechtfertigen es als ein Projekt zur Befriedung der spanischen Bevölkerung.
Ja, sie stellen es als eine Art Wiedervereinigung der spanischen Bevölkerung dar. Aber diejenigen, die heute das Schweigen als Lösung vorschlagen, setzen das von der Diktatur auferlegte Schweigen fort. Und sie schlagen es weiter vor, obwohl viele beginnen, über das Erlebte zu sprechen. Diese Aufforderungen gibt es, weil die Straffreiheit schon immer als interne soziale Unterdrückung existiert hat (Anm: gemeint ist die Nicht-Verfolgung der während des Krieges und der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Wir müssen darauf bestehen, dass diese Straffreiheit die psychische Gesundheit der gesamten Gesellschaft beeinträchtigt, nicht nur derjenigen, die direkt unterdrückt wurden. Wir müssen das Schweigen überwinden, das uns auferlegt wurde und das oft der einzige Weg zum Überleben war (2).
Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und die Garantie der Nicht-Wiederholung sind die vier historischen Forderungen der Memoria-Bewegung. Konzentrieren wir uns auf die Wiedergutmachung: Wie wichtig ist die psychologische Betreuung all dieser Hunderten von Angehörigen, die noch immer in Straßengräben und Massengräbern nach ihren verschwundenen Familienangehörigen suchen?
Sie ist enorm wichtig, es geht gar nicht ohne. Die einzige autonome Gemeinschaft, die die Anwesenheit von Psycholog*innen bei den Exhumierungen organisiert hat, sind die Balearen. Eine solche Person ist unerlässlich, um nicht nur den Opfern und ihren Familien beizustehen, sondern auch um das soziale Wertgefüge wiederherzustellen.
In Momenten wie einer Exhumierung kommen viele ungelöste Erinnerungen und Schmerzen an die Oberfläche. Seltsamerweise, ganz entgegen der landläufigen Meinung, fordern die Personen, die von Wiedergutmachung sprechen, nicht etwa die Rückgabe des Hauses oder des Ackerlands, das ihnen von Franco-Anhängern gestohlen wurde. Sie verlangen, gehört zu werden, ohne Groll oder Rachegefühle. Die Verknüpfung von Gerechtigkeit und Erinnerung ist eine unausweichliche Voraussetzung, um Pessimismus, Bitterkeit und Apathie zu überwinden.
Sie sind auch Teil des psychologischen Teams, das in die vierte Phase des Gesetzes bezüglich der Massengräber auf den Balearen (Ley de Fosas de Baleares) einbezogen wurde. Es ist das erste Mal, dass eine Expertin wie Sie von einer öffentlichen Verwaltung in eine Planung dieser Art einbezogen wird. Kann die Exhumierung eines geliebten Menschen einen Wendepunkt im Leben einer Person darstellen?
Zweifellos, sie können alles zurückgewinnen. Indem ihnen zugehört wird, beginnt das Trauma, das bis dahin verborgen war, zu heilen. In diesen Fällen von Exhumierung kann sich auch eine Wunde schließen, die ich das innere Exil nenne, unter dem die Angehörigen leiden und das ihre Identität beeinträchtigt.
Ich kann mir vorstellen, dass viele der Opfer oder Nachfahren eine private oder nicht spezialisierte psychologische Therapie in Anspruch nehmen. Warum ist es Ihrer Meinung nach so wichtig, dass eine Figur wie die Ihre von der öffentlichen Verwaltung dazugeholt wird?
Ich denke, was auf den Balearen erreicht wurde, ist das Ergebnis der Mobilisierung und des Kampfes von Erinnerungs-Initiativen, wie "Memoria de Mallorca". Das Problem besteht darin, dass diese Arbeit von einer sozial-liberalen Regierung getragen wird, und es besteht die Ungewissheit, was nach den Wahlen im Mai 2023 passieren könnte.
Andererseits ist eine Figur wie Ihre nicht in dem im Oktober 2022 verabschiedeten staatlichen Gesetz des Demokratischen Gedenkens (Ley de Memoria Democrática) enthalten.
Dieses Gesetz wird in mancher Hinsicht die Konflikte, die sich seit Jahrzehnten hinziehen, nicht lösen. In Adamuz, einem Dorf in der Provinz Córdoba, ist es dem örtlichen Erinnerungs-Verein zum Beispiel nicht gelungen, dass auf der Gedenktafel, die an mehrere Ermordete erinnern soll, auch direkt benannt wird, dass es sich um Opfer der unter Franco ausgeübten Repression handelt. Und das mit einer sozialdemokratischen Regierung.
Bei dieser zweiten Generation, von der wir sprechen, handelt es sich um sehr alte Personen. Viele von ihnen sterben, ohne jemals die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen gefunden zu haben. Wie wirkt sich das auf Ihre Patient*innen aus?
Wenn bei der ersten Generation völliges Schweigen herrscht, leiden die nachfolgenden Generationen unter quälenden Gefühlen, die sie nicht benennen können. In ihrem Körper treten Symptome auf, die manchmal keinen Sinn ergeben und die sie sich nicht erklären können. Das sind die idiopathischen Symptome, von denen wir vorhin gesprochen haben. Sie suchen nach Heilung. Die Tatsache, dass sie endlich eine Exhumierung erreicht haben, kann ein großer Schritt in diese Richtung sein, eine unglaubliche Erleichterung.
Zum Schluss: Welche der vielen Geschichten, die Sie kennen, hat Sie am meisten beeindruckt?
Es gibt viele erschütternde Zeugnisse, aber zwei sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Da war ein Mann auf Mallorca, der starb eineinhalb Jahre vor der Identifizierung seines Vaters in einem Massengrab. Als ich mich mit ihm befasste, war er magersüchtig und erinnerte sich mit großem Bedauern daran, dass er als junger Mann zwar gerne tanzte, dies aber nicht tun konnte, weil es den Kindern der “Roten“ verboten war, zu den großen Festen zu gehen. Seit der Ermordung seines Vaters in seiner Kindheit war er traumatisiert, konnte er durch die therapeutische Begleitung jedoch viele seiner Fähigkeiten wiedererlangen.
Die andere Geschichte ist die der ersten Frau, der ich zugehört habe. Nachdem ich ihre Geschichte erfahren hatte, wurde ich selbst krank. Sie war von den Faschisten vergewaltigt worden, als sie 20 Jahre alt war, vor den Augen von zwei kleinen Mädchen, gerade als sie dabei war, die Grenze zu überqueren. Diese Geschichte hat mich sehr mitgenommen.
ANMERKUNGEN:
(1) ”Quienes proponen el silencio hoy perpetúan el silencio impuesto por la dictadura” (Diejenigen, die heute Schweigen vorschlagen, setzen das von der Diktatur auferlegte Schweigen fort). Das Interview mit Anna Miñarro erschien am 14. Dezember 2022 im Internet-Portal Rebelión. Geführt wurde es von Guillermo Martínez (LINK)
https://rebelion.org/quienes-proponen-el-silencio-hoy-perpetuan-el-silencio-impuesto-por-la-dictadura/
(2) Das Amnestiegesetz von 1977 beinhaltete einerseits die Freilassung der politischen Gefangenen (Regimegegner, Gewerkschafter, bewaffnet kämpfende Aktivist*innen); andererseits die General-Amnestie eines breiten Spektrums von Straftaten, einschließlich Folter, Völkermord und Verschwindenlassen während des Spanienkriegs und der anschließenden Franco-Diktatur, begangen von Vertretern des Regimes wie Polizei, Militär, Behörden. Dieses Gesetz bildet die Grundlage dafür, dass bis heute kein einziger Folterer, Mörder, Politiker oder anderer Vertreter des faschistischen Regimes vor Gericht gestellt wurde. Laut UN-Menschenrechts-Kommission verstößt dieses Gesetz gegen das Völkerrecht, das auch der spanische Staat unterzeichnet hat, und das besagt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht amnestiert werden können.
ABBILDUNGEN:
(1) Trauma (recarey psicologia)
(2) Anna Miñarro (vilaweb)
(3) Trauma (elindependiente)
(4) Repression (lasexta)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-04-15)